Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX

Als Dinny sich ankleidete, trat ihre Tante ins Zimmer.

«Dinny, dein Onkel hat mir diesen Artikel vorgelesen. Ich bin einfach starr!»

«Worüber, Tante Emily?»

«Über Coltham – aber der ist doch tot.»

«Na, der Artikel dürfte es auch bald sein.»

«Dinny, von wem beziehst du deine Mieder? So bequem.»

«Von Harridge.»

«Dein Onkel sagt, Wilfrid solle aus dem Klub austreten.»

«Wilfrid schert sich keinen Pfifferling um seinen Klub; er wird kaum zehn- oder zwölfmal dortgewesen sein. Aber austreten wird er jetzt nicht, glaub ich.»

«Versuch doch, ihn dazu zu bringen.»

«Fällt mir nicht im Traum ein, ihn zu etwas zu bringen.»

«So peinlich, wenn sie einen schwarz ballotieren.»

«Liebes Tantchen, darf ich zum Spiegel hinüber?»

Lady Mont durchquerte das Zimmer und langte den kleinen Band vom Nachttisch.

«‹Der Leopard›! Dinny, dein Leopard hat aber doch die Flecken gewechselt.»

«Keine Spur, Tantchen, er hat nie welche gehabt.»

«Die Taufe und so weiter.»

«Wenn die Taufe etwas zu bedeuten hätte, wär es eine Gewalttat, sie an Kindern zu vollziehn, die noch gar nicht wissen, worum es sich dabei handelt.»

«Dinny!»

«Ich spreche im Ernst. Man darf doch niemanden zu etwas zwingen, das ist einfach unanständig. In dem Augenblick, da Wilfrid selbständig zu denken begann, glaubte er an keine Religion mehr.»

«Hier handelt es sich nicht um die Preisgabe der einen Religion, sondern um das Bekenntnis zur andern.»

«Das weiß er.»

«Nun», sagte Lady Mont und wandte sich der Tür zu, «dem Araber geschah es recht, diesem zudringlichen Kerl! Möchtest du den Haustorschlüssel? Blore soll dir einen geben.»

Dinny kleidete sich rasch fertig an und lief die Treppe hinab. Sie traf Blore im Speisezimmer.

«Tante Emily sagt, ich kann einen Schlüssel haben, Blore. Und, bitte, bestellen Sie mir ein Taxi.»

Der Kammerdiener rief den Autostandplatz an, zog einen Schlüssel hervor und sagte: «Da die gnädige Frau laut zu denken pflegt, mußte ich früher oder später von Ihrer Angelegenheit erfahren, Miss. Heut morgen erst sagte ich zu Sir Lawrence: ‹Wenn Miss Dinny ihn nur dazu bewegen könnte, sofort mit ihr eine Partie in die schottischen Berge zu machen, wo sie keine Zeitungen zu Gesicht bekommen! Das tät ihnen eine Menge Ärger ersparen.› Heutzutage, Miss, löst ein Ereignis das andre ab, wie Sie wohl bemerkt haben dürften, und die Leute haben lang nicht mehr ein so gutes Gedächtnis wie früher. Verzeihn Sie, daß ich drüber spreche.»

Dinny nahm den Schlüssel.

«Herzlichen Dank, Blore!»

«Heutzutage, Miss, kann eine junge Dame alles tun, solang sie nur Dame bleibt.»

«Männer müssen auch heutzutage noch auf der Hut sein, Blore.»

«Freilich, Miss, die Verwandten machen Schwierigkeiten, doch ließe sich das schon irgendwie ordnen.»

«Wir werden eben durchhalten müssen.»

Der Kammerdiener schüttelte den Kopf.

«Der Mann, der diese Redensart aufbrachte, hat meiner Meinung nach eine Menge unnützen Verdruß auf dem Gewissen. Da ist das Auto, Miss.»

