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XXV

Während des Ankleidens und der Fahrt durch die fast menschenleeren Straßen hatte Dinny angestrengt nachgedacht. Der Brief, den man Wilfrid am Abend persönlich überbracht hatte, wies klar darauf hin, daß an seinem frühen Ausgehn Muskham Schuld trug. Da ihr Wilfrid entschlüpft und so spurlos verschwunden war wie eine Nadel im Heuschober, mußte sie die Sache vom andern Ende anpacken. Es war zwecklos, auf ihren Onkel zu warten und mit ihm Jack Muskham aufzusuchen, sie konnte ebenso gut allein hingehn, vielleicht war das sogar besser. Um acht Uhr kam sie in die Cork Street und fragte sogleich:

«Stack, hat Mr. Desert einen Revolver?»

«Ja, Miss.»

«Nahm er ihn mit?»

«Nein.»

«Er hatte gestern einen Streit, drum frag ich.»

Stack fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. «Ich weiß zwar nicht, wohin Sie gehn, Miss, aber soll ich Sie nicht begleiten?»

«Ich halte es für besser, Sie überzeugen sich, ob er nicht mit einem Zug zum Hafen fährt.»

«Gern, Miss. Ich erledige das und nehme den Hund mit.»

«Wartet draußen das Auto auf mich?»

«Ja, Miss. Soll das Dach offen sein?»

«Freilich, je mehr Luft, desto besser.»

Der Diener nickte. Augen und Nase des Mannes schienen Dinny ungewöhnlich groß und intelligent.

«Wenn ich Mr. Desert früher als Sie finde, wohin soll ich Ihnen Nachricht senden, Miss?»

«Auf dem Postamt in Royston werd ich nach einem Telegramm fragen. Ich fahre nämlich hin und suche dort einen gewissen Mr. Muskham auf. Mit dem hatte Ihr Herr einen Streit.»

«Haben Sie schon gefrühstückt, Miss? Nehmen Sie doch rasch eine Tasse Tee!»

«Danke, hab schon gefrühstückt.» Ihre Unwahrheit half ihr Zeit sparen.

Jene Fahrt auf einer unbekannten Straße schien Dinny endlos lang, und die Worte ihres Onkels ließen ihr keine Ruhe: ‹Wenn Jack nur nicht so altmodisch wäre … Er ist wirklich noch aus der guten alten Zeit.› Sich vorzustellen, daß die beiden vielleicht in diesem Augenblick an irgendeinem abgeschiedenen Platz – im Richmond Park, Ken Wood oder weiß der Kuckuck wo – das altmodische Possenspiel des Ehrenhandels trieben! Sie sah im Geist jene Szene: Jack Muskham hochgewachsen, kühl überlegend – Wilfrid enggegürtet, trotzig; ringsum Bäume, gurrende Wildtauben, langsam hoben die beiden die Pistolen –! Wer aber würde bei dem Duell sekundieren? Pistolen! Heutzutage trugen die Leute doch keine Pistolen bei sich. Hätte Wilfrid etwas Derartiges im Schilde geführt, wäre er wohl kaum ohne Revolver fortgegangen! Was sollte sie sagen, wenn sie Muskham tatsächlich zu Hause traf? ‹Bitte, nehmen Sie es doch nicht übel, daß er Sie einen feigen Schuft nannte! In unsrer Zeit meint man so etwas beinahe freundschaftlich.› Wilfrid durfte nie und nimmer von ihrem Vermittlungsversuch erfahren. Das würde seinen Stolz nur noch tiefer verletzen. Verwundeter Stolz! Welche Ursache menschlicher Fehden war so alt, so tief verwurzelt, so zäh, so natürlich, so entschuldbar! Das Bewußtsein, man habe an sich selbst Verrat begangen! Ganz im Banne jener Leidenschaft, die weder nach Gesetz noch Gründen fragt, liebte sie Wilfrid wegen dieses Verrats an sich selbst nur um so mehr. Doch über den Verrat gab sie sich keiner Täuschung hin. Wie hatte doch ihr Vater gesagt? ‹Von dem nächstbesten Engländer, der von einer Kugel bedroht ist –› Diese Worte wirkten in ihrem Unterbewußtsein nach, hatten ihr enthüllt, daß zwischen ihrer Liebe und ihrer Ansicht von den Pflichten eines Engländers ein Zwiespalt klaffe.

