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XVIII

Nach der Heimkehr des Generals herrschte in Condaford Ärger und unruhige Stimmung. Dinny hatte versprochen, sie komme Samstag zurück, doch jetzt, am Mittwoch, war sie noch immer in London. Ihre Erklärung, sie sei nicht offiziell verlobt, schien den Ihren nur ein geringer Trost, denn der General hatte hinzugefügt: «Ein Beschwichtigungsmittel, nichts weiter.» Als Lady Cherrell in ihn drang, ihr doch genau zu erzählen, was vorgefallen war, gab er nur wortkarg Antwort.

«Desert tat kaum den Mund auf, Lizzy», sagte er. «Zugegeben, er benahm sich höflich und so weiter. Wie ein Auskneifer sieht er übrigens nicht aus. Seine Qualifikation im Krieg war ausgezeichnet. Unerklärliche Geschichte!»

«Kennst du seine Gedichte, Conway?»

«Nein. Wo sind sie?»

«Dinny hat sie irgendwo. Sie sind sehr bitter. Das sind ja so viele Schriftsteller. Doch ich fände mich gern mit allem ab, könnte ich nur hoffen, daß Dinny mit ihm glücklich wird.»

«Dinny sagt, er werde demnächst ein Gedicht über diese Affäre veröffentlichen. Muß ein eitler Geck sein.»

«Das sind Dichter ja zumeist.»

«Wenn ich doch nur jemanden wüßte, der auf sie Einfluß hat! Hubert erklärt, er habe jeden Kontakt mit ihr verloren. Jedenfalls hinge über dieser Ehe ein trüber Schatten!»

«Manchmal glaub ich», murmelte Lady Cherrell, «wir in unserm abgeschiedenen Condaford wissen gar nicht mehr, was draußen in der Welt Schatten wirft und was nicht.»

«Diese Geschichte wirft einen», sagte der General mit Nachdruck. «In den Augen aller, die etwas bedeuten.»

«Wer bedeutet denn heutzutage noch etwas?»

Der General schwieg, dann erwiderte er überlegen:

«England ist im Grund genommen auch heute noch aristokratisch. Alles, was die Staatsmaschine in Gang hält, geht von den höhern Ständen aus. Noch immer beherrschen Tradition und Pflichttreue die Gesellschaft, mögen die Sozialisten schwatzen, was sie wollen.»

Lady Cherrell schien über diesen Redestrom ganz erstaunt.

«Nun ja», gab sie zurück, «was fangen wir aber mit Dinny an?»

Der General zuckte die Achseln.

«Warten wir, bis es irgendwie zu einer Krise kommt. Eine ungehorsame Tochter zu enterben, ist längst nicht mehr modern; übrigens haben wir sie ja viel zu lieb. Natürlich sollst du mit ihr sprechen, Lizzy, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet …»

Zwischen Hubert und Jeanne verlief die Unterredung über diesen Punkt wesentlich anders.

«Bei Gott, Jeanne, ich wollte, Dinny hätte deinen Bruder gewählt!»

«Alan hat die Geschichte verwunden. Gestern bekam ich einen Brief von ihm. Augenblicklich befindet er sich in Singapore. Wahrscheinlich hat er dort irgendeine Flamme. Hoffentlich keine verheiratete Frau. Im Orient gibt es so wenige Mädchen.»

«Ich glaub nicht, daß Alan sich mit der Frau eines andern einläßt. Vielleicht hat er dort eine Eingeborene; die Malaienmädchen sollen oft sehr hübsch sein.»

Jeanne schnitt eine Grimasse.

«Eine Malaiin – Ersatz für Dinny!»

Bald darauf murmelte sie: «Hubert, diesen Mr. Desert möcht ich kennenlernen. Dem könnt ich schon noch beibringen, was die Leute von ihm denken werden, wenn er Dinny ins Unglück stürzt.»

«Bei Dinny mußt du die Sache mit großer Vorsicht anpacken.»

«Falls ich das Auto haben kann, fahr ich morgen nach London und bespreche mich mit Fleur. Die muß ihn doch ziemlich genau kennen, er war ja Michaels Trauzeuge.»

«Ich würde lieber Michael zu Rate ziehn; aber um Himmels willen, Liebste, Vorsicht!»

Jeanne, die die Ausführung ihrer Pläne nie lang hinausschob, stahl sich am nächsten Morgen, während die andern noch schliefen, mit dem Auto davon und traf Schlag zehn auf dem South Square im Westminster-Viertel ein. Michael war offenbar in seinen ländlichen Wahlkreis gefahren.

«Je sichrer das Mandat», erklärte Fleur, «um so mehr glaubt Michael, sich um seine Wähler kümmern zu müssen. Der Dankbarkeitskomplex, verstehst du? Was kann ich für dich tun?»

Jeannes langbewimperte Augen glitten von dem Fragonard, den sie eben betrachtet hatte, zu Fleur hinüber; vielleicht schien er ihr zu französisch. Fleur fuhr fast entsetzt in die Höhe. Dieses temperamentvolle Weib glich in der Tat einer Leopardin!

«Fleur, es handelt sich um Dinny und ihren Bräutigam. Vermutlich weißt du, was ihm dort drüben passiert ist?»

Fleur nickte.

«Läßt sich denn gar nichts dagegen tun?»

Ein wachsamer Ausdruck trat in Fleurs Züge. Sie war neunundzwanzig, Jeanne dreiundzwanzig, doch hier half es wohl nichts, Alter und Würde hervorzukehren!

«Ich hab Wilfrid schon lang nicht gesehn.»

«Dem wird bald jemand kräftig die Wahrheit sagen müssen, wenn er Dinny in diese Patsche bringt.»

«Weshalb Patsche? Das steht für mich durchaus nicht so fest, selbst wenn er sein Gedicht erscheinen läßt. Den Leuten gefällt die rebellische Ader.»

«Fleur, du bist nie im Orient gewesen.»

«Doch! Ich hab eine Reise um die Welt gemacht.»

«Das ist durchaus nicht dasselbe.»

«Verzeih, Liebe», erwiderte Fleur, «aber die Cherrells sind ungefähr dreißig Jahre hinter der Zeit zurück.»

«Ich bin keine Cherrell.»

«Nein, du bist eine Tasburgh, das ist noch um einen Grad schlimmer. Pfarrhäuser auf dem Lande, Kavallerie, Marine, indischer Staatsdienst – wer kümmert sich heutzutag noch viel um diese Dinge?»

«Alle, die zu diesen Kreisen gehören. Und Desert gehört dazu und Dinny auch.»

«Wer wirklich liebt, gehört nirgendwohin», meinte Fleur