Im Taxi lehnte Dinny sich ein wenig vor und ließ die Luft von beiden Fenstern her kühlend über ihre Wangen streichen. Selbst ihr Ärger und Kummer über die Kritik schwanden hin. An der Ecke der Piccadilly las sie ein Zeitungsplakat: ‹Ankunft der Pferde zum Derby.› Morgen fand das Derby statt! Wie sehr hatte sie den Zusammenhang mit den Ereignissen des Tages verloren. Das Lokal, in dem sie gemeinsam das Abendessen nehmen wollten, war Blafards Restaurant im Soho-Viertel; der Straßenverkehr vor dem ‹Nationalfeiertag› hemmte ihr Taxi am Vorwärtskommen. Vor der Tür stand Stack, den Wachtelhund an der Leine. Er überreichte ihr einen Brief. «Mr. Desert schickt mich mit dieser Nachricht, Miss. Den Hund hab ich zu einem Spaziergang mitgenommen.»

Dinny riß den Umschlag auf und fühlte sich dabei ganz elend vor Erregung.

‹Liebste Dinny,

verzeih, daß ich heut abend nicht komme. Den ganzen Tag über wußte ich nicht, wo aus und wo ein. Solange mir nicht klar ist, wie ich in den Augen der Welt dastehe, darf ich Dich, das fühle ich deutlich, um keinen Preis irgendwie in diese Affäre hineinziehn; eine gemeinsame Fahrt, wie die geplante, mußte ich also unbedingt vermeiden. Vermutlich hast Du den Artikel im ‹Tagesfunk› gelesen – der erste Streich. Die nächste Woche möchte ich ganz allein verbringen, mich über meine Lage orientieren. Ich brenne nicht durch, wir können einander schreiben. Du wirst mich gewiß verstehn. Der Hund ist eine Wohltat, Dir verdank ich ihn. Für ein paar Tage leb wohl, Liebste

Dein

W. D.›

Dinny bot ihre ganze Selbstbeherrschung auf, um nicht vor den Augen des Chauffeurs die Hand aufs Herz zu pressen. So mitten im Kampf von ihm abgeschnitten zu werden, das hatte sie ja die ganze Zeit her im stillen gefürchtet! Mühsam suchte sie das Beben ihrer Lippen zu meistern, rief dem Chauffeur zu: «Warten Sie einen Augenblick!» und wandte sich an Stack.

«Ich bringe Sie und Foch nach Hause.»

«Danke, Miss!»

Von Entsetzen gepackt, beugte sie sich zu dem Hund nieder. Der Hund! Ein Band zwischen ihnen.

«Heben Sie Foch in den Wagen, Stack.»

«Ist Mr. Desert zu Hause?» fragte sie unterwegs ruhig.

«Nein, Miss, er gab mir diesen Brief und ging fort.»

«Ist er wohlauf?»

«Ein wenig unruhig, scheint mir, Miss. Ich muß schon sagen, diese Herren vom ‹Tagesfunk› möcht ich gern Mores lehren!»

«So? Sie haben also die Besprechung gelesen?»

«Jawohl. So was sollt nicht erlaubt sein, mehr sag ich nicht.»

«Freie Meinungsäußerung», erklärte Dinny. Der Hund preßte die Schnauze an ihr Knie. «Führt Foch sich brav auf?»

«Tadellos, Miss. Ein Gentleman, dieser Hund, nicht wahr, Bursche?»

Der Hund preßte noch immer die Schnauze an Dinnys Knie und die Berührung tat ihr wohl.

Als das Auto in der Cork Street hielt, zog Dinny einen Bleistift aus der Tasche, riß von Wilfrids Brief das leere Blatt ab und schrieb:

 

‹Liebster!

Wie Du willst. Aber eins sollst Du wissen: Ich bin allzeit Dein. Nichts kann oder wird mich von Dir trennen, außer Du liebst mich nicht mehr.

