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XXX

Dinny stieg aus einem Autobus und betrat die Wimbledon-Heide. Nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht hatte sie sich davongeschlichen und die Nachricht zurückgelassen, sie komme erst abends wieder. Sie eilte über die Wiesen in einen Birkenhain und streckte sich hin. Die treibenden Wolken am Himmel, das Sonnenlicht im Birkengeäst, die Bachstelzen im Sand und die dicke Holztaube, die sich durch die reglose Gestalt nicht stören ließ – all das brachte Dinny keinen Frieden, kein Verlangen, sich in die Natur zu versenken. Bebend, mit trocknen Augen lag sie auf dem Rücken und fragte sich, welch dunkle Macht sich wohl jetzt an ihrem Kummer weide. In Seelennot erwartet man keine Hilfe von außen, sucht sie im eignen Ich. Sollte sie fortan als tragische Gestalt umherwandeln? Gräßlicher Gedanke! Nein, das widerstrebte ihr! Mild wehte der Wind, die Wolken zogen hin, die Blätter rauschten, Kinderstimmen erklangen; doch ihr half alles nichts, sie sah keinen Weg, dem Leben die Stirn zu bieten, ihren Schmerz zu verbergen. Nun zeigte sich deutlich, wie weit sie sich von den Ihren entfernt hatte, seit sie Wilfrid vor dem Denkmal Fochs getroffen. Alles hatte sie auf eine Karte gesetzt und alles verloren. Sie bohrte die Finger in den Sand, ein Hund bemerkte das Loch, lief herzu und schnupperte dran. Sie war zum Leben erwacht und jetzt gestorben. ‹Kränze dankend verbeten.›

Das Gefühl, nun sei zwischen ihnen alles zu Ende, hatte sie gestern abend so überwältigt, daß es ihr gar nicht in den Sinn kam, das zerrissene Band wieder zu knüpfen. Er war stolz, sie nicht minder! Ihr Stolz war andrer Art, doch ebenso tief verwurzelt. Niemand brauchte sie wirklich! Was hinderte sie, fortzugehn? Sie besaß fast dreihundert Pfund. Doch dieser Gedanke machte sie weder froh, noch erleichterte er sie; nun, wenigstens half es, ihrer Familie Kummer zu ersparen, die wollte gewiß wieder die alte, muntere Dinny sehn. Sie gedachte der Stunden, die sie mit Wilfrid draußen im Grünen verbracht. Die Erinnerung war so lebhaft, daß sie die Hand auf die Lippen preßte, um einen Klagelaut zu unterdrücken. Ehe sie ihn getroffen, hatte sie sich nie einsam gefühlt. Und jetzt – war sie mutterseelenallein! Alles schien trostlos, kalt, ohne Lichtblick! Rasche Bewegung tat wohl, wenn einem weh ums Herz war, das hatte sie schon erprobt; sie erhob sich und kreuzte die Straße, auf der in dichter Kette die Wagen der Sonntagsausflügler aus der Stadt strömten. Onkel Hilary hatte sie einmal ermahnt, sie solle nie ihren Sinn für Humor verlieren. Hatte sie je Sinn für Humor gehabt? Am Ende der Barnes-Heide bestieg sie einen Omnibus und fuhr nach London zurück. Sie mußte etwas zu sich nehmen, sonst fiel sie in Ohnmacht. Beim Kensington-Park stieg sie ab und ging in ein Restaurant.

Nach dem Lunch saß sie eine Weile im Park, dann begab sie sich in die Mount Street. Sie fand niemand zu Hause und sank im Salon aufs Sofa. Total erschöpft schlief sie ein. Als ihre Tante ins Zimmer trat, erwachte sie, richtete sich auf und sagte:

«Jetzt braucht ihr euch nicht mehr um mich zu sorgen, Tante Emily. Es ist aus.»

Lady Mont starrte ihre Nichte an, die mit schattenhaftem Lächeln dasaß; eine Träne und noch eine rollten ihre Wangen hinab.

«Du weinst also nicht nur bei Hochzeiten, Tante Emily, sondern auch an Gräbern.»

Sie erhob sich, ging zur Tante hinüber und wischte ihr mit dem Taschentuch die Tränenspuren fort.

«Wein doch nicht!»

Lady Mont stand auf. «Ich muß heulen», erklärte sie, «ich kann mir nicht helfen!» Und hastig segelte sie aus dem Zimmer.

Dinny blieb sitzen, das schattenhafte Lächeln noch immer auf den Lippen. Blore brachte den Tee herein, und sie sprach mit ihm über den Tennis-Wettkampf in Wimbledon und über seine Frau. Er schien nicht recht zu wissen, welche der beiden Frauen in üblerer Verfassung war, aber beim Hinausgehn wandte er sich um und sagte:

«Erlauben Sie, Miss Dinny, ein wenig Seeluft würde Ihnen guttun.»

«Sie haben recht, Blore, ich hab auch schon dran gedacht.»

