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XII

Dinny blieb in der Mount Street zum Abendessen, um Sir Lawrence zu sprechen.

Als er heimkam, saß sie schon wartend in seinem Arbeitszimmer und fragte ihn ohne Umschweife:

«Onkel Lawrence, weiß Tante Emily von der Geschichte, die du und Michael wissen?»

«Jawohl, Dinny. Warum?»

«Sie war so diskret. Ich hab es Onkel Adrian erzählt, er schien zu glauben, Wilfrid habe das Ansehn Englands im Orient geschädigt. Steht England denn wirklich in so hohem Ansehn? Ich dachte, die Ausländer hielten uns für eine Nation erfolgreicher Heuchler, die Inder für anmaßende Rohlinge.»

Sir Lawrence krümmte sich.

«Du verwechselst das Ansehn der Nation mit dem Ruf des Einzelnen. Beides muß man scharf auseinanderhalten. Der einzelne Engländer gilt im Orient als unerschrockener Mann, der sein Wort hält und treu zu den Seinen steht.»

Dinny wurde feuerrot. Der Vorwurf in diesen Worten war ihr nicht entgangen.

«Im Orient», fuhr Sir Lawrence fort, «steht der Engländer oder besser gesagt, der Brite, denn er stammt ebenso oft aus Schottland, Wales oder dem Norden Irlands, meist isoliert da. Sei er nun Reisender, Archäolog, Soldat, Staats- oder Zivilbeamter, Landwirt, Arzt, Ingenieur, Missionar – jedenfalls repräsentiert er eine kleine, gesonderte Gruppe der Gesellschaft und stützt sich gegen jeden Angriff auf das starke Ansehn Englands. Wenn nun ein einziger Engländer dieses Ansehn erschüttert, dann zieht er dadurch auch die ganze Schar seiner Landsleute herab, die zerstreut inmitten feindlicher Eingeborener leben. Das weiß man allgemein und ist von der Bedeutung dieser Tatsache durchdrungen. Gegen solche Gegner habt ihr nun anzukämpfen und dürft sie keineswegs unterschätzen. Wie sollte der Orientale, dem die Religion viel bedeutet, Verständnis dafür aufbringen, daß sie manchem unter uns nichts bedeutet? Für die Morgenländer ist der Brite ein gläubiger Christ und gibt, wenn er seine Religion abschwört, sein kostbarstes Gut preis.»

«Wilfrid ist also in den Augen unserer Kreise gerichtet», stellte Dinny trocken fest.

«In den Augen der Engländer, die in den Kolonien leben müssen, leider höchstwahrscheinlich. Wie sollte es auch anders sein? Wenn diese isoliert lebenden Menschen nicht fest darauf bauen können, daß keiner von ihnen sich den Eingeborenen unterwirft und die Landsleute im Stich läßt, ist es um ihre Position geschehn. Meinst du nicht auch?»

«Das hab ich mir noch nie so recht überlegt.»

«Du kannst überzeugt davon sein, Michael hat mir Wilfrids Gedankengang genau auseinandergesetzt. Als glaubensloser Mann wie ich mag man viel dafür ins Treffen führen. Mir ginge es auch verdammt gegen den Strich, mich wegen einer solchen Sache über den Haufen schießen zu lassen. Doch darin liegt nicht der Kern des Problems. Wilfrid hat das eben nicht erkannt. Warum aber erkannte er es nicht? Drauf muß ich dir leider entgegnen: ‹Weil ihm sein geistiger Hochmut dafür den Blick nahm.› Das kann er also nicht zur Verteidigung anführen, denn geistiger Hochmut ist den Behörden und der Welt im allgemeinen verhaßt. Entsinne dich, diese Eigenschaft hat auch Luzifer ins Verderben gestürzt.»

Während Dinny dem Onkel lauschte, hing ihr Blick unverwandt an seinen beweglichen Zügen.

«Du glaubst gar nicht, was man nicht alles am Ende entbehren kann», erklärte sie.

Sir Lawrence klemmte überrascht sein Monokel wieder ins Auge.

«Machst du jetzt auch schon solche Gedankensprünge wie deine Tante?»

«Wenn man den Beifall der Welt nicht findet, kann man schließlich auch ohne ihn leben.»

«‹Um Liebe lasse ich die ganze Welt!› Das klingt tapfer, hält aber im Leben der Probe nicht stand. Auf Opfern des einen Teils läßt sich schwer ein gemeinsames Leben aufbaun, der andre Teil kommt schließlich darüber doch nicht hinweg.»