Deine
Dinny

Aber das ist doch nicht wahr, gelt, das ist nicht wahr? Bitte, sag nein!›

 

Sie legte das Blatt in den Umschlag, schloß ihn, so gut es gehn wollte, zu und hielt ihn so lang in der Hand, bis das Gummi klebte. Dann überreichte sie Stack den Brief, küßte den Hund auf den Kopf und befahl dem Chauffeur: «Mount Street, bitte, Ecke Hydepark. Gute Nacht, Stack!»

«Gute Nacht, Miss!»

Dinny mußte das Gesicht abwenden, Mund und Augen des unbeweglichen Dieners verrieten so tiefes Verstehn. Das also war das Ende dieses Abends, auf den sie sich so sehr gefreut hatte!

Von der Mount Street ging sie in den Park hinüber und nahm auf einer Bank Platz, auf der sie früher mit Wilfrid gesessen. Sie dachte gar nicht dran, daß sie ohne Hut, ohne Begleiter, im Abendkleid dort saß; und dabei war es schon nach acht. Den Kragen des Mantels hatte sie hochgeschlagen, so daß er ihr kastanienbraunes Haar halb verhüllte, und sie versuchte, sich in Wilfrids Lage hineinzudenken. Sie kannte seinen Beweggrund nur zu gut – Stolz! Stolz besaß sie selber, drum konnte sie Wilfrid verstehn. Andere nicht in das eigene Unglück hineinzuziehn, das war wohl das Hauptgebot solchen Stolzes. Und je lieber man die andern hatte, um so weniger durfte man sie in Mitleidenschaft ziehn. Seltsame Ironie des Schicksals, daß die Liebe die Menschen gerade dann voneinander trennte, wenn sie einander am dringendsten brauchten! Und dabei nirgends ein Ausweg. Leise schlugen die Klänge der Militärkapelle an ihr Ohr. Was spielte sie nur? Faust? Nein – Carmen! Wilfrids Lieblingsoper! Sie erhob sich und schritt über den Rasen der Musik zu. Was für ein Gedränge! Etwas abseits, bei einigen Rhododendren ließ sie sich auf einen Stuhl nieder. Die Habanera! Wie erschauerte man stets bei ihrem Anfang! Wie wild und jäh brach doch die Liebe herein, wie seltsam, wie unentrinnbar! ‹Die Liebe von Zigeunern stammt› …! Spät blühten heuer die Rhododendren. Hier diese tief rosa Blüte! In Condaford hatten sie die gleiche Art … Wo mochte Wilfrid jetzt sein? Ach, wo war er nur in diesem Augenblick? Warum drang die Liebe nicht durch Zeit und Raum? Warum konnte sie nicht im Geist neben ihm wandern, ihre Hand in der seinen! Immer noch besser eine Geisterhand als gar keine! Und plötzlich empfand Dinny die ganze schwere Last der Einsamkeit, wie nur wahrhaft Liebende sie fühlen können, wenn sie sich ein Leben ohne den Geliebten vorstellen. Wie eine Blume, die ungepflückt welkte, so würde auch sie dahinwelken, ohne ihn! ‹Ich muß mich allein durchbeißen!› Wie lang er das von ihr wollte? Immer? Bei diesem Einfall fuhr sie auf. Ein Vorübergehender blieb stehn, er dachte wohl, diese Bewegung gelte ihm, doch ihr Blick belehrte ihn eines Bessern, und er schritt weiter. Noch zwei Stunden mußte sie totschlagen, ehe sie nach Hause konnte; ihre Leute durften nicht erfahren, wie kläglich dieser Abend für sie ausgegangen war. Eben beendete die Kapelle ‹Carmen› mit dem Triumphgesang des Toreadors – jener so ungemein populären Melodie, dem Schwächsten an dieser Oper. Doch nein, es war nicht schwach, nicht banal, sollte nur die Hörer über den Jammer des tragischen Ausgangs hinwegtäuschen, wie ja der Lärm der Welt immer die Leidenschaft der Liebenden verschlang. Und auf dieser grausamen, herzlosen Bühne des Lebens stelzte man einsam einher, oder klammerte sich heimlich in einem dunklen Winkel aneinander … Wie seltsam der Applaus im Freien wirkte! Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Halb zehn! Noch eine Stunde, bis es völlig dunkel war. Jetzt wurde es hier schon empfindlich kühl, ein leiser Duft stieg aus den Gräsern und Blättern auf, langsam verschwamm die Farbe der Rhododendronblüten, das Abendlied der Vögel war verstummt. Immer wieder kamen Leute vorbei, sie schienen ebensowenig etwas Auffallendes an Dinny zu finden, wie Dinny an ihnen. ‹Mich wundert gar nichts mehr›, dachte sie; ‹heut abend hab ich noch nichts gegessen.› Ein Kaffeeschank? Die waren wohl schon geschlossen. Aber es mußte doch eine Menge Lokale geben, wo man auch um diese Stunde noch etwas zu essen bekam. Kein Abendessen, kaum einen Bissen zu Mittag, keinen Tee – für einen Liebeskranken gerade das Rechte! Dinny wanderte gegen Knightsbridge, schnellen Schritts, mehr aus Instinkt denn aus Erfahrung – um diese Zeit war sie noch nie in London allein herumspaziert. Ohne Zwischenfall kam sie beim Tor an, überquerte den Fahrdamm und wanderte die Sloane Street hinab. Beim Gehn fühlte sie sich bedeutend wohler und vermerkte sich im stillen das Rezept: ‹Gegen Liebeskummer – zu Fuß gehn!› In dieser geraden, nun fast menschenleeren Straße schien niemand auf sie zu achten. Die sorgsam versperrten Häuser mit den herabgelaßnen Rollvorhängen und den schmalen, steifen, hohen Straßenfronten bewiesen offenbar den kühlen Gleichmut der Welt gegen die Sehnsucht solch nächtlicher Spaziergänger, wie sie einer war. An der Ecke der Kings Road stand ein Straßenmädchen.

