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I

Kurz nach Verlautbarung des Staatsbudgets im Jahre 1930 gab es eines Tages in der Nachbarschaft des Victoriabahnhofs das achte Weltwunder zu sehn: drei Engländer von ganz verschiedenem Typ, die gleichzeitig in die Betrachtung eines Londoner Denkmals versunken schienen. Sie waren jeder für sich gekommen und standen unweit voneinander in der baumfreien Südwestecke des Platzes, wo der Schein der sinkenden Sonne dieses Frühlingstags sie nicht blendete. Drei Personen – eine junge Dame von etwa sechsundzwanzig Jahren, ein noch jugendlicher Mann von ungefähr vierunddreißig und ein Herr zwischen fünfzig und sechzig. Die schlanke junge Dame, die ganz und gar nicht unintelligent schien, hielt den Kopf seitlich emporgewandt, auf den halbgeöffneten Lippen lag ein leises Lächeln. Der junge Mann war hager, sonnverbrannt und hatte den Gurt seines blauen Mantels eng zusammengezogen, er schien im Frühlingswind zu frösteln. Um seinen Mund grub sich ein verächtlicher Zug, aber in seltsamem Widerspruch dazu hing sein Blick gespannt und ungemein ausdrucksvoll an dem Denkmal. Der hochgewachsene ältere Herr in braunem Anzug und braunen Wildlederschuhen stand, die Hände in den Hosentaschen, müßig da, sein langes, wetterhartes, regelmäßiges Gesicht verriet in seiner starren Ruhe Schlauheit und Skepsis.

Indessen stand das Denkmal – Marschall Foch hoch zu Roß – zwischen den Bäumen, hochragend und still, stiller als alle drei.

«Unser Retter!» bemerkte der junge Mann unvermittelt.

Dieser Verstoß gegen die gesellschaftlichen Formen rief bei den beiden andern verschiedene Wirkung hervor; der ältere Herr zog ein wenig die Brauen hoch und trat einige Schritte vor, augenscheinlich, um die Beine des Pferdes zu prüfen. Die junge Dame wandte sich um und sah dem Sprecher offen ins Gesicht.

«Sind Sie nicht Wilfrid Desert?» fragte sie plötzlich überrascht.

Der junge Mann verneigte sich.

«Dann sind wir einander schon begegnet», erklärte die junge Dame. «Bei Fleur Monts Hochzeit. Erinnern Sie sich noch, Sie waren Trauzeuge, der erste, den ich je zu Gesicht bekam. Ich war erst sechzehn. Sie entsinnen sich meiner wohl kaum – Dinny Cherrell, mein Taufname ist Elizabeth. Im letzten Augenblick mußte ich als Brautjungfer einspringen.»

Der verächtliche Zug um die Lippen des jungen Mannes schwand.

«Ich erinnere mich noch sehr gut an Ihr Haar.»

«Das einzige, was die Leute von mir in Erinnerung behalten.»

«Stimmt nicht! Mir kam damals auch vor, als hätten Sie Botticelli Modell gesessen – auch heute kommt es mir noch so vor.»

‹Seine Augen sind wirklich schön», dachte Dinny, «die ersten, die starken Eindruck auf mich machten.›

Diese Augen hatten sich wieder zum Standbild emporgewandt.

«Tatsächlich unser Retter!» wiederholte Desert.

« Sie waren natürlich auch im Feld?»

«Bei den Fliegern. Hab es gründlich ausgekostet.»

«Gefällt Ihnen das Denkmal?»

«Das Roß.»

«Ein echtes Roß», murmelte Dinny, «nicht wie bei andern Statuen ein gebäumter Rumpf mit Nacken, Nüstern und Gebiß.»

«Das Ganze sieht so handwerksmäßig aus – na, das paßt ja zu Foch.» Dinny runzelte die Stirn.

«Mir gefällt, daß es so ruhig zwischen den Bäumen steht.»

«Wie geht es Michael? Wenn ich nicht irre, sind Sie ja seine Kusine.»

«Michael geht es gut. Noch immer Parlamentsmitglied. Sein Mandat ist todsicher, nicht zu verlieren.»

«Und Fleur?»

«Gedeiht prächtig. Vor einem Jahr bekam sie ein Töchterchen, wissen Sie's?»

«Fleur? Hm! Hat also zwei, wie?»

«Ja. die Kleine heißt Catherine.»

«Seit 1927 war ich nicht mehr zu Hause. Du lieber Himmel! Seit dieser Trauung ist manches Jahr verflossen.»

