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XXXIII

Compson Grice war kein schlechter Kerl und empfand für Michael eine gewisse Sympathie. Als er ausging, um den Lunch zu nehmen, dachte er eifrig über sein Versprechen nach. Er war überzeugt, daß sich Schwierigkeiten am besten beim Essen aus dem Weg räumen ließen; unter normalen Umständen hätte er einfach eine Einladung ergehen lassen und beim zweiten oder dritten Glas echten alten Kognaks seine Informationen eingezogen. Doch vor Wilfrid hatte er Respekt. Während er einer Seezunge und einer halben Flasche Chablis zusprach, entschied er sich für den brieflichen Weg. Eine Zigarre zwischen den Lippen, eine Tasse Kaffee neben sich, saß er in dem kleinen, grüngetäfelten Schreibzimmer seines Klubs und schrieb also:

‹Hotch-Potch-Klub, Freitag.

Lieber Desert!

Im Hinblick auf den ansehnlichen Erfolg des ‹Leoparden› und den hoffentlich auch weiterhin starken Absatz wäre es mir angenehm, von Ihnen genau zu erfahren, wie und wohin ich Ihnen Ihre Tantiemen senden soll. Vielleicht hätten Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob und wann Sie wieder nach dem Osten zurückzukehren gedenken; und nennen Sie mir, bitte, eine Adresse, an die ich ohne Risiko die Beträge überweisen kann. Vielleicht wäre es Ihnen angenehmer, wenn ich die fälligen Tantiemen einfach bei irgendeiner von Ihnen bestimmten Bank hinterlege und mir Empfangsbestätigungen geben lasse. Unsere finanzielle Zusammenarbeit war bis jetzt etwas flau, aber der ‹Leopard› beeinflußt in Zukunft – ja schon jetzt – den Verkauf Ihrer beiden frühern Werke. Deshalb wäre es empfehlenswert, wenn Sie mich über Ihren künftigen Aufenthaltsort auf dem laufenden hielten. Haben Sie die Absicht, noch längere Zeit in London zu bleiben? Ihr Besuch wird mir stets ein Vergnügen sein.

Mit herzlichen Glückwünschen und besten Grüßen verbleibe ich

Ihr aufrichtiger

Compson Grice

In seiner eleganten, steilen Schrift adressierte er den Brief noch in die Cork Street und sandte ihn sogleich durch den Klubboten hin. Während des Rests der Mittagpause pries er mit seiner säuselnden Stimme die Vorzüge der Neuerscheinung des kanadischen Franzosen, nahm dann ein Taxi und fuhr nach Covent Garden zurück. Im Vorraum traf er einen Angestellten.

«Mr. Desert erwartet Sie oben in Ihrem Zimmer, Sir.»

«Bravo!» entgegnete Compson Grice und unterdrückte ein leises Bangen. ‹Rasche Arbeit!› dachte er.

Wilfrid stand am Fenster und blickte auf den Covent Garden-Markt schräg gegenüber; als sein Besucher sich wandte, erschrak Grice beinahe – so düster und hergenommen war Deserts Gesicht, so bitter seine Miene. Die Hand fühlte sich heiß und trocken an.

«Sie haben also meinen Brief bereits erhalten?» fragte Grice.

«Ich danke. Hier ist die Adresse meiner Bank. Am besten, Sie zahlen alle Beträge ein und behalten die Quittungen.»

«Hervorragend gut sehn Sie grade nicht aus. Verreisen Sie wieder?»

«Wahrscheinlich. Na, leben Sie wohl, Grice. Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben.»

Compson Grice entgegnete mit echter Herzlichkeit: «Tut mir aufrichtig leid, daß Ihnen die Sache so nah geht.»

Wilfrid zuckte die Achseln und wandte sich zur Tür.

Sein Verleger stand noch immer da und drehte den Zettel mit der Bankadresse zwischen den Fingern. Plötzlich sagte er laut: «Sein Aussehn gefällt mir nicht, gefällt mir ganz und gar nicht!» Dann trat er ans Telephon …

 

Wilfrid schlug die Richtung nach Norden ein, er hatte einen zweiten Besuch zu erledigen. Als er ins Museum kam, saß Adrian eben vor seiner Tasse Tee mit Gebäck.

«Bravo!» rief Adrian und erhob sich. «Freut mich, Sie zu sehn. Hier ist eine zweite Tasse. Bitte, nehmen Sie doch Platz.»

Als er Wilfrids Gesicht sah und seinen Händedruck fühlte, erschrak er nicht weniger als Grice.

Wilfrid nahm einen Schluck Tee. «Darf ich rauchen?» Er zündete eine Zigarette an und blieb vornübergebeugt sitzen. Adrian wartete, bis er zu sprechen anfinge.