«Bitte, könnten Sie mir nicht irgendein Lokal in der Nähe sagen, wo man etwas zu essen bekommt?» fragte Dinny.

Wie sie jetzt gewahrte, hatte die Angesprochene ein ziemlich breites Gesicht mit hohen Backenknochen, die ebenso wie die Augen recht auffällig hergerichtet waren. Die Lippen schienen gutmütig, ein wenig dick, die Nase gleichfalls ziemlich fleischig; die Augen sahen aus, als hätten sie gar nichts mit der Seele zu schaffen – das kam wohl daher, daß sie bald eisig, bald lockend blicken mußten. Sie trug ein dunkles Kleid, das ihre weiblichen Reize zur Geltung brachte, und eine breite Kette falscher Perlen.

Dinny konnte sich des Gedankens nicht erwehren, sie sei auch schon in der Gesellschaft Damen begegnet, die mit dieser Frau eine gewisse Ähnlichkeit hatten.

«Dort links ist ein nettes, kleines Lokal.»

«Möchten Sie nicht mitkommen und eine Kleinigkeit essen?» fragte Dinny impulsiv.

«Und ob! Von Herzen gern!» erwiderte das Mädchen. «Aufrichtig gestanden, ich ging heut ohne einen Bissen vom Haus fort. Auch ist es nett, nicht allein sein zu müssen.» Sie bog in die Kings Road, und Dinny schritt neben ihr hin. Plötzlich fuhr es Dinny durch den Sinn, welch seltsamen Eindruck es wohl machen würde, wenn ein Bekannter sie jetzt zufällig in solcher Gesellschaft träfe. Dennoch fühlte sie sich wohler.