«Sie waren wohl viel in der Sonne?» fragte Dinny und betrachtete prüfend sein gelbbraunes Gesicht.

«Ohne Sonne kann ich nicht leben.»

«Michael erzählte mir einmal, Sie hielten sich im Orient auf.»

«Stimmt, dort treibe ich mich herum.» Sein Gesicht schien sich noch einen Schatten dunkler zu färben, er schauerte ein wenig zusammen. «Eine Hundekälte – in diesem englischen Frühling!»

«Schreiben Sie noch immer Gedichte?»

«Meine schwache Seite. Sie haben davon gehört?»

«Hab ich gelesen. Am besten gefällt mir der letzte Band.»

«Danke», lächelte er, «Sie verstehn es, einen anzuspornen. So etwas behagt uns Poeten. Wer ist denn dieser hochgewachsene Herr? Sein Gesicht kommt mir bekannt vor.»

Der hochgewachsene Mann, der das Standbild von der andern Seite besehen hatte, kam zurück..

«Den bring ich ebenfalls irgendwie mit Fleurs Trauung in Zusammenhang», murmelte Dinny.

Der hochgewachsene Herr trat auf die beiden zu.

«Die Beine sind nicht besonders gelungen», ließ er sich vernehmen.

«Gott sei Dank, daß ich keine solchen habe!» lächelte Dinny. «Wir zerbrechen uns gerade den Kopf, woher wir Sie kennen. Waren Sie nicht vor einigen Jahren bei Michael Monts Hochzeit?»

«Jawohl. Und wer sind Sie, mein Fräulein?»

«Wir trafen einander dort alle drei. Ich bin Michaels Kusine mütterlicherseits, Dinny Cherrell. Mr. Desert war Trauzeuge.»

Der hochgewachsene Herr nickte.

«So! Ich heiße Jack Muskham, ich bin ein Vetter von Michaels Vater.» Er wandte sich an Desert. «Sie bewundern wohl Marschall Foch?»

«Ich habe ihn bewundert.»

Dinny war über den verbissenen Ausdruck seines Gesichts betroffen.

«Zweifellos war er ein bedeutender Stratege», erklärte Muskham, «seinesgleichen gab es im Weltkrieg nicht viele. Aber mich interessiert hier das Pferd.»

«Das Pferd ist fraglos das Interessanteste», murmelte Dinny.

Mit skeptischem Lächeln gab der hochgewachsene Herr zurück:

«Foch ließ uns nie in der Patsche, dafür schulden wir ihm Dank.»

Plötzlich wandte sich Desert ihm zu.

«Was veranlaßt Sie zu dieser Bemerkung?»

Muskham zuckte die Achseln, zog vor Dinny den Hut und schlenderte davon.

Als er fort war, wurde es still wie über tiefen Wassern.

«Welchen Weg gehen Sie?» fragte Dinny endlich.

«Denselben, den Sie gehen.»

«Verbindlichen Dank, mein Herr! Mein Weg führt in die Mount Street zum Haus meiner Tante.»

«Ausgezeichnet!»

«Sie erinnern sich gewiß an sie, Michaels Mutter, ein reizendes Frauchen. Spricht stets nur im Telegrammstil – einzig in ihrer Art. Man muß sich anstrengen, ihren Gedankensprüngen zu folgen.»

Sie überquerten die Straße und erreichten den Grosvenor Place.

«Sie finden England wohl jedesmal stark verändert, sooft Sie nach Hause kommen – oder ist Ihnen mein Plaudern unangenehm?»

«Reichlich verändert.»

«‹Lieben Sie nicht Ihr Heimatland›, wie die Redensart lautet?»

«Mir graut geradezu vor England.»

«Gehören Sie am Ende auch zu den Leuten, die sich um jeden Preis schlechter machen wollen, als sie wirklich sind?»

«Brächte es gar nicht zuwege. Fragen Sie Michael!»

«Michael und klatschen – unmöglich.»

«Michael lebt wie alle Engel nicht in dieser Welt.»

«Doch», entgegnete Dinny, «Michael steht mit beiden Füßen im wirklichen Leben und ist Engländer durch und durch.»

«Das ist ja eben der Widerspruch in seinem Wesen.»

«Sagen Sie doch, warum ziehn Sie über England los? Das ist nicht besonders originell.»

«Nur Engländern gegenüber zieh ich über England los.»

«Sehr löblich. Warum aber mir gegenüber?»

Desert lachte.

