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III

Wilfrid Desert hauste noch immer in seiner Wohnung in der Cork Street. Eigentlich hatte Lord Mullyon diese Räume gemietet, betrat sie jedoch nur selten, wenn er seine ländliche Abgeschiedenheit verließ. Getrost durfte man behaupten, daß dem einsiedlerischen Pair der jüngere Sohn weit mehr nachgeraten war als der ältere, das Parlamentsmitglied. Dennoch war es ihm nicht besonders unlieb, Wilfrid gelegentlich zu begegnen. Für gewöhnlich lebte in dieser Wohnung aber nur Stack, der im Krieg Wilfrids Offiziersbursche gewesen war und ihn ganz still, aber unablässig umsorgte, was sich besser bewährt als offen zur Schau getragene Dienstbeflissenheit. Sooft Wilfrid unvermutet heimkam, fand er seine Zimmer stets genau so vor, wie er sie verlassen, weder mehr noch weniger muffig und verstaubt. Dieselben Anzüge hingen auf denselben Bügeln, und er stillte den ersten Hunger mit einem stets auf dieselbe Art abgebratnen Fleisch mit Champignonsauce. Die Möbel, alte Erbstücke, geschmückt und belebt durch Kleinigkeiten, morgenländischen Kram, den er von seinen Reisen heimgebracht, gaben dem großen Wohnzimmer stets denselben Charakter altererbten, festen Besitzes. Und der Diwan vor dem Kamin nahm Wilfrid genau so gastlich auf, als hätte er ihn nie verlassen. Am Vormittag nach seiner Begegnung mit Dinny lag er auf diesem Diwan und fragte sich, warum niemand außer Stack ihm wirklich guten Kaffee bereiten könne. Der Orient war ja die Heimat des Kaffees, und doch war in der Türkei das Kaffeetrinken ein Spiel, ein Ritus, und somit wie alle Spiele und Riten nur ein Kitzel für die Seele. Nun verbrachte er den dritten Tag in London, den dritten seit zwei Jahren. Und in diesen zwei Jahren war ihm so manches widerfahren, an das er weder in Worten, noch Gedanken rühren mochte; vor allem ein Erlebnis stürzte ihn noch immer in schweren Zwiespalt, obschon er sich alle Mühe gab, ihm die Bedeutung abzusprechen. Mit andern Worten, seit der Heimkehr verschloß er in sich ein quälendes Geheimnis. Überdies hatte er eine Anzahl Gedichte mitgebracht, genug, um ein viertes Bändchen damit zu füllen. Nun lag er da und erwog, ob er das längste dieser Gedichte in den Band aufnehmen solle oder nicht. Es war die Frucht jenes Erlebnisses, seiner Meinung nach das beste Gedicht, das er je geschrieben. Schade, daß die Veröffentlichung unterbleiben sollte, schade, aber –! Dieses Aber fiel so schwer ins Gewicht, daß er schon oft im Begriff gestanden, das Gedicht zu zerreißen und jede Spur von ihm zu tilgen. Könnte er jene Spuren doch auch aus der Erinnerung tilgen! Und dennoch –! Jenes Gedicht verteidigte sein Verhalten in einer Situation, von der hoffentlich nie jemand etwas erfuhr. Es zerreißen, hieße auf die Verteidigung verzichten. Nie wieder würde es ihm gelingen, seinen Gefühlen in jenem entscheidenden Augenblick so trefflich Ausdruck zu leihn. Die Vernichtung dieses Gedichts hätte ihn der besten Entlastungsgründe beraubt, der einzigen Waffe gegen den Plagegeist des eigenen Gewissens. Bisweilen war ihm, als könne er sich selbst nicht wiederfinden, wenn er nicht in die Welt hinausrief, was ihm damals widerfahren.

Nun überflog er jenes Gedicht nochmals und dachte: ‹Alle Wetter, es ist doch weit besser und tiefer als jene verdammten patriotischen Verse von Lyall!› Und scheinbar ganz von ungefähr schweiften seine Gedanken zu dem Mädchen, dem er tags zuvor begegnet. Seltsam! – er entsann sich noch recht wohl jener hauchzarten, jungen Erscheinung bei Michaels Hochzeit – sie hatte ihn an Botticellis Venus, Engel oder Madonnen gemahnt, zwischen den dreien war ja so wenig Unterschied. Ein reizendes junges Ding damals. Und heute war sie ein bezauberndes junges Weib voll Verständnis, Geist und Sinn für Humor. Dinny Cherrell! Es wäre ihm gar nicht unangenehm, ihr seine Gedichte zu zeigen, um die Wirkung auf sie zu erfahren – nach ihrem Urteil könnte er sich richten.