«Verzeihn Sie, daß ich Sie so überfalle», sagte Wilfrid endlich, «aber ich geh wieder zurück ins Pfefferland. Ich wollte bloß wissen, was Dinny weniger schmerzt – wenn ich rasch und klanglos verschwinde oder ihr vorher schreibe.»

Eine Minute lang saß Adrian vollkommen ratlos und erschrocken da.

«Sie meinen, daß Sie sich bei einem Wiedersehn nicht genug in der Hand hätten?»

Desert zuckte die Achseln, als überliefe ihn ein Schauer.

«Das ist eigentlich nicht der Grund. Es klingt brutal, aber ich hab alles so satt, bin völlig unempfindlich. Bei einem Wiedersehn – könnt ich ihr wehtun. Sie ist ein Engel. Wahrscheinlich begreifen Sie nicht, was in mir vorgeht. Ich begreif's ja selbst nicht. Ich hab nur den einen Wunsch: Fort – von allem und jedem.»

Adrian nickte.

«Wie ich hörte, waren Sie krank – vielleicht ist das der Grund Ihrer gegenwärtigen Stimmung? Um Gotteswillen, begehn Sie keinen zweiten Irrtum.»

Wilfrid lächelte.

«An Malaria bin ich ja gewöhnt. Das ist es nicht. Sie werden mich auslachen, aber ich habe das Gefühl, als müßt ich innerlich verbluten. Ich muß in eine Gegend, wo mich nichts und niemand an Vergangenes erinnert. Und niemand erinnert mich so sehr an alles wie Dinny.»

«Ich verstehe», sagte Adrian ernst. Schweigend strich er sich über das bärtige Kinn. Dann erhob er sich und schritt im Zimmer auf und ab.

«Halten Sie es Dinny und sich selbst gegenüber für anständig, nicht einmal zu prüfen, welche Wirkung ein Wiedersehen hätte?»

«Jawohl!» entgegnete Desert fast heftig. «Ich erkläre Ihnen doch, ich würde ihr wehtun.»

«Wehtun werden Sie ihr in jedem Fall; sie hat alles auf eine Karte gesetzt. Hören Sie doch, Desert! Sie haben das Gedicht nach reiflicher Erwägung veröffentlicht. Ich faßte es immer als eine Art Sühne von Ihrer Seite auf, zu der es Sie trotz Ihrer Werbung um Dinny trieb. Ich bin kein solcher Narr, zu verlangen, daß Sie die Sache mit Dinny fortsetzen sollen, wenn sich Ihre Gefühle tatsächlich gewandelt haben; aber sind Sie davon überzeugt?»

«Meine Gefühle haben sich nicht gewandelt. Ich hab überhaupt keine mehr. Ich bin ein Paria, ein Pariahund – das hat alles Gefühl in mir erstickt.»

«Meinen Sie das wirklich ernst?»

«Vollkommen! Ich war ein Paria – das wußte ich vom Augenblick meines Abfalls an, einerlei ob die Leute es erfuhren oder nicht. Aber nach allem – war es doch nicht einerlei.»

«Ich begreife», wiederholte Adrian und blieb stehn. «Das scheint mir natürlich.»

«Ob es andern natürlich scheint, weiß ich nicht, für mich ist es so. Ich bin ausgestoßen aus der Gesellschaft und will nicht mehr zurück. Ich beklage mich nicht. Ich ergreife gegen mich selbst Partei.» Mit verzweifelter Energie stieß er diese Worte hervor.

Adrian erwiderte ganz sanft: «Sie wollen also nur wissen, wie Sie Dinny am wenigsten wehtun? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich wollt, ich könnt es. Als Sie das erste Mal zu mir kamen, gab ich Ihnen einen schlechten Rat. Ratschläge taugen nie etwas. Jeder muß selbst einen Ausweg finden.»

Desert stand auf. «Meine Einsamkeit trieb mich zu Dinny hin. Und meine Einsamkeit treibt mich von ihr fort. Welch eine Ironie! Also leben Sie wohl, Sir; ich glaube kaum, daß ich Sie je wiedersehn werde. Ich danke Ihnen für Ihren Versuch, mir zu helfen.»

«Wie gern möchte ich Ihnen helfen!»

Wilfrid lächelte – jenes unerwartete Lächeln, das ihn so anziehend machte.

«Ich will es mir nochmals auf einem Spaziergang überlegen. Vielleicht geht mir ein Licht auf. Jedenfalls wissen Sie, daß es meine Absicht war, sie so viel wie möglich zu schonen. Leben Sie wohl!»

