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XI

Wilfrid saß an seinem Schreibtisch vor zwei Briefen, den einen hatte er eben an Dinny geschrieben, den andern von ihr erhalten. Er starrte auf die Momentaufnahmen nieder und gab sich alle Mühe, klar zu denken. Seit Michaels Besuch am vergangnen Abend war er unablässig bestrebt, Klarheit zu gewinnen, doch vergebens. Warum mußte er sich gerade jetzt so arg verlieben, gerade jetzt der einzigen Frau begegnen, mit der ihm ein dauerndes Zusammenleben erträglich schien? Nie zuvor hatte er an eine Heirat gedacht, nie geglaubt, er könne Frauen gegenüber etwas andres fühlen als jäh aufflackerndes Begehren, das nach der Befriedigung erlosch. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft für Fleur hätte er nie gedacht, seine Neigung könne von Dauer sein. Kurz und gut, er stand den Frauen ebenso skeptisch gegenüber wie der Religion, dem Patriotismus oder dem vielgepriesenen englischen Nationalcharakter. In diesem Panzer der Skepsis hatte er sich gegen jeden Angriff gewappnet gewähnt, dieser Panzer hatte aber doch eine Lücke und wehrte den verhängnisvollen Streich nicht ab. Erbittert und dennoch belustigt stellte er fest, daß gerade die tiefe Vereinsamung, die sein Erlebnis in Darfur über ihn gebracht, ein unbewußtes Sehnen nach geistiger und seelischer Gemeinschaft in ihm geweckt; darum hatte Dinny, ohne es zu wollen, so stark auf ihn gewirkt. So hatte die beiden vielleicht just jenes Geschehnis zusammengeführt, das sie hätte trennen müssen.

Nach Michaels Abschied schritt Wilfrid die halbe Nacht hindurch auf und ab, auf und ab und kam stets aufs neue zu dem Schluß, er möge nun tun und lassen, was er wolle, man werde ihn doch zum Feigling stempeln. Aber was läge schon dran, wenn Dinny nicht im Spiel wäre? Was lag ihm an der Gesellschaft und ihrem Urteil? Was lag ihm an England und den Engländern? Mochten sie noch so viel Ansehn genießen in der Welt – hatten sie dieses Ansehn auch wirklich verdient, mehr als irgendein andres Volk? Nur zu deutlich hatte ja der Krieg gezeigt, wie sehr alle Staaten und ihre Bürger einander glichen, wie sie den gleichen Heldenmut, die gleiche Ausdauer, Niedertracht und hirnverbrannte Dummheit bewiesen. Der Krieg hatte es an den Tag gebracht, daß der große Haufe doch überall in gleichem Maß beschränkt, kritiklos und durchweg verachtungswürdig war. Ihn selbst trieb ja die angeborne Wanderlust durch die Welt, mochten ihm auch England und der Nahe Orient verschlossen sein, was lag schon dran? Die Welt war weit, überall schien die Sonne, kreisten die Sterne, noch gab es Bücher, schöne Frauen, duftende Blumen, noch gab es bestrickende Musik, würzigen Tabak, köstlichen Kaffee. Noch immer waren Pferde, Hunde und Vögel die anziehendsten Geschöpfe Gottes, noch immer drängten Ideen und Gefühle nach rhythmischer Gestaltung, wohin er auch ging. Wäre Dinny nicht im Spiel, er hätte seelenruhig sein Zelt abgebrochen und die Lästerzungen hinter sich schwatzen lassen! Jetzt aber ging es nicht mehr! Oder doch? Zwang ihn nicht seine Ehre fortzugehn? Durfte er Dinny an einen Gatten fesseln, auf den die Leute mit Fingern wiesen? Wie einfach wäre es gewesen, hätte sie in ihm nur glühendes Verlangen wachgerufen. Sie hätten es stillen und ohne viel Kummer voneinander gehen können. Doch er brachte ihr ganz andre Gefühle entgegen. Sie war wie ein frischer Quell inmitten der Wüste, wie eine duftende Blume unter dürrem Steppengestrüpp. Sie erfüllte ihn mit derselben ehrfürchtigen Sehnsucht wie manche Bilder und Melodien, mit derselben süßen Schwermut wie der Duft frischgemähten Grases. Sie war ein kühles Labsal für sein von Sonne und Sturmwind versengtes, umdüstertes Gemüt. Mußte er wirklich wegen dieser verdammten Geschichte auf sie verzichten?