Weil er beständig an sie dachte und noch dazu ein Taxi genommen, kam er zum Lunch zu spät und traf Dinny an der Schwelle des Restaurants Dumourieux, gerade als sie weggehn wollte.

Selten zeigt sich der Charakter einer Frau deutlicher, als wenn sie auf offener Straße den Lunchpartner erwartet. Dinny begrüßte ihn lächelnd.

«Ich dachte schon, Sie hätten vergessen!»

«Der Straßenverkehr war dran schuld. Wie können nur die Philosophen die Identität von Raum und Zeit behaupten? Jede Verabredung zweier Leute zum Lunch macht diese These zuschanden. Den Weg von der Cork Street hierher, kaum anderthalb Kilometer, schätzte ich auf zehn Minuten und nun komm ich zehn Minuten zu spät. Tut mir unendlich leid!»

«Vater meint, seit wir im Auto statt im Einspänner fahren, muß man zu der erforderlichen Zeit zehn Prozent dazuschlagen. Können Sie sich noch an die Einspänner erinnern?»

«Das will ich meinen!»

«Als ich zum ersten Mal nach London kam, waren sie bereits aus dem Stadtbild verschwunden.»

«Wenn Sie dieses Lokal kennen, dann spielen Sie, bitte, den Führer! Ich hab zwar schon davon gehört, war aber noch nie drin.»

«Ein Kellergewölbe. Französische Küche.»

Sie legten die Mäntel ab und schritten auf einen Tisch im Hintergrund des Raumes zu.

«Mir genügt eine Kleinigkeit», erklärte Dinny. «Bestellen Sie kaltes Huhn, Salat und eine Tasse Kaffee.»

«Nicht ganz gesund?»

«Ich esse nie viel.»

«Verstehe. Ich nehme dasselbe. Möchten Sie Wein?»

«Nein, danke. Halten Sie es für ein gutes Zeichen, wenig zu essen?»

«Wenn man es aus Prinzip tut, dann nicht.»

«Sie sind also kein Freund starrer Grundsätze?»

«Prinzipienreiter sind mir verhaßt, diese rechthaberischen Patrone.»

«Mir scheint, Sie urteilen zu rasch ab. Das tun Sie wohl immer, nicht wahr?»

«Eben dachte ich an die Leute, die nur darum nicht viel essen, weil sie Sinnengenüsse verschmähn. Das ist doch hoffentlich nicht auch Ihr Fall?»

«Keine Spur», erwiderte Dinny, «ich finde nur einen vollen Magen peinlich. Dazu brauch ich gar nicht übermäßig zu futtern. Vom Sinnenleben weiß ich nicht viel, doch an und für sich halt ich es für wertvoll.»

«Wahrscheinlich das einzig Wertvolle im Leben.»

«Also darum schreiben Sie Ihre Gedichte?»

Desert lächelte.

« Sie könnten auch Verse schreiben, glaub ich.»

«Nur Scherzreime.»

«Die Wüste ist der rechte Ort fürs Dichten. Haben Sie schon eine Wüste gesehn?»

«Noch nie. Doch ich würde sie gern sehn.»

Einen Augenblick war Dinny über ihre eigene Bemerkung überrascht. Wie kühl hatte sie noch vor zwei Jahren auf die unabsehbar weiten Prärien des amerikanischen Professors verzichtet! Doch gab es wohl kaum einen größern Gegensatz als zwischen Hallorsen und diesem sonnverbrannten disharmonischen jungen Mann ihr gegenüber, der sie mit seinen seltsamen Augen so lang anstarrte, bis ihr wieder jener Schauer über den Rücken lief.

«Gestern sah ich Michael und Fleur beim Abendessen», bemerkte sie und zerkrümelte ihr Brötchen.

«So!» sagte er und verzog die Lippen. «In Fleur war ich einmal heillos vernarrt. Ist sie nicht vollkommen – in ihrer Art?»

«Ja», gab Dinny zurück und ihr Blick warnte: ‹Setze sie nicht herab!›

«Wunderbar – diese Aufmachung, diese Selbstbeherrschung.»