«Das freut mich, Miss; man übertreibt leicht um diese Jahreszeit.»

Auch er schien also zu wissen, daß die Sache zu Ende war. Auf einmal fand sie es unerträglich, sozusagen noch länger am eignen Grab zu stehn. Sie huschte zur Tür, lauschte, glitt die Treppe hinab und aus dem Haus.

Doch sie fühlte sich so erschöpft, daß sie sich kaum bis zum St. James-Park schleppen konnte. Am Teich nahm sie auf einer Bank Platz. Menschen, Sonnenlicht und Enten, schattiges Laub, Schilfrohr und dieser wilde Aufruhr in ihr! Ein hochgewachsener Mann kam von Whitehall her, fuhr mit der Hand an den Hut, ließ sie aber sinken, als er Dinny ins Gesicht sah, und schlenderte weiter. So also wirkte ihr Gesicht auf Menschen! Sie erhob sich und schritt langsam zur Westminster-Abtei, trat ein und ließ sich in einen Kirchenstuhl nieder. Vornübergebeugt, das Gesicht auf die Arme gestützt, saß sie wohl eine halbe Stunde da. Sie hatte nicht gebetet, aber ausgeruht, und ihre Miene war verwandelt. Jetzt traute sie sich eher die Kraft zu, vor Leute zu treten und ihre Gefühle zu verbergen.

Bald nach sechs ging sie zum South Square. Ungesehn betrat sie ihr Zimmer, nahm ein langes heißes Bad, legte ein Abendkleid an und schritt entschlossen die Treppe hinab. Nur Fleur und Michael befanden sich im Speisezimmer und beide fragten nicht. Offenbar wußten sie alles. Schlecht und recht überstand sie den Abend. Ehe sie hinaufging, küßten sie beide und Fleur sagte:

«Ich hab eine Wärmflasche für dich bestellt; wenn du dich drauflegst, kannst du leicht einschlafen. Gute Nacht, schlaf recht gut!»

Wieder hatte Dinny das Gefühl, Fleur selbst habe einst so gelitten, wie sie jetzt litt. Sie schlief besser, als sie erwartet hatte.

Frühmorgens mit dem Tee brachte man ihr einen Brief, auf dessen Umschlag der Name eines Hotels in Chingford stand.

‹Geehrtes Fräulein!

Den beiliegenden, an Sie gerichteten Brief fand man in der Rocktasche eines Herrn, der hier an einem schweren Malariaanfall krank liegt. Ich sende den Brief an Sie ab.

Hochachtungsvoll

Dr. Roger Queal›

Sie las den Brief … ‹Was ich auch tun mag, verzeih und glaub mir, daß ich Dich liebe. Wilfrid.› Er war krank! Heißes Mitgefühl durchströmte sie, doch sie drängte es sofort zurück. Kein zweites Mal durfte sie sich Hals über Kopf in diese Hölle stürzen! Sie lief hinunter und telephonierte Stack, daß sein Herr im Chingford-Hotel an Malaria krank liege.

«Er wird seine Medizin und das Rasierzeug brauchen, Miss. Ich bring ihm beides.»

‹Alles Liebe von mir!› wollte Dinny sagen, besann sich jedoch rasch und erklärte: «Wenn ich etwas für ihn tun kann – er weiß, wo ich bin.»

Ihre bittere Stimmung hatte nachgelassen, dennoch blieb er ihr so fern wie nur je! Wenn er nicht selbst kam oder sie zu sich bat, konnte sie sich ihm nicht nähern. Aber eine innere Stimme verriet ihr, daß er weder selbst kommen, noch sie zu sich zu bitten würde. Gewiß nicht! Sein Zelt abbrechen wollte er und von der Stelle fliehen, die so viele Erinnerungen barg.

Gegen Mittag erschien Hubert und verabschiedete sich von ihr. Sofort merkte sie, daß auch er im Bilde war. Den Rest seines Urlaubs würde er im Oktober nehmen und zu Hause verbringen, erklärte er. Jeanne sollte bis nach der Geburt ihres Kindes im November in Condaford bleiben, der Arzt hatte ihr geraten, die Sommerhitze zu meiden. Dinny schien es, als habe sie an diesem Tag wieder den alten Hubert vor sich. Er sprach lang von dem Vorteil, in Condaford geboren zu werden. Sie versuchte, sich munter zu geben, und sagte:

«Sonderbar, Hubert, daß du plötzlich so sprichst. Dir lag doch früher nie viel an Condaford.»

«Wenn man einen Erben hat, ist das etwas ganz andres.»

«Es muß also ein männlicher Erbe sein, wie?»

«Jawohl, wir haben uns zu einem Jungen entschlossen.»

«Und wird es noch ein Condaford geben, wenn er dein Erbe antritt?»

Hubert zuckte die Achseln. «Wir müssen eben alles aufbieten, um es zu halten. Nichts kann man festhalten, wenn man nicht alle Kraft aufbietet.»

«Und selbst dann nicht immer», murmelte Dinny.


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