Als er am Morgen erwachte, begann der Aufruhr der Gefühle von gestern wieder. Er hatte den Nachmittag damit verbracht, einen Brief an sie zu verfassen, und ihn kaum beendet, als ihr erster Liebesbrief eintraf. Nun saß er vor den beiden Briefen da.

‹Ich kann ihr dieses Zeug nicht schicken›, schoß es ihm durch den Kopf, ‹es hat weder Hand noch Fuß. Quark!› Er zerriß den Brief und überlas den ihren zum dritten Mal.

‹Unmöglich›, dachte er, ‹die Leute zu besuchen. Mit Gott für König und Vaterland! und so weiter. Unmöglich!› Er langte nach einem Blatt Papier und schrieb:

‹Cork Street, Samstag.

Innigen Dank für Deinen Brief! Komm Montag zum Lunch her. Wir müssen miteinander sprechen.

Wilfrid›

Als er Stack mit dieser Botschaft weggeschickt hatte, fand er endlich wieder etwas Ruhe …

Dinny erhielt die Nachricht erst Montag früh, sonntags wurde in Condaford keine Post ausgetragen. Die beiden letzten Tage hatte sie Wilfrid mit keinem Wort erwähnt, hatte die Zeit damit verbracht, Huberts und Jeannes Berichte über ihr Leben im Sudan anzuhören, war spazierengegangen, hatte mit ihrem Vater die Baumblüte besichtigt, sein Steuerbekenntnis abgeschrieben und mit ihm und Mutter die Kirche besucht. Das tiefe Schweigen über ihre Verlobung war für diese Familie sehr bezeichnend – alle hatten einander wirklich lieb und pflegten die Gefühle der andern zu schonen; dennoch war dieses Schweigen vielsagend!

Als sie Wilfrids Zeilen gelesen, fragte sie sich grade heraus: ‹Soll das ein Liebesbrief sein? Klingt nicht danach.› Dann erklärte sie der Mutter:

‹Wilfrid scheut sich zu kommen. Ich muß nach London und ihm zureden. Wenn ich Erfolg habe, bring ich ihn mit. Kann ich ihn aber nicht umstimmen, dann möcht ich es so einrichten, daß du ihn bei Tante Emily triffst. Er hat so lang in der Wüste gelebt, daß es ihm schwerfällt, in Gesellschaft zu gehn.›

Ein Seufzer war Lady Cherrells Antwort, doch Dinny verriet dieser Seufzer mehr als viele Worte, sie nahm ihre Mutter bei der Hand und sagte: «Kopf hoch! Freut es dich nicht, daß ich glücklich bin?»

« Wenn du nur glücklich wirst, Dinny.»

Dieses ‹Wenn› ließ weitere Auseinandersetzungen befürchten, drum zog Dinny es vor, nichts zu erwidern.

Sie begab sich zum Bahnhof, traf mittags in London ein und schritt durch den Hydepark in die Cork Street. Heller Sonnenschein, ein schöner Tag; der Frühling in seiner ganzen Pracht, Fliederblüten, Tulpen, junges Laub auf den Platanen, Vogelsang und frisches Gras. Auch sie sah froh und heiter drein und doch litt sie unter trüben Ahnungen. Warum empfand sie das? Sie war doch auf dem Weg zu ihrem Liebsten, der sie zu Tisch geladen hatte! Unerklärlich. Um diese Tageszeit gab es in der ganzen großen Stadt gewiß nicht viele, denen eine derartige Freude so nah bevorstand. Doch Dinny ließ sich nicht täuschen, nicht alles sah so rosig aus, sie wußte es nur zu gut. Da sie zu früh kam, hielt sie sich eine Weile in der Mount Street auf, um sich ein wenig zurechtzumachen. Blore teilte ihr mit, Sir Lawrence sei ausgegangen, Lady Mont daheim. Dinny ließ ihr melden, sie komme vielleicht zum Tee.