‹Um Himmels willen›, dachte sie, ‹benimm dich natürlich und frag sie nicht aus!›

Das Mädchen führte sie in ein kleines Restaurant, oder vielmehr in ein Wirtshaus, denn das Lokal hatte auch einen Schank. Das wenig geräumige Eßzimmer, in das ein eigner Eingang führte, war ganz leer. Die beiden nahmen an einem kleinen Tisch Platz, auf dem Essig und Öl standen, eine Glocke, eine Flasche mit Worcester Sauce und eine Vase mit ein paar welken Feuerblumen, die wohl nie ganz frisch gewesen. Ein schwacher Essiggeruch lag in der Luft.

«Gegen eine Zigarette hätt ich nichts einzuwenden», bemerkte das Mädchen.

Dinny hatte keine im Täschchen. Sie schwang die Glocke.

«Eine bestimmte Sorte?»

«Die billige.»

Eine Kellnerin erschien, warf einen Blick auf das Mädchen, einen auf Dinny und fragte: «Bitte?»

«Ein Päckchen Zigaretten, Marke Player. Für mich eine große Tasse Kaffee, frisch und stark, dazu Kuchen oder irgendein Gebäck. Was möchten Sie?»

Das Mädchen sah Dinny erst prüfend an, als wollte sie ihre Zahlungsfähigkeit ergründen, dann die Kellnerin und sagte zögernd: «Ehrlich gestanden, ich hab Hunger. Kaltes Roastbeef und eine Flasche Schwarzbier?»

«Gemüse?» fragte Dinny. «Salat?»

«Gut, Salat, danke.»

«Bravo! Und eingelegte Walnüsse? Bitte, bringen Sie alles so rasch wie möglich.»

Die Kellnerin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, nickte und verschwand.

«Meiner Treu!» rief das Mädchen plötzlich, «wirklich zu nett von Ihnen!»

«Von Ihnen war es nett, mitzukommen. Ohne Sie hätt ich mich jetzt ein wenig verlassen gefühlt.»

«Die Kellnerin da kann das nicht begreifen!» meinte das Mädchen und wies mit einer Kopfbewegung nach der Tür. «Und aufrichtig gestanden, ich auch nicht.»

«Warum? Wir sind doch beide hungrig.»

«Ich ganz gewiß. Sie sollen sehn, was ich vertilgen werd. Bin froh, daß Sie eingelegte Walnüsse bestellt haben, ich kann Essigzwiebeln nicht widerstehn, und sie bekommen mir nicht.»

«Ich hätt auch an Cocktails denken können», murmelte Dinny, «aber vielleicht kriegt man hier keine.»

«Ein Sherry mit einem Bittern wär nicht zu verachten. Ich hol ihn.» Das Mädchen stand auf und verschwand im Schankzimmer.

Dinny benützte diese Gelegenheit, sich die Nase zu pudern. Auch ließ sie heimlich die Hand zum Mieder gleiten, in dem sie ihre Beute aus der South Molton Street verwahrt trug, und zog eine Fünfpfundnote hervor. Sie fühlte sich traurig und seltsam erregt.

Das Mädchen kam mit zwei Gläsern zurück. «Ich hab ihr gesagt, sie soll es auf die Rechnung setzen. Der Schnaps ist hier famos.»

Dinny hob ihr Glas und nippte daran. Das Mädchen stürzte es auf einen Zug hinunter.

«Ah! Das tut wohl! Stellen Sie sich nur vor: ein Land, wo man keinen Alkohol kriegen kann!»

«Aber man kann doch welchen bekommen und bekommt ihn auch.»

«Todsicher! Soll aber mitunter ein scheußliches Gesöff sein.»

Dinny sah den Blick des Mädchens mit unersättlicher Neugier immer wieder über ihren Mantel, ihr Kleid und Gesicht gleiten.

«Verzeihn Sie», fragte das Mädchen unerwartet, «haben Sie eine Verabredung?»

«Nein, ich geh dann heim.»

Das Mädchen seufzte. «Wenn sie nur schon die verfluchten Zigaretten brächte!»