«Weil Sie mir das Idealbild Englands zu verkörpern scheinen.»

«Zuviel der Ehr, mein werter Herr.»

«England ist mir darum so zuwider, weil es sich einbildet, es sei noch immer den andern voraus.»

«Ist denn England nicht wirklich den andern voraus?»

«Allerdings», lautete Deserts überraschende Antwort, «doch es braucht sich drauf nichts einzubilden.»

Dinny dachte:

‹Bruder Wilfrid, du bist ein verdrehtes Huhn,
Deine Zunge ist scharf wie ein Messer.
Was mußt du durchaus auf dem Kopfe stehn?
Gib es auf, dir wäre viel besser.›

In Prosa fuhr sie fort:

«Wenn England ohne vernünftigen Grund an seinem Stolz festhält, dann rührt dieser Stolz vermutlich von einer Art intuitiver Erkenntnis her. Geht nicht auch Ihre Abneigung gegen Mr. Muskham auf eine solche Intuition zurück?» Sie sah ihn an und dachte: ‹Ein wenig plump, meine Frage!›

«Abneigung? Das gerade nicht. Er ist nur der landläufige Typ eines unerschütterlichen Jagd- und Pferdenarren, der mich zu Tode langweilt.»

‹Das ist nicht der wahre Grund›, dachte Dinny und sah ihn noch immer prüfend an. Ein seltsames Gesicht! Unglücklich, voll tiefer Disharmonie; ein guter und ein böser Engel schienen um ihn zu ringen. Doch sein Blick erregte sie noch ebenso wie damals, als sie als sechzehnjähriges Mädchen mit langem Haar bei Fleurs Hochzeit neben ihm gestanden.

«Behagt Ihnen dieses Zigeunern durch den Orient wirklich?»

«Ich muß ruhelos wandern wie der ewige Jude.»

‹Eines Tages›, dachte sie, ‹bring ich dich noch dazu, mir den Grund zu sagen. Doch wahrscheinlich seh ich dich nie wieder.› Und ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken.

«Kennen Sie vielleicht meinen Onkel Adrian? Während des Krieges hielt er sich im Orient auf, jetzt brütet er in seinem Museum über morschen Gebeinen. Kennen Sie am Ende auch Angela Forest? Im vorigen Jahr hat er sie geheiratet.»

«Ich kenne fast niemanden aus der Londoner Gesellschaft.»

«Dann bleibt also Michael unser einziger Berührungspunkt.»

«Ich halte nicht viel von einem Kontakt durch fremde Personen. Wo wohnen Sie, Miss Cherrell?»

Dinny lächelte.

«Hier scheint wohl eine kurze biographische Notiz geboten. Seit Olims Zeiten ist meine Familie auf Schloß Condaford in Oxfordshire erbangesessen, mein Vater ist General im Ruhestand. Ich bin die ältere seiner beiden Töchter, mein einziger Bruder ist Soldat und junger Ehemann, demnächst kehrt er auf Urlaub aus dem Sudan zurück.»

«So!» sagte Desert und sah wieder verbissen drein.

«Ich bin sechsundzwanzig, unverheiratet, aber noch kinderlos. Allem Anschein nach ist es mein Steckenpferd, meine Nase beständig in andrer Leute Angelegenheiten zu stecken. Weiß der Himmel, woher ich das habe! Wenn ich mich in London aufhalte, wohne ich bei Lady Mont in der Mount Street. Ich bin schlicht erzogen, hab jedoch noble Passionen und keine Möglichkeit, sie zu befriedigen. Ich glaube, ich kann einen Spaß verstehn. Nun erzählen Sie

Desert lächelte und schüttelte den Kopf.

«Soll ich es für Sie tun?» fragte Dinny. «Sie sind der zweite Sohn des Lord Mullyon, haben zu viel vom Krieg gesehen, schreiben Gedichte, sind vom Wandertrieb besessen und Ihr eigner Feind; nur das letztere wirkt originell. Da sind wir schon in der Mount Street. Treten Sie doch ein, Tante Emily zu begrüßen.»

«Nein, danke. Aber möchten Sie nicht morgen mit mir lunchen und dann zu einer Nachmittagsvorstellung gehn?»

«Gern. Wo treffen wir uns?»

«Im Dumourieux-Restaurant, um halb zwei.»

Sie wechselten einen Händedruck und schieden. Doch beim Eintritt in das Haus der Tante spürte Dinny in allen Gliedern ein Prickeln, blieb vor der Salontür stehn und lächelte über diese Empfindung.


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