Als sie auf ihrem Weg an einem großen Parfümerieladen vorbeikam und der angenehme Duft ihr entgegenschlug, hatte sie wieder das dunkle Gefühl, sie habe schon einmal ein andres Leben gelebt, ein Gefühl, das jeder schon erfahren und das vielleicht den stärksten Pfeiler des Seelenwanderungsglaubens bildet.

‹Ach was›, dachte sie, ‹es bedeutet nur, daß ich etwas vergessen habe, weiter nichts. Ich kann doch nicht wirklich ein Kammerzöfchen der Marie Antoinette gewesen sein. Ah, da bin ich schon bei der Ecke!› Ihr Herz begann zu klopfen.

Fast atemlos kam sie an der Tür an, Stack ließ sie ein. «In fünf Minuten ist der Lunch fertig, Miss.» Seine etwas vorquellenden, dunklen Augen über der stark vorspringenden Nase, die nachdenkliche Miene und das leise, wohlwollende Lächeln um seine Lippen riefen in ihr stets den Eindruck wach, als wollte er ihre Beichte hören, noch ehe sie etwas zu beichten hätte. Er öffnete die Zimmertür und schloß sie hinter Dinny – sie lag in Wilfrids Armen. Jene Ahnungen hatten sie also doch völlig betrogen; dieser Augenblick – der längste und schönste all dieser Augenblicke! So lang, daß sie Angst bekam, Wilfrid werde sie nicht rechtzeitig loslassen. Endlich mahnte sie sanft:

«Liebster, Stack sagte vorhin, er sei in einer Minute mit dem Lunch da.»

«Stack hat Takt.»

Erst als sie nach dem Speisen beim Kaffee ungestört allein saßen, überkam sie plötzlich wieder Unbehagen, wie wenn ein Blitz aus heiterm Himmel zuckt.

«Dinny, die Geschichte ist herausgekommen.»

Was? Diese Geschichte! Mühsam verbarg sie ihren Schreck.

«Wieso?»

«Ein Mann namens Telfourd Yule hat die Sache mit heimgebracht. Man schwätzt davon unter den Beduinen. Heute wird die Nachricht wahrscheinlich schon in allen Basaren verbreitet sein, morgen in den Klubs von London. In wenigen Wochen bin ich in Acht und Bann. So etwas ist nicht aufzuhalten.»

Schweigend erhob sich Dinny, drückte seinen Kopf an ihre Schulter und ließ sich neben ihm auf den Diwan nieder.

«Du ermißt wohl nicht die volle Bedeutung», meinte er sanft.

«Nein», gab sie zurück, «ich kann wirklich nicht einsehn, was es an unserm Verhältnis ändern sollte. Als du es mir selbst erzähltest, änderte sich dadurch auch nichts. Was soll also das ändern?»

«Wie kann ich dich jetzt noch heiraten?»

«So spricht man doch nur in Romanen, Wilfrid. Wir fordern unser Schicksal lieber gleich heraus!»

«Falscher Heroismus behagt auch mir nicht, doch du scheinst die Tragweite der Sache nicht zu ermessen.»

«Aber jetzt kannst du den Kopf wieder hoch tragen, und die Leute, die deine Tat nicht begreifen – die kümmern uns einfach nicht.»

«Deine Leute kümmern uns also nicht?»

«Doch, die schon.»

«Du bildest dir doch keinen Augenblick ein, daß die dafür Verständnis haben?»