Da erschien die Kellnerin wieder und stellte eine Flasche Schwarzbier und Zigaretten vor sie hin. Verwundert glotzte sie auf Dinnys Haar und öffnete die Flasche.

«Fein!» rief das Mädchen nach einem langen Zug an der Zigarette. «Ah, das tut wohl!»

«Das andre kommt in einer Minute», versicherte die Kellnerin.

«Ich hab Sie noch nie auf der Bühne gesehn oder doch?» fragte das Mädchen.

«Nein, ich bin nicht beim Theater.»

Ein Schweigen trat ein, das durch das Auftragen des Essens unterbrochen wurde. Der Kaffee war besser als Dinny erwartet hatte und sehr heiß. Sie trank ihn fast zu Ende und aß ein großes Stück Pflaumenkuchen dazu. Das Mädchen steckte eine eingelegte Walnuß in den Mund und hob wieder an:

«Wohnen Sie in London?»

«Nein, in der Grafschaft Oxfordshire.»

«Ach ja, ich hab das Land auch gern, aber jetzt krieg ich es nie mehr zu sehn. In der Nähe von Maidstone bin ich aufgewachsen – hübsche Umgebung.» Ein Seufzer entrang sich ihr und gleichzeitig strömte sie einen Biergeruch aus. «Die Kommunisten in Rußland, heißt's, hätten die Prostitution abgeschafft – ist das nicht ein Blödsinn? Ein amerikanischer Journalist hat mir's erzählt. Ach ja! Hätt mir nie gedacht, daß sich das Budget so auswirkt», fuhr sie fort, stieß eine Rauchwolke aus und schien sich offenbar eine Last von der Seele zu reden: «Grauenhaft, diese Arbeitslosigkeit!»

«Das trifft, scheint mir, jeden.»

«Mich ganz gewiß», und sie stierte dumpf vor sich hin. «Schockiert Sie wohl, nicht wahr?»

«Heutzutag muß man schon etwas ganz Besonderes tun, um die Leute zu schockieren, meinen Sie nicht auch?»

«Unsereins schockiert doch. Bischöfe geben sich mit mir nicht ab.»

Dinny lachte.

«Und doch», erklärte das Mädchen entschieden, «traf ich einmal einen Pfarrer, der gab mir den besten Rat, den ich je erhielt. Natürlich konnt ich ihn nicht befolgen.»

«Was wetten wir», sagte Dinny, «daß ich seinen Namen kenne? Cherrell.»

«Donnerwetter!» rief das Mädchen und riß erstaunt die Augen auf.

«Mein Onkel!»

«Wahrhaftig! Na, ist das eine närrische Welt! Und gar nicht einmal so groß, wie man meinen sollt. War ein lieber Mann», fügte sie hinzu.

«Ist er noch.»

«Einer von den Besten.»

Dinny hatte diese unvermeidlichen Worte erwartet und dachte: ‹Da wären wir ja glücklich an dem Punkt angelangt, wo der Sermon «Meine arme irrende Schwester» loszugehn pflegt.›

Das Mädchen seufzte gesättigt.

«Hat mir fein geschmeckt», sagte sie und erhob sich. «Vielen, vielen Dank, jetzt muß ich gehn, sonst versäum ich noch mein Geschäft.»

Dinny schwang wieder die Glocke. Die Kellnerin war verdächtig rasch zur Stelle.

«Die Rechnung, bitte. Können Sie mir diese Note wechseln?»

Mit einer gewissen Vorsicht nahm die Kellnerin die Banknote entgegen.

«Ich will mich nur noch rasch zurecht machen», sagte das Mädchen, «bin in einer Minute wieder hier.» Sie ging zur Tür hinaus.

Dinny trank den Rest ihres Kaffees aus. Sie versuchte sich das Leben auszumalen, das dieses Mädchen führen mochte. Die Kellnerin kam mit dem Wechselgeld zurück, nahm das Trinkgeld in Empfang, sagte: «Danke, Miss!» und ging. Dinny versuchte neuerlich, sich jenes Leben vorzustellen.