«Sie kennen Fleur vermutlich nicht», erwiderte Dinny, «ich bestimmt nicht.»

Er beugte sich vor. «Sie scheinen eine treue Seele zu sein! Wo haben Sie sich das angewöhnt?»

«‹In Treuen fest›, so lautet der Wahlspruch unserer Familie. Doch Sie meinen wohl, das hätte mich eher davon kurieren sollen?»

«Ich weiß nicht», sagte er unvermittelt, «ob ich das Wesen der Treue richtig erfasse. Treue halten – wem – welchem Prinzip? Nichts in der Welt steht unverrückbar fest, alles ist relativ. Treue scheint mir das Kennzeichen der konservativen Geistesrichtung, oder aber ein Idol, weiter nichts. Das gerade Gegenteil des Strebens nach Neuem.»

«Es gibt doch noch Dinge, die wert sind, daß man ihnen Treue hält. Zum Beispiel kaltes Huhn – oder die Religion der Väter.»

Er sah Dinny so seltsam an, daß sie fast erschrak.

«Religion? Sind Sie religiös?»

«Im großen und ganzen – wohl.»

«Was? Sie bringen es fertig, die Dogmen irgendeiner Konfession hinunterzuwürgen? Sie können glauben, daß die eine Legende mehr Wahrheit enthält als die andre? Glauben, das eine System sei wertvoller als die übrigen, bringe das Unerkennbare der Erkenntnis näher? Religion! Sie haben doch Sinn für Humor. Und in diesem Punkt versagt er?»

«Nein. Unter Religion versteh ich das Ahnen eines alldurchdringenden Weltgeistes und die sittliche Überzeugung, man müsse ihm nach besten Kräften dienen.»

«Hm! Zwischen dieser Anschauung und der landläufigen Fassung des Begriffs ‹Religion› klafft ein himmelweiter Unterschied. Doch trotz allem – woher wissen Sie, auf welche Art man dem Weltgeist am besten dient?»

«Ich nehme die hergebrachte Moral auf Treu und Glauben hin.»

«Ich nicht. Bedenken Sie doch!» Seine Stimme schien vor Erregung zu beben. «Wozu haben wir dann unsere Urteilskraft, unsere geistigen Fähigkeiten? Ich prüfe jedes Problem, das sich mir bietet, suche es zu ergründen und handle dann dieser Einsicht gemäß. Ich tue also, was ich auf Grund vernünftiger Überlegung für das Beste halte.»

«Das Beste – für wen?»

«Für mich und die Menschen im allgemeinen.»

«Was von beiden kommt in erster Reihe?»

«Das läuft doch schließlich auf eins hinaus.»

«Immer? Möcht ich bezweifeln. Übrigens nimmt dieses Abwägen wohl jedesmal so viel Zeit in Anspruch, daß ich mir gar nicht vorstellen kann, wie Sie je zum Handeln kommen. Die Grundlehren der Ethik sind doch gewiß die Frucht zahlloser Erwägungen, die die Denker der Vergangenheit über dieselben Probleme anstellten – warum darf man sie nicht als gegeben hinnehmen?»

«Keine dieser Entscheidungen wurde von Leuten meines Naturells und in meiner Lage getroffen.»

«Verstehe. Sie fällen Ihre Urteile von Fall zu Fall – echt englisch!»

«Tut mir leid», meinte er unvermittelt, «ich langweile Sie gewiß. Etwas zum Dessert?»

Dinny stützte die Ellbogen auf den Tisch, lehnte das Kinn auf die Hände und sah ihm ernst ins Gesicht.

«Sie haben mich durchaus nicht gelangweilt», entgegnete sie. «Im Gegenteil, Sie interessieren mich ungemein. Nur glaub ich, daß wir Frauen mehr unsern Impulsen gehorchen, wir betrachten uns vermutlich nicht so sehr als Einzelwesen wie die Männer und lassen uns daher instinktiv mehr von allgemeinen Erfahrungen leiten.»

«Das ist bisher Frauenart gewesen; ob sie es bleiben wird, steht dahin.»

«Ich glaube schon», entgegnete Dinny, «wir Frauen werden wohl nie großen Wert darauf legen, alles vernunftgemäß zu ergründen. Ja, ich möchte etwas zum Nachtisch. Vielleicht Dörrpflaumen-Kompott.»