«Ich werd es ihnen schon beibringen.»

«Mein armer Liebling!»

Wie sanft und lieb er nur sprach – Dinny ahnte plötzlich Unheil.

«Ich kenne deine Leute allerdings nicht», fuhr er fort, «aber wenn sie so sind, wie du sie beschreibst, dann gib dich keiner Täuschung hin, sie bleiben bei ihrer Meinung. Liebe Dinny, sie können keine andre haben, es ginge ja gegen ihre tiefverwurzelte Überzeugung.»

«Sie haben mich doch so lieb!»

«Um so weniger werden sie sich damit abfinden, dich an mich gebunden zu sehn.»

Dinny rückte ein wenig von ihm fort und stützte nachdenklich das Kinn auf die Hände. Dann fragte sie, ohne ihn anzublicken:

«Wilfrid, möchtest du mich los werden?»

«Dinny!»

«Schon gut, willst du mich also los werden?»

Er zog sie in die Arme. Bald darauf sagte sie ruhig:

«Nun, wenn du mich nicht los sein willst, dann mußt du das alles mir überlassen. Doch wir brauchen das Unheil nicht selbst heraufzubeschwören. Noch ist die Geschichte in London nicht bekannt. Warten wir's ab! Ich weiß, eh das nicht geklärt ist, wirst du mich nicht heiraten wollen, drum muß ich wohl oder übel ausharren. Dann wird die Entscheidung fallen, aber keinen falschen Opfermut, Wilfrid! Das würde mich zu tief kränken, zu tief!» Plötzlich klammerte sie sich an ihn, er jedoch stand schweigend da.

Sie schmiegte ihre Wange an die seine und fragte ruhig:

«Möchtest du, daß ich dir schon vor der Hochzeit alles sein soll? Dann will ich's.»

«Dinny!»

«Dreist, nicht wahr?»

«Nein, warten wir lieber. Ich verehre dich zu sehr.»

«Vielleicht ist es so am besten», seufzte Dinny.

Nach einer Weile: «Überläßt du es mir, meinen Leuten alles zu sagen?»

«Ich überlasse alles dir.»

«Wirst du jemanden von meiner Familie sprechen, wenn ich dich darum bitte?»

Wilfrid nickte.

«Ich verlange ja gar nicht von dir, daß du jetzt nach Condaford kommen sollst. Das wäre also erledigt. Erzähl mir jetzt, bitte, genau, wie du von der Sache erfahren hast.»

Als er zu Ende war, meinte sie nachdenklich:

«Also Michael und Onkel Lawrence wissen es. Das vereinfacht die Geschichte. Nun muß ich fort, Liebster. Stack wird bald fertig sein und ich möchte mir alles in Ruhe überlegen. Das kann ich aber nur, wenn ich nicht bei dir bin.»

«Engel!»

Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände. «Nur nichts tragisch nehmen, ich tu es auch nicht. Könnten wir übrigens am Donnerstag eine Spazierfahrt machen? Schön. Mittags beim Fochdenkmal. Ich bin kein Engel, deine Liebste bin ich!»

Ganz schwindlig ging sie die Treppe hinab. Jetzt, da sie allein war, sah sie auf einmal die schweren Proben vor sich, die beide bestehen mußten. Plötzlich schlug sie die Richtung nach der Oxford Street ein. ‹Ich möchte Onkel Adrian sehn›, fuhr es ihr durch den Kopf.

Adrian hatte gerade im Museum über der These gebrütet, die Wüste Gobi sei die Heimat des Homo Sapiens. Man hatte diese Idee sozusagen patentiert auf den Markt gebracht und sie würde bestimmt Anklang finden. Wie wandelbar, wie sehr der Mode unterworfen waren doch die Lehren der Anthropologie! Da wurde ihm Dinny gemeldet.

«Dinny, du! Den ganzen Nachmittag hab ich in der Wüste Gobi zugebracht und dachte eben dran, mir eine Tasse guten heißen Tee bringen zu lassen. Was meinst du dazu?»