Adrians Tee war kalt geworden, das Gebäck lag unberührt daneben. Er stieß beides fort. Ihm war, als habe er Dinny verraten, aber ihm fiel ganz und gar nichts ein, was er sonst hätte tun können. Der junge Mann sah sehr seltsam aus! ‹Innerlich verbluten› – unheimliche Worte! Aber wahr, sein Gesicht verriet es. Maßlose Empfindlichkeit und verzehrender Stolz! ‹Ich geh ins Pfefferland zurück.› Im Orient wollte er also umherreisen – eine Art ewiger Jude; einer jener geheimnisvollen Briten, die man in weltfernen Nestern trifft – sie sprechen nie über ihre Vergangenheit, nie über die Zukunft, leben nur in der Gegenwart. Er stopfte die Pfeife und suchte sich mit aller Macht einzureden, daß dieser Bruch mit Wilfrid für Dinny ein Glück bedeute. Doch es gelang ihm nicht. Nur einmal blühte im Leben des Weibes die wahre Liebe, und ihr hatte sie jetzt geblüht. Das stand für ihn außer Zweifel. Sie würde später einen andern wählen, freilich! Doch der Sonnenschein der ersten Liebe kam nicht wieder. Hastig griff er nach seinem abgetragenen Hut und verließ das Museum. Erst schlug er die Richtung nach dem Hydepark ein, dann folgte er einem Einfall und ging in die Mount Street.

Als Blore ihn meldete, war seine Schwester gerade damit beschäftigt, die letzten paar roten Stiche in die Zunge eines Hundes ihrer Nadelmalerei zu sticken. Sie hielt die Arbeit empor.

«Eigentlich sollte ihm der Speichel heruntertropfen. Er blickt nämlich nach dem Kuchen da. Soll ich die Spucke blau sticken?»

«Grau, Emily, auf diesem Hintergrund.»

Lady Mont musterte ihren Bruder, der auf einem niedern Sessel Platz genommen hatte und die langen Beine hochzog.

«Wie ein Kriegsberichterstatter siehst du aus – mit einem Feldsessel, unrasiert. Adrian, ich möcht so gern, daß Dinny heiratet. Sie ist sechsundzwanzig. Warum diese Geschichten, ausgestoßen und so weiter! Sie könnten doch nach Korsika gehn.»

Adrian lächelte. Emily hatte ganz recht und doch ganz unrecht!

«Conway war heut bei uns», fuhr seine Schwester fort, «er hat vorher Michael besucht. Niemand weiß was. Und Dinny geht in einem fort mit Kit und Dandy spazieren, päppelt die kleine Catherine oder sitzt da und liest ohne umzublättern.»

Adrian fragte sich, ob er ihr von Deserts Besuch erzählen solle.

«Und Conway sagt», berichtete Lady Mont weiter, «dieses Jahr geht es ihm gar nicht recht zusammen – Clares Heirat und die Steuern, und Jeanne erwartet doch – er wird ein paar Bäume fällen müssen und die Pferde verkaufen. Auch uns geht's knapp. Nur gut, daß Fleur so wohlhabend ist. Diese Geldsachen sind so lästig. Was meinst du?»

Adrian raffte sich zusammen.

«Na, heutzutage erwartet wohl niemand, daß es ihm gut geht, aber genug zum Leben will man doch haben.»

«Ja, aber es hängen so viele Leute von einem ab. Boswell hat eine Schwester, die kann nur auf einem Bein gehn; und Johnsons Frau hat Krebs – die Ärmste! Und jeder muß für jemand sorgen. Dinny sagt, ihre Mutter hilft in Condaford dem ganzen Dorf. Wie das weiter gehn soll, weiß der Himmel. Lawrence erspart keinen Pfennig.»

«Emily, wir sitzen auf zwei Stühlen, und eines schönen Tags sausen wir mit einem Krach zu Boden.»

«Vermutlich kommen wir noch ins Armenhaus.» Lady Mont hob ihre Arbeit ans Licht. «Nein, ich laß den Speichel doch nicht tropfen. Oder wir gehn nach Kenya in Afrika; in dieser Kolonie kann man Geld verdienen, heißt es.»

«Mir ist einzig der Gedanke verhaßt», erklärte Adrian mit plötzlicher Energie, «daß irgendein Hergelaufener Condaford kauft, um dort am Wochenende mit seinen Gästen Saufgelage zu halten.»

«Dann haus ich lieber als Hexe im Wald. Ohne die Cherrells ist Condaford undenkbar!»

«Recht gut ist es denkbar, Emily. Diese verwünschte Sache, der sogenannte Entwicklungsprozeß, ist nicht aufzuhalten. England ist seine Wiege.»

Lady Mont seufzte, erhob sich und segelte zu ihrem Papagei hinüber.

«Nicht wahr, Polly! Wir beide gehn ins Armenhaus.»


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