Der Chauffeur machte halt, um einen Reifen am Hinterrad zu prüfen. Von einer Holunderhecke drang eine Duftwelle herüber, Dinny schloß die Augen. Diese weißen, duftenden Blütendolden! Der Lenker stieg wieder auf und setzte das Auto mit einem Ruck in Bewegung. Würde das Leben sie stets so mit jähem Ruck von ihrer Liebe fortreißen? Sollte sie niemals friedlich und glücklich in seinen Armen ruhn?

‹Krankhaft!› dachte sie. ‹Ich sollte mich wahrhaftig zusammennehmen.›

Die ersten Häuser von Royston zeigten sich, und sie rief: «Bitte, halten Sie beim Postamt.»

«Gut, Gnädige.»

Es war kein Telegramm für sie da, und sie fragte nach Mr. Muskhams Haus. Die Postbeamtin warf einen Blick auf die Wanduhr.

«Fast gegenüber, Miss. Wenn Sie aber Mr. Muskham sprechen wollen – ich sah ihn eben vorüberreiten, gewiß in sein Gestüt. Durch den Ort und dann nach rechts.»

Dinny stieg wieder in den Wagen, langsam fuhren sie weiter.

Später wußte sie nicht zu sagen, ob ihr Instinkt oder der des Chauffeurs das Auto zum Stehn gebracht hatte. Denn als er sich umwandte und sagte: «Da scheint es eine kleine Rauferei zu geben, Miss», hatte sie schon aufrecht dagestanden und über die Köpfe der Zuschauer hinweggespäht. Nur zu deutlich sah sie die blutbespritzten Gesichter, den Hagel von Schlägen, das keuchende Ringen und Schwanken. Schon hatte sie die Tür des Autos aufgerissen, da schoß es ihr plötzlich durch den Kopf: ‹Das würde er mir nie verzeihn!› Sie schlug die Tür wieder zu, hielt die eine Hand schützend vor die Augen, bedeckte mit der andern die Lippen und sah, daß auch der Chauffeur sich erhoben hatte.

«Eine saubere Keilerei!» hörte sie ihn bewundernd sagen.

Wie wild und seltsam Wilfrid nur aussah! Na, mit den bloßen Fäusten konnten die beiden einander wohl kaum totschlagen! Und etwas wie Triumph mischte sich in ihre Aufregung. So war er also nach Royston gefahren, um den Gegner in die Schranken zu fordern! Und doch war es ihr, als sause jeder Hieb auf sie selbst nieder, als ringe sie selbst in diesem Zweikampf mit.

«Natürlich kein einziger Schutzmann zu sehn!» rief der Chauffeur hingerissen. «Was gilt's? Ich wett auf den jungen Satanskerl!»

Dinny sah, wie die beiden sich schwankend voneinander losrangen, wie Wilfrid mit ausgestreckten Armen den Gegner wieder ansprang; sie hörte Muskhams Faust auf seine Brust niederschmettern, sah sie einander packen, taumeln und stürzen, aufstehn und keuchend sich anstarren. Dann sah sie Muskhams erstaunten Blick auf sich gerichtet, dann Wilfrids Blick, sah beide sich abwenden; alles war vorüber. «Schon aus!» meinte der Chauffeur. «Schade!» Dinny sank auf den Wagensitz nieder und sagte ruhig:

«Bitte weiter!»

Fort! Nur fort! Genug, daß die beiden sie gesehn hatten, mehr als genug vielleicht!

«Fahren Sie ein Stückchen weiter, dann kehren Sie um, nach London zurück.» Die zwei fingen gewiß nicht wieder an!

«Keiner ist ein geschulter Boxer, Miss, aber scharf sind sie ins Zeug gegangen.»

Dinny nickte. Noch immer hielt sie die Hand vor den Mund, denn noch immer bebten ihre Lippen. Der Chauffeur sah sie an.

«Sie sind ein wenig blaß, Miss – na ja, soviel Blut sehn müssen! Könnten wir nicht irgendwo haltmachen, damit Sie einen Tropfen Kognak trinken?»

«Hier nicht», sagte Dinny, «im nächsten Dorf.»

«Baldock – gut!» Und er schaltete höhere Geschwindigkeit ein.

Als sie wieder an dem Hotel vorüberkamen, hatte die Menge sich verlaufen; zwei Hunde, ein Schutzmann und der Fensterputzer waren die einzigen Lebewesen weit und breit.