«Ich geb mich ja auch mit einem bescheidenen Maß von Glück zufrieden.»

«Dinny, für dich ist mir das nicht genug.»

«Das Abendessen!» rief Lady Mont von der Tür her. «Dinny, habt ihr einen Staubsauger zu Haus? Man verwendet diese Apparate jetzt auch zum Pferdeputzen», fuhr sie auf dem Weg ins Speisezimmer fort.

«Warum nicht auch bei Menschen», murmelte Dinny, «um sie von Angst und Aberglauben zu säubern? Onkel wäre dagegen.»

«Ihr habt also miteinander gesprochen. Blore, geh hinaus!»

Als er draußen war, fügte sie hinzu:

«Dein Vater macht mir Sorge, Dinny.»

«Mir auch.»

«Als Kind hab ich ihn meistens untergekriegt. Aber eine Tochter! Tut nichts, er muß nachgeben.»

«Emily!» rief Sir Lawrence warnend, als Blore zurückkam.

«Na schön», meinte Lady Mont, «Glaubensbekenntnisse und so weiter – zu langweilig! Fürs Taufen bin ich auch nie gewesen – so eine Rücksichtslosigkeit gegen das arme Kleine, es fremden Leuten auf den Arm zu legen – aber die Frommen berührt das weiter nicht, die kümmern sich nur um Kelch und Bibel. Warum schmückt man übrigens die Kelche mit Farnblättern? Oder tut man das nur beim Bogenschießen? Onkel Cuthbert gewann dabei einmal einen Kelch, als er noch Kurat war. Damals war das Mode. Wie aufregend das alles ist!»

«Tante Emily», erklärte Dinny, «ich hoffe und wünsche, daß niemand sich über mich und mein unbedeutendes Schicksal aufregt. Solang niemand das tut, können wir ja glücklich sein.»

«Kluge Worte! Lawrence, das mußt du Michael erzählen. Blore, schenk Miss Dinny ein Glas Sherry ein!»

Dinny nippte am Sherry und betrachtete über das Glas hinweg das Gesicht ihrer Tante. Es wirkte so beruhigend, mit seinen leicht emporgezogenen Brauen, den gesenkten Lidern, der Adlernase und dem silbrigschimmernden Haar. Wie aufrecht hielt sie den Kopf und wie stattlich wirkten Hals, Schultern und Büste!

Im Taxi unterwegs zum Paddingtonbahnhof stand ihr auf einmal Wilfrid deutlich vor Augen, allein, von dieser Gefahr bedroht. Um ein Haar hätte sie sich zum Fenster hinausgelehnt und gerufen: ‹Cork Street!› Doch das hieße, die Sache nur noch mehr aufbauschen. Das Auto bog um eine Ecke. Ja, lieber nicht mehr zu Wilfrid! Aller Kummer auf Erden kam nur daher, daß eine Liebe wider die andre stritt. Wieviel einfacher wäre doch alles, hätte ihre Familie sie nicht so lieb, und sie nicht die Ihren!

«Gepäck, Miss?» fragte ein Träger.

«Keines, danke!» Als kleines Mädel hatte sie stets einen Gepäckträger heiraten wollen, das waren so nette Leute! Nachher kam ihr Musiklehrer aus Oxford an die Reihe. Als sie zehn war, hatte er in den Krieg ziehn müssen. Sie kaufte eine illustrierte Zeitschrift und nahm in einem Waggon dritter Klasse Platz, war aber sehr müde und schmiegte sich in die Ecke. Bahnfahrten nahmen ihre magere Börse immer arg her. Mit zurückgelehntem Kopf schlief sie ein und merkte beim Erwachen, daß die Frau ihr gegenüber sie anstarrte.

«Hab ich geschnarcht?»

«Nein, ich war nur überrascht, daß Sie in dieser Stellung nicht schnarchten. Mandel- und Drüsenschwellungen sind heutzutag so verbreitet.»

«Ach ja», meinte Dinny, «ohne die könnte man überhaupt nicht mehr existieren.»

«Wie ein Bild sahn Sie aus», bemerkte die Fremde, die eine städtische Krankenpflegerin zu sein schien. «Mir tat es leid, als Sie erwachten.»

«Oh», murmelte Dinny verlegen, «wie schmeichelhaft! Man sieht sich eben nie selbst während des Schlafens. Ich fürchte, ich sah aus wie Mars auf dem Bild in der Nationalgalerie.»