Desert sah sie starr an und begann zu lachen.

«Sie sind einzig! Nehmen wir beide Dörrpflaumen. Hängt Ihre Familie sehr an den hergebrachten Formen?»

«Nicht so sehr an den Formen, doch glaubt sie an Tradition und Vergangenheit.»

«Und Sie?»

«Ich weiß nicht recht. Aber zweifellos hab ich alte Dinge gern, alte Häuser und alte Leute. Ich liebe alles, was gewissermaßen geprägt ist wie eine Münze. Ich möchte irgendwo verwurzelt sein. Hab immer gern Geschichte getrieben. Dennoch muß ich manchmal lachen. Diese Bindungen, in die wir verstrickt sind, kommen mir oft gradezu komisch vor, wie Erkennungsringe am Bein einer Henne.»

«Reichen Sie mir die Hand! Ich muß Ihnen zu Ihrem Humor gratulieren!»

Desert streckte ihr die Hand hin, Dinny schlug ein.

«Eines Tages», sagte Dinny, «werden Sie mir etwas von sich erzählen. Doch für den Augenblick: Welches Theaterstück wollen wir uns ansehn?»

«Wird vielleicht etwas von einem gewissen Shakespeare gegeben?»

Mit einiger Mühe fanden sie heraus, daß in einem Vorstadttheater jenseits der Themse ein Werk des größten Dramatikers der Welt aufgeführt wurde. Sie gingen hin, und nach der Vorstellung fragte Desert zögernd: «Darf ich Sie vielleicht bitten, zu mir auf eine Tasse Tee zu kommen?»

Dinny lächelte und nickte; von diesem Augenblick an glaubte sie eine Veränderung in seinem Wesen zu spüren, er schien ihr zugleich vertraulicher und respektvoller, als sagte er sich: ‹Die ist meinesgleichen.›

Diese Stunde beim Tee – den Tee trug Stack auf, ein Mann mit seltsam verstehendem Blick und von etwas mönchischem Wesen – war für Dinny ein ungetrübter Genuß. Nie zuvor hatte sie eine solche Stunde erlebt und am Ende dieser Stunde wußte sie, daß sie verliebt war. Das winzige Samenkorn, das vor zehn Jahren gepflanzt worden, war erblüht. Dinny war sechsundzwanzig und hatte geglaubt, sie werde sich nie verlieben. – Und nun liebte sie doch und fand das so eigen, so wunderbar, daß sie immer wieder den Atem anhielt und Wilfrid staunend in die Augen blickte. Um Himmels willen, warum mußte sie das fühlen? Lachhaft! Es schuf ihr gewiß nur Kummer, denn sie dachte, er werde ihre Liebe nicht erwidern. Warum sollte er's auch? Wenn aber er ihr Gefühl nicht erwiderte, dann durfte auch sie ihm das ihre nicht zeigen; wie aber konnte sie es verhehlen?

«Wann seh ich Sie wieder?» fragte er, als sie aufstand, um zu gehn.

«Möchten Sie mich denn wiedersehn?»

«Unbändig gern.»

«Warum?»

«Warum nicht? Sie sind die erste Dame, mit der ich seit zehn Jahren spreche, die erste vielleicht, die ich überhaupt je sprach.»

«Wenn wir uns wiedersehen sollen, dürfen Sie mich nicht auslachen.»

«Auslachen – Sie! Unmöglich! Wann sehen wir uns also?»

«Nun, ich schlafe jetzt in einem geborgten Nachtkleid in der Mount Street. Von Rechts wegen sollte ich in Condaford sein. Doch meine Schwester wird nächste Woche in London getraut und am Montag kommt mein Bruder aus Ägypten zurück, drum laß ich mir vielleicht meine Sachen holen und bleibe in der Stadt. Wo möchten Sie mich treffen?»

«Wollen Sie nicht morgen auf eine Spazierfahrt mitkommen? Seit Jahren bin ich nicht mehr in Richmond oder Hampton Court gewesen.»

«Ich überhaupt noch nie.»

«Famos! Um zwei Uhr hol ich Sie also vom Fochdenkmal ab, einerlei, ob schön, ob Regen.»

«Mein junger Herr, es wird mich freuen.»

«Herrlich!» Unerwartet beugte er sich nieder und zog ihre Hand an seine Lippen.

«Überaus höflich!» meinte Dinny. «Auf Wiedersehn!»


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