In Baldock nahm sie ein kleines Frühstück; eigentlich hätte sie sich erleichtert fühlen müssen, die Bombe war ja geplatzt; doch zu ihrer Überraschung beschlichen sie Unheilsahnungen. Würde er ihr nicht zürnen, weil sie allem Anschein nach hergefahren war, ihn zu beschützen? Ihr zufälliges Kommen hatte der Prügelei ein Ende gemacht, sie hatte die beiden entstellt, blutbespritzt, entwürdigt gesehn. Sie beschloß, keiner Seele ein Wort davon zu verraten, wo sie gewesen oder was sie gesehn hatte, nicht einmal Stack oder ihrem Onkel.

Doch in einem solch zivilisierten Lande fruchten diese Vorsichtsmaßregeln nicht viel. Unter der Überschrift ‹Fausthiebe zwischen Aristokraten› brachte die ‹Abendsonne› an jenem Tag in der letzten Ausgabe eine zwar nicht peinlich wahrheitsgetreue, doch um so lebendigere Schilderung von dem ‹Zusammenstoß in Royston, zwischen dem wohlbekannten Pferdezüchter Mr. John Muskham, Vetter des Baronet Sir Charles Muskham, und dem Ehrenwerten Wilfrid Desert, dem zweiten Sohn des Lord Mullyon, Autor des «Leoparden», der unlängst solche Sensation hervorrief›. Der Bericht war voll Schwung und Phantasie abgefaßt und schloß mit den Worten: ‹Die Ursachen des Zwistes darf man in der Aktion erblicken, die dem Gerücht zufolge Mr. Muskham gegen Mr. Deserts Mitgliedschaft beim Burton-Klub unternahm. Offenbar hatte Mr. Muskham daran Anstoß genommen, daß Mr. Desert Mitglied des Klubs bleibe, nachdem er öffentlich bekannt hatte, seinem Gedicht «Der Leopard» liege ein eigenes Erlebnis zugrunde. Jedenfalls wurde die Affäre mit mannhafter Faust ausgetragen, obschon sie augensichtlich nicht dazu beitrug, dem Mann aus dem Volke einen hohen Begriff von der Würde der Aristokraten beizubringen.›

Beim Abendessen legte Sir Lawrence, ohne ein Wort zu sagen, diesen Artikel vor Dinny hin. Sie las ihn und saß so reglos da, daß er endlich fragte: «Dinny, warst du am Ende dabei?»

‹Unheimlich wie immer›, dachte sie. Zwar hatte sie nachgerade gelernt, die Wahrheit zu verschleiern, dennoch brachte sie keine grobe Lüge über die Lippen; sie nickte.

«Was ist los?» erkundigte sich Lady Mont.

Dinny schob ihr die Zeitung hin, die Tante las sie mit einiger Anstrengung, denn sie war weitsichtig.

«Wer blieb Sieger, Dinny?»

«Keiner, unentschiedener Ausgang.»

«Wo liegt Royston?»

«In Cambridgeshire.»

«Und warum das alles?»

Weder Dinny noch Sir Lawrence wußten es.

«Er nahm dich doch nicht im Sattel mit, Dinny?»

«Nein, liebe Tante. Zufällig kam ich im Auto vorbei.»

«Wie die Religion doch die Köpfe erhitzt!» bemerkte Lady Mont.

«Jawohl», entgegnete Dinny bitter.

«Hat dein Anblick der Szene ein Ende gemacht?» fragte Sir Lawrence.

«Ja.»

«Die Sache gefällt mir nicht. Das hätte lieber ein Schutzmann besorgen sollen oder ein Knock-out-Hieb.»

«Ich wollte mich ihnen ja gar nicht zeigen.»

«Hast du ihn seither gesehn?»

Dinny schüttelte den Kopf.

«Die Männer sind eitel», meinte ihre Tante.

Mit diesen Worten schloß das Gespräch.

Nach dem Dinner teilte Stack ihr am Telephon mit, Wilfrid sei heimgekommen, doch ihr Instinkt warnte sie davor, ihn zu treffen.