Ein leichter Schatten glitt über die Züge ihrer Reisegefährtin.

«Diese italienischen Gemälde!» meinte sie. «Wie nur die Leute dort über die Venus sprachen, ich war ganz überrascht.»

«Wie, das herrlichste Bild der Welt, finden Sie nicht auch?»

«Mir hat es nicht gefallen. Wie diese Venus nur gebaut ist und was sie alles zeigt!»

Dinny lächelte. «Kein Zollbreit zu viel.»

«Und sie schaut drein, als hätte sie geweint.»

‹Kein Wunder›, dachte Dinny, ‹wenn sie sich unversehens in einer Welt wie der unsern findet.›

Als sie den Zug verließ, schien der Mond, fast Vollmond; die Nacht war windig und voll würzigen Dufts. Dinny mußte zu Fuß gehn. Es war hell genug, querfeldein zu wandern. Sie stieg über das erste Zaungatter und schritt auf dem Feldweg hin. Da fiel ihr jene Nacht vor nahezu zwei Jahren ein, als sie mit dem gleichen Zug heimgekommen war und die Botschaft von Huberts Enthaftung gebracht hatte. Fahl und verhärmt hatte der Vater in seinem Arbeitszimmer gesessen, doch bei dieser Freudenkunde schien er auf einmal ganz verjüngt. Und heute kam sie mit einer Nachricht, die ihn kränken mußte! Dem Vater allein scheute sie sich entgegenzutreten, ihm allein, Mutter – nun, Mutter war ja lieb und gut, aber auch halsstarrig. Immerhin hatten Frauen keine so unerbittlich strengen Ansichten von nationaler Würde wie Männer. Hubert? In frühern Zeiten hätte sie am meisten vor ihm gebangt. Seltsam, wie so ganz hatte sie ihn verloren! Hubert würde außer sich sein. Er hatte strenge Ehrbegriffe. Na, sie würde seine Mißbilligung ertragen. Aber Vater! Hatte er so etwas nach vierzig Jahren harter Pflichterfüllung verdient?

Eine braune Eule flog von der Hecke zu ein paar Heuschobern hinüber. In diesen Mondnächten flogen so viele Eulen umher, grausig klang der Schrei ihrer Beute durch die Nacht. Und doch mußte man diese Eulen lieb haben, diese Vögel mit ihrem plumpen, lautlosen Flug und den gleichmäßigen, aufreizenden Rufen! Sie stieg über das nächste Zaungatter und kam auf eignen Grund und Boden. Auf diesem Feld gab es einen Schuppen, in dem das alte Dienstpferd ihres Vaters die Nacht zuzubringen pflegte. ‹Käm es auf mich an, ich möchte nicht einmal einen alten Ochsen verkaufen, der für mich gearbeitet hat!› Wer hatte doch diesen Ausspruch getan? Plutarch oder Plinius? Jedenfalls ein lieber alter Herr! Nun war das Rattern des Zugs in der Nacht verhallt, tiefe Stille ringsumher, nur das Rascheln des Windhauchs in den jungen Blättern und das Stampfen des alten ‹Kismet› im Schuppen. Sie überquerte ein zweites Feld und kam zu einer schmalen, aus Baumstämmen gezimmerten Brücke. Die Nachtluft war süß und schwer, wie das Gefühl, das sie jetzt ganz durchdrang. Sie schritt über die Brücke und glitt zwischen den Apfelbäumen in den Garten. Hell und lebendig schimmerten sie zwischen ihr und dem mondklaren Himmel, über den der Wind hinfegte. Ihr war's, als höre sie das leise Atmen dieser Bäume, ihr Preislied auf das eigene Erblühn. Wie tausend weiße Flammen glommen die Äste, so schön, als habe sie der Schöpfer, trunken vom Rausch der Mondnacht, gestaltet und in Sternenglanz gebadet. Und mit jedem neuen Frühling erneute sich hier dieses Wunder seit hundert Jahren und noch mehr. In einer Nacht wie dieser scheint einem die ganze Welt ein wunderbares Geheimnis, doch keines ihrer Wunder wirkte auf Dinny so ergreifend wie diese Apfelblüte. Während sie unter den alten Bäumen stand und mit der Nachtluft den feinen Staub ihrer Flechten und der Rinde einsog, kamen ihr die vielen wunderbaren Schönheiten Englands in den Sinn. Grasbewachsner Hügelhang und Lerchentriller, lautlose Tropfen im goldschimmernden Geäst der Wälder, wenn nach dem Regen die Sonne wieder schien; Ginster auf windgepeitschter Heide; Pferde, die am Ende der langen, samtschwarzen Furchen den Pflug wandten; weidenumsäumte Bäche, bald klar, bald grün; Strohdächer und der Rauch der Holzfeuer; Wiesen mit frischem Heu und fahlgelbe Kornfelder, dahinter die blaue Weite und drüber der ewig wechselnde Himmel – das alles schien Dinny herrlich, doch das herrlichste Kleinod dünkte sie dieser weiße Frühlingszauber. Da merkte sie, das lange Gras war ganz feucht und hatte ihre Schuhe und Strümpfe durchnäßt. Das Mondlicht war hell genug, daß sie auf dem Rasen die Blütensterne der Narzissen und Hyazinthen schimmern sah, hie und da auch eine blasse Tulpe; wahrscheinlich gab es hier auch noch ein paar Primeln, Glocken- und Schlüsselblumen. Sie schlüpfte weiter, ließ die Bäume hinter sich und warf noch rasch einen Blick auf ihre weiße Pracht zurück. ‹Als wären sie vom Mond gefallen!› fuhr es ihr durch den Sinn. ‹Dazu hab ich meine besten Strümpfe an!›