«Onkel, der teure Chinatee, den man heute trinkt, bekommt mir nicht.»

«Solchen Luxus leisten wir uns nicht. Meine Duenna hier bereitet uns guten alten Dovertee mit Blättern drin und tischt dazu einen Kuchen nach altem Rezept auf.»

«Ausgezeichnet! Onkel, ich wollte dir sagen, ich hab mein junges Herz verschenkt.»

Adrian starrte sie an.

«Es ist wirklich eine gruselige Geschichte. Darf ich den Hut ablegen?»

«Liebe Dinny, leg ab, was du willst. Nimm aber zuvor Tee! Da ist er schon.»

Während Dinny den Tee trank, sah ihr Adrian zu, ein wehmütiges Lächeln auf den vom Schnurrbart und dem Ziegenbärtchen halb verborgnen Lippen. Seit der tragischen Affäre Forests stand sie in seinen Augen mehr denn je als ideale Nichte da; nun schien sie tatsächlich in großen Sorgen zu sein.

In den einzigen Armstuhl zurückgelehnt, saß sie mit gekreuzten Beinen da, preßte die Fingerspitzen aneinander und wirkte so ätherisch, als könne sie jeden Augenblick davonschweben. Mit Wohlgefallen ruhte sein Blick auf ihrem dichten, kastanienbraunen Haar. Doch während ihrer Erzählung, bei der sie keine Einzelheit überging, wurde sein Gesicht zusehends länger. Sie hielt inne, dann bat sie:

«Ach Onkel, schau doch nicht so drein!»

«Schau ich denn so drein?»

«Ja.»

«Soll ich nicht überrascht sein, Dinny?»

«Ich möchte deine ‹Einstellung› – so nennt man's doch – zu seinem Verhalten erfahren.» Und sie sah ihm gerade in die Augen.

«Meine persönliche Einstellung? Ohne daß ich ihn kenne? Nur unter Vorbehalt.»

«Wenn es dir recht ist, sollst du ihn kennenlernen.»

Adrian nickte und sie bat:

«Sag mir das Schlimmste! Was werden andre Leute, die ihn nicht kennen, zu der Geschichte sagen?»

«Wie hat es denn auf dich gewirkt, Dinny?»

«Ich hab ihn doch gekannt.»

«Seit einer Woche.»

«Und zehn Jahren.»

«Du wirst mir doch nicht weismachen, ein Blick und drei Worte auf einer Hochzeit –»

«Damals hat es begonnen, lieber Onkel. Nun hab ich ja auch seine Gedichte gelesen und dabei alle seine Gefühle miterlebt. Er ist glaubenslos; die ganze Geschichte war für ihn gewiß ein Heidenspaß.»

«Freilich, freilich. Ich kenne seine Dichtungen – Skepsis und Liebe zum Schönen. Typen wie er wachsen am Ende langer Epochen nationaler Machtentfaltung empor, nach einer Zeit, in der das Individuum wenig, der Staat alles bedeutet. Dann schießt auf einmal das liebe Ich in die Höhe und möchte dem Staat mit seinen morschen Idolen einen Fußtritt versetzen. Das versteh ich ja recht gut, aber – du warst noch nie im Ausland, Dinny.»

«Nur in Italien, Paris und den Pyrenäen.»

«Das zählt nicht. Du hast noch nie in Ländern gelebt, wo England ein gewisses Prestige wahren muß. In solchen Himmelsstrichen müssen wir Engländer alle für einen, einer für alle stehn.»

«Das bedachte er in jenem Augenblick wohl kaum, Onkel.»

Adrian sah sie an und schüttelte den Kopf.

«Ich kann es noch immer nicht glauben», meinte Dinny. «Gott sei Dank, daß er es nicht bedachte, sonst hätt ich ihn kaum wieder getroffen. Muß der Mensch sich wirklich für falsche Götzen opfern?»