Die Nacht verbrachte sie ruhelos und fuhr darauf mit dem Morgenzug nach Condaford. Es war Sonntag, alle befanden sich in der Kirche. Dinny fühlte sich den Ihren seltsam fremd. Condaford sah aus wie immer, roch wie immer, die Leute taten dasselbe wie immer, und doch war alles von Grund auf anders! Sogar der schottische Terrier und die Wachtelhunde beschnupperten sie argwöhnisch, als gehöre Dinny nun nicht mehr zu ihnen.

«Gehöre ich wirklich noch hierher?» dachte sie. «Sie wittern wohl, daß mein Herz anderswo weilt!»

Jeanne erschien als erste, Lady Cherrell war zur Kommunion geblieben, der General, um den Inhalt des Opferstocks zu zählen, und Hubert wollte sich das Cricket-Match des Dorfes ansehn. Jeanne fand Dinny vor einem Beet mit Rittersporn neben einer alten Sonnenuhr sitzen. Sie gab ihrer Schwägerin einen Kuß, sah sie dann eine Minute lang prüfend an und sagte endlich: «Raff dich auf, meine Liebe, oder du klappst über kurz oder lang zusammen.»

«Ich warte nur auf den Lunch», erklärte Dinny.

«Ich auch. Meines Vaters Predigten sind eine Geduldprobe, das dacht ich auch, nachdem ich sie schon überstanden hatte. Aber euer Mann Gottes hier –!»

«Jawohl, am liebsten möchte man ihn niederboxen.»

Wieder machte Jeanne eine Pause, ihre Blicke forschten in Dinnys Zügen.

«Dinny, ich steh ganz auf deiner Seite. Laß dich sofort traun und geh mit ihm ins Ausland!»

Dinny lächelte.

«Zum Heiraten gehören bekanntlich zwei.»

«Ist der Bericht im heutigen Morgenblatt über die Schlägerei in Royston wahr?»

«Vermutlich nicht.»

«Haben sie tatsächlich gerauft?»

«Ja.»

«Wer gab den Anlaß?»

«Ich, wahrscheinlich. Kein andres Frauenzimmer ist im Spiel.»

«Dinny, du hast dich sehr verändert.»

«Bin wohl nicht mehr so lieb und gleichmütig.»

«Na gut!» meinte Jeanne. «Wenn du unbedingt die Liebeskranke spielen willst – nur zu!»

Dinny zog sich den Rock zurecht. Jeanne kniete nieder und schlang den Arm um sie.

«Du warst ein Prachtkerl, als es um meine Heirat ging. Wein dich doch jetzt an meinem Rücken aus!»

Dinny lachte.

«Was sagen jetzt Vater und Hubert?»

«Dein Vater sagt gar nichts und blickt düster drein. Hubert sagt entweder: ‹Da muß etwas geschehn!› oder ‹Da hört doch alles auf!›»

«Daran liegt mir wenig!» rief Dinny unerwartet. «Das macht mir keine Sorge mehr.»

«Willst du damit sagen, du bist Wilfrids nicht mehr ganz sicher? Der muß doch nach deiner Pfeife tanzen.»

Wieder lachte Dinny.

«Du fürchtest doch nicht», fragte Jeanne in plötzlichem Verstehn, «er könnte davonlaufen und dich im Stich lassen?» Sie kauerte nieder, um Dinny besser ins Gesicht zu sehn. «Am Ende tut er's wirklich. Er sieht stolz aus. Du weißt wohl, daß ich ihn besuchte?»

«So?»

«Ja, aber er hat mich kleingekriegt. Kein Wort brachte ich hervor. Ein sehr anziehender Mensch, Dinny.»

«Sandte dich Hubert zu ihm?»

«Nein, ich ging aus eignem Antrieb. Wollte ihm sagen, was wir von ihm halten, wenn er dich heiratet. Aber ich brachte es nicht zuwege. Mich wundert nur, daß er dir von meinem Besuch nichts erzählt hat. Er dachte wohl, es könnte dir Kummer machen.»

«Ich weiß wirklich nicht», sagte Dinny – sie wußte es tatsächlich nicht. In diesem Augenblick schien es ihr, als wisse sie überhaupt sehr wenig.

Schweigend saß Jeanne da und zerrupfte einen früherblühten Löwenzahn.

«Wenn ich du wäre», erklärte sie schließlich, «ich würde ihn verführen. Hast du ihm einmal gehört, so kann er dich nicht mehr im Stich lassen.»

Dinny erhob sich. «Machen wir doch einen Rundgang durch den Garten und sehn wir nach, wie es mit der Blüte steht.»


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