Sie schritt durch den von einer niedern Mauer umschloßnen Obstgarten, dann quer über den Rasenplatz und kam zur Terrasse. Elf Uhr vorüber! Nur im Erdgeschoß, im Arbeitszimmer ihres Vaters noch Licht! Wie glich doch alles jener andern Nacht!

‹Ich erzähl es Vater lieber nicht›, dachte sie und klopfte ans Fenster.

Er öffnete ihr die Tür.

«Du, Dinny! Du bist also doch nicht die Nacht über in der Mount Street geblieben?»

«Nein, Vater, ich kann mir doch nicht immer fremde Nachtkleider ausleihn.»

«Setz dich und trink eine Tasse Tee. Ich wollt eben einen kochen.»

«Liebster Vater, ich komme durch den Obstgarten und bin bis zu den Knien durchnäßt.»

«Zieh die Strümpfe aus, da hast du ein paar alte Pantoffeln!»

Dinny streifte die Strümpfe ab und starrte im Lampenschein auf ihre Beine nieder, während der General den Spiritusbrenner anzündete. Er nahm nicht gern fremde Hilfe in Anspruch. Sie sah ihm zu, als er sich über den Teekessel beugte. ‹Wie schlank er noch ist›, ging es ihr durch den Kopf, ‹und wie flink und präzis in jeder Bewegung!› Seine gebräunten Hände mit dem dunklen Haarflaum hatten lange, geschickte Finger. Dann stand er reglos da und sah auf die Flamme. «Braucht einen neuen Docht», bemerkte er. «In Indien stehn uns leider böse Unruhn bevor.»

«Indien schafft uns, scheint mir, mehr Unruhe, als es wert ist.»

Der General wandte ihr das Gesicht mit den hohen, aber schmalen Backenknochen zu; sein Blick ruhte auf ihr, die dünnen Lippen unter dem kurzgeschnittnen Schnurrbart umspielte ein Lächeln.

«So geht's einem bei anvertrauten Gütern öfters, Dinny. Hast übrigens sehr hübsche Beine.»

«Muß ich doch haben, Vater, als deine und Mutters Tochter.»

«Die meinen passen nur in Stiefel, sind stark und sehnig. Hast du Mr. Desert nach Condaford eingeladen?»

«Nein, heute noch nicht.»

Der General grub die Hände in die Rocktaschen. Er hatte den Frack, den er beim Abendessen getragen, bereits abgelegt und trug nun eine alte, gelbbraune Jagdjoppe. Die Manschetten waren, wie Dinny feststellte, ein wenig zerfranst, einer der Lederknöpfe fehlte. Der Vater zog die dunklen, stark gewölbten Brauen zusammen, bis inmitten der Stirn drei senkrechte Falten standen. Dann erklärte er ruhig:

«Dinny, dieser Glaubenswechsel bleibt mir unverständlich. Milch oder Zitrone?»

«Zitrone, bitte.»

‹Jetzt los!› dachte sie. ‹Mut!›

«Zwei Stück Zucker?»

«Drei – mit Zitrone, Vater.»