«Nun», sprach die Stimme des Mädchens hinter ihr, «ich seh Sie vermutlich mein Lebtag nicht wieder. Doch ich möcht Ihnen nur sagen, ich halte Sie für einen seelenguten Menschen.»

Dinny sah zu ihr auf.

«Sie sagten vorhin, Sie seien ohne einen Bissen vom Haus fortgegangen. Heißt das, daß Sie kein Geld bei sich hatten?»

«Selbstverständlich», erwiderte das Mädchen.

«Dann nehmen Sie, bitte, das Kleingeld. Es ist schrecklich, in London ohne Geld dazustehn.»

Das Mädchen biß sich auf die Lippe. Dinny sah, wie es um ihren Mund zuckte.

«Ich mag nicht gern Ihr Geld nehmen», erklärte sie, «Sie sind so gut zu mir gewesen.»

«Unsinn! Bitte, nehmen Sie's doch!» Dinny ergriff ihre Hand und drückte das Geld hinein. Zu ihrem Entsetzen stieß das Weibsbild ein Schluchzen aus. Dinny wollte schon zur Tür laufen, da sagte das Mädchen:

«Wissen Sie, was ich jetzt tu? Ich geh heim und schlaf mich tüchtig aus. Herrgott, das tu ich wirklich!»

Dinny eilte zur Sloane Street zurück. Als sie an den hohen verhängten Fenstern vorbeikam, stellte sie mit einem Gefühl der Dankbarkeit fest, daß ihr Liebesleid sie jetzt weit weniger bedrückte. Wenn sie nicht allzu rasch ging, kam sie wohl nicht so bald in der Mount Street an. Jetzt war es Nacht, trotz des Lichtnebels über der Stadt funkelten die Sterne am Himmel. Sie betrat den Hydepark nicht wieder, sondern schritt außen am Gitter entlang. Eine endlose Zeit schien ihr vergangen, seit sie von Stack und dem Hund in der Cork Street Abschied genommen. Als sie in die Park Lane bog, wurde der Straßenverkehr immer stärker. Morgen fuhren alle diese Autos gewiß zum Derby nach Epsom hinaus, die Stadt würde fast leer sein. Mit jähem Schmerz dachte sie, wie leer die Stadt ihr jetzt immer scheinen würde, wenn sie Wilfrid nicht sehn oder nach ihm ausspähn könnte. Sie kam zum Parktor, ging nah an dem ‹gebäumten Rumpf› vorbei und sah plötzlich Wilfrid dort stehn. War denn dieser ganze Abend nur ein böser Traum gewesen? Da stockte ihr der Atem, sie lief vorwärts. Wilfrid streckte die Arme aus und zog sie an sich.

Dieser Augenblick konnte nicht länger währen, denn Autos und Fußgänger strömten zum Tor hinein und heraus. Arm in Arm schritten die beiden der Mount Street zu. Dinny schmiegte sich stumm an ihn und auch er fand keine Worte. Doch schon der bloße Gedanke, er sei hierhergekommen, um in ihrer Nähe zu sein, war ihr solch unsagbarer Trost!

Sie begleiteten einander, gingen vor und zurück, am Haus vorbei, wie ein Stubenmädchen und ein Diener in einer freien Viertelstunde. Stand und Vaterland, Glaube und Sitte – alles war vergessen. Und unter den sieben Millionen Bewohnern Londons gab es vielleicht kein zweites Paar, das sich in diesen wenigen Minuten mehr bewegt, mehr eins gefühlt hätte als diese beiden.

Endlich erwachte in Dinny der Sinn fürs Komische.

«Liebster, wir können uns doch nicht die ganze Nacht so heimbegleiten. Einen Kuß! – noch einen! – einen Kuß! – und noch – einen Kuß!»

Sie lief die Stufen zur Haustür empor und drehte den Schlüssel um.


 << zurück weiter >>