«Darum handelt es sich nicht, liebe Dinny. Im Morgenland, wo die Religion dem Menschen noch immer das höchste Gut bedeutet, kannst du die Tragweite eines solchen Glaubenswechsels kaum hoch genug einschätzen. Nichts kann die Achtung des Orientalen vor uns Engländern so schwer schädigen, wie die Preisgabe der Religion vor dem Flintenlauf des Feindes. Desert hätte sich die Frage vorlegen müssen: ‹Bedeutet es mir so viel, was für eine Meinung sich die Welt über mein Vaterland und seine Bewohner bildet, daß ich eher sterben als dieses Ansehn schmälern will?› Verzeih, Dinny, das ist klipp und klar der Kern des Problems.»

Dinny schwieg eine Minute und fuhr dann fort:

«Ich bin fest überzeugt, hätte es sich um etwas andres gehandelt, was diesem Ansehn Abbruch tat, Wilfrid wäre eher gestorben, statt sich drein zu fügen. Doch er mag nicht zugeben, daß der Ruf des Engländers bei den Orientalen lediglich vom Festhalten am Christentum abhängt.»

«Ein warmes Plädoyer des Verteidigers. Doch schwor er nicht nur das Christentum ab, sondern trat zum Islam über, vertauschte eine Reihe abergläubischer Dogmen mit andern.»

«Begreifst du denn gar nicht, Onkel, daß das Ganze für ihn nur ein Heidenspaß war?»

«Nein, meine Liebe, ich fürchte, das begreif ich nicht.»

Während Dinny sich zurücklehnte, fiel es Adrian auf, wie erschöpft sie aussah.

«Gut. Nun, wenn du es nicht verstehst, wird es niemand verstehn, wenigstens niemand aus unsern Kreisen, und das will ich erfahren.»

Etwas wie Schmerz erfaßte Adrian. «Dinny, die ganze Geschichte währt erst zehn Tage, das Leben liegt noch vor dir. Wie du mir sagtest, ist er bereit, auf deine Hand zu verzichten – alle Achtung! Willst du dich nicht frei machen, um deinet- und seinetwillen?»

Dinny lächelte.

«Onkel, du darfst dich vielleicht rühmen, daß du deine Freunde im Unglück im Stich läßt! Was verstehst du auch von Liebe! Du hast ja bloß achtzehn Jahre auf deine Frau gewartet. Köstlich bist du!»

«Zugegeben», erwiderte Adrian. «Ich hab jetzt offenbar recht onkelhaft getan. Wenn ich wüßte, daß Desert so treu sein kann wie du, würde ich dir sagen: ‹Geh deinen Weg, meinetwegen in die Hölle! Meinen Segen hast du!›»

«Dann mußt du Wilfrid kennenlernen.»

«Gut. Aber ich kannte Ewigliebende, die sich binnen Jahresfrist scheiden ließen, und einen Mann, den sein Flitterwochenglück so ganz gefangen nahm, daß er sich zwei Monate später eine Geliebte hielt.»

«Wir aus unserer Familie sind von andrer Art. Die ideale Liebe, die ich im Film gesehen, hat mich vergeistigt.»

«Wer weiß schon etwas von dieser Geschichte?»

«Michael und Onkel Lawrence, vielleicht auch Tante Emily, ich überlege noch, ob ich die Einzelheiten in Condaford erzählen soll.»

«Laß mich mit Hilary drüber sprechen. Er findet gewiß einen neuen Gesichtspunkt, sicherlich keinen orthodoxen.»

«Bitte, Onkel Hilary kann es erfahren.» Sie erhob sich. «Ich darf also Wilfrid herbringen?»

Adrian nickte. Als sie fort war, stand er wieder vor seiner Landkarte der Mongolei, auf der ihm die Wüste Gobi wie ein blühender Rosengarten erschien, verglichen mit der trostlosen Einöde, in die seine Lieblingsnichte wandern wollte.


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