Der General griff nach der Zuckerzange, ließ drei Stück und ein Zitronenscheibchen in die Tasse gleiten, dann legte er die Zange zurück und beugte sich wieder über den Kessel.

«Kocht schon», sagte er und goß die Tasse voll. Er warf einen gehäuften Löffel Tee hinein, zog den Löffel zurück und reichte die Tasse seiner Tochter.

Dinny rührte den dünnen, goldklaren Trank um, tat einen Schluck, behielt die Tasse auf dem Schoß und wandte das Gesicht zu ihm empor.

«Ich kann dir's nicht erklären, Vater», entgegnete sie und dachte: ‹Je mehr ich rede, um so weniger wird er mich verstehn.›

Der General füllte die eigne Tasse und nahm wieder Platz. Dinny hielt den Griff ihres Löffels krampfhaft umklammert.

«Als Wilfrid weit draußen in Darfur war», sagte sie, «fiel er eines Tags einem Trupp fanatischer Araber in die Hände; es gibt dort noch immer Anhänger des Mahdi. Ihr Anführer ließ Wilfrid in sein Zelt bringen und versprach, ihm das Leben zu lassen, wenn er sich zum Islam bekenne.»

Sie sah ihren Vater zusammenzucken, so daß ein wenig Tee auf den Teller rann. Der Alte hob die Tasse und goß den Tee zurück. Dinny fuhr fort:

«Wilfrid denkt über die Religion, wie wir jungen Leute es heute ja meist tun, bloß noch viel radikaler. Er hat nicht nur allen Glauben an das Christentum verloren, sondern haßt jede überlieferte Form der Religion, behauptet, sie richte zwischen den Menschen trennende Schranken auf und bringe mehr Leid und Jammer über sie als alles andre. Und dann, Vater, verstehst du – wenn du seine Gedichte gelesen hättest, würdest du's bestimmt verstehn – die sinnlose Vergeudung von Menschenleben im Weltkrieg hat Wilfrid arg verbittert; soviel Ströme Blut, vergossen wie Wasser auf das Kommando von Leuten, die selbst nicht wußten, was sie wollten.»

Wieder zuckte der General leicht zusammen.

«Es war so, Vater! Auch Hubert hab ich schon ähnlich sprechen gehört. Seit dem Krieg empfindet Wilfrid jedenfalls tiefen Abscheu vor dem unsinnigen Opfern von Menschenleben und tiefstes Mißtrauen gegen alle überlieferten Idole und Glaubenssätze. Nur fünf Minuten blieben ihm zum Überlegen. Er tat es nicht aus Feigheit, nein, aus bitterm Hohn darüber, daß Menschen einander ums Leben bringen, Dogmen zuliebe, die ihm alle unhaltbar scheinen. Da zuckte er nur die Achseln und ging drauf ein. Natürlich mußte er danach Wort halten und sich den Zeremonien unterziehn. Aber du kennst ihn ja nicht, drum rede ich gewiß in den Wind.» Sie seufzte und tat einen durstigen Zug.

Der General hatte seine Tasse niedergestellt, stand auf, stopfte sich eine Pfeife, zündete sie an und blieb am Kamin stehn. Seine Züge waren ernst, düster, gefurcht.

«Ich weiß nicht mehr, wo ich bin», meinte er schließlich. «Der Glaube, den unsere Väter seit Jahrhunderten hochhielten, soll auf einmal keinen Pfifferling wert sein? Und alles, was uns zum stolzesten Volk der Welt gemacht hat, soll man auf Geheiß des nächstbesten Arabers über Bord schmeißen? Männer wie die Lawrences, John Nicholson, Chamberlain, Sandeman und tausend andre gaben Gut und Blut dafür, uns Engländern den Ruf tapfrer, worttreuer Männer zu schaffen, und jetzt darf jeder darauf pfeifen, sobald ihm der Gegner die Pistole auf die Brust setzt?»

Dinnys Löffel klirrte gegen den Teller.

«Wenn es aber nicht jeder tun darf, warum soll es einer dürfen? Warum gerade dieser eine?»

Dinny bebte an allen Gliedern und gab keine Antwort. Weder Adrian noch Sir Lawrence hatten solchen Eindruck auf sie gemacht; zum ersten Mal ging ihr nun auch ein Wort von der andern Seite nah. Hatte der Vater an ererbte Ideen gerührt, oder griff auf sie die Erregung eines Mannes über, den sie stets bewundert und geliebt und fast nie viel reden gehört hatte? Sie fand kein Wort der Erwiderung.

«Ich weiß nicht, ob ich religiös bin», fuhr der General fort, «aber der Glaube meiner Väter genügt auch mir», – er machte eine Bewegung, als wolle er hinzufügen: ‹Ich lasse die eigene Person aus dem Spiel, aber Dinny, ich hätte es nie zuweg gebracht, einem solchen Diktat zu gehorchen, nie und nimmer hätt ich das gekonnt und kann auch nicht verstehn, wie er es konnte.›

Ruhig entgegnete Dinny: «Ich will ja gar nicht versuchen, es dir verständlich zu machen, Vater. Du verstehst es nicht, gut, finden wir uns damit ab. Die meisten Menschen haben in ihrem Leben etwas getan, was andern, hätten sie es erfahren, unbegreiflich erschienen wäre. Von Wilfrid weiß man diese Geschichte – das macht den ganzen Unterschied.»

«Wie? Du willst doch nicht damit sagen, die Drohung sei bekannt, der Beweggrund des Glaub–»

Dinny nickte.

«Wieso?»

«Ein gewisser Mr. Yule hat das Gerücht aus Ägypten heimgebracht. Onkel Lawrence ist der Ansicht, es lasse sich nicht mehr vertuschen. Ich wollte dir das Schlimmste nicht verschweigen.» Sie nahm die nassen Strümpfe in die Hand. «Möchtest du mir den Gefallen tun, es statt meiner der Mutter und Hubert mitzuteilen?» Und sie erhob sich.

Der General tat einen tiefen Zug aus der Pfeife, es klang wie ein Gurgeln.

«Deine Pfeife muß geputzt werden, lieber Vater, morgen will ich's tun.»

«Ein Paria wird er sein!» stieß der General hervor, «ein Paria! Dinny! Dinny!»

Mehr als jedes andre Argument rührten und entwaffneten Dinny diese Worte. Plötzlich empfand sie, sein Widerstand kam von seiner selbstlosen Liebe, nicht aus persönlichen Gründen.

Sie biß sich auf die Lippe und sagte:

«Vater, wenn ich bei dir sitzen bleibe, fang ich noch zu heulen an. Meine Füße sind eiskalt. Gute Nacht, liebster Vater!»

Sie wandte sich und trat rasch zur Tür; der General stand da wie ein eben angeschirrtes Roß.

Sie ging in ihr Zimmer hinauf, setzte sich aufs Bett und rieb die kalten Füße aneinander. Nun war's geschehn. Jetzt mußte sie sich dran gewöhnen, daß dieses feindliche Gefühl der Ihren sie fortan wie eine Mauer umschließen würde, wie eine Mauer, die sie übersteigen mußte, um ihrer Liebe leben zu können. Und wie sie so dasaß und immer wieder die Füße aneinanderrieb, merkte sie zu ihrer Überraschung, daß die Worte des Vaters ihren heimlichen Beifall fanden, ihr Gefühl für Wilfrid aber nicht im mindesten berührten! Hatte die Liebe denn gar nichts mit dem Urteil des Verstandes zu schaffen? Entsprach das alte Bild des blinden Liebesgotts der Wahrheit? Machten die Fehler des geliebten Wesens es einem tatsächlich nur um so teurer? Diese Erfahrung ging offenbar auf dieselbe Ursache zurück wie das Mißfallen an allzu edel gezeichneten Romanfiguren. Solche Tugendengel gehn einem auf die Nerven, man wird ungeduldig, wenn man das Gute belohnt und das Böse bestraft sieht.

‹Steht die Lebensführung meiner Familie›, dachte sie, ‹denn wirklich so viel höher als meine, oder will ich Wilfrid nur recht nah bei mir haben und scher mich den Teufel drum, was er ist oder nicht ist, wenn er nur zu mir kommt?›

Plötzlich überfiel sie das seltsame Gefühl, sie kenne Wilfrid nun bis auf den Grund der Seele, mit all seinen Fehlern und Schwächen und auch den Vorzügen, die dafür Ersatz boten und ihre Liebe wachhalten würden; denn um das Geheimnis der Liebe kreisten alle ihre Gedanken. ‹Alles Böse errate ich instinktiv›, dachte sie mit trübem Lächeln, ‹aber das Gute, Wahre, Schöne ruft meinen Zweifel wach!› Und fast zu müde, um sich zu entkleiden, ging sie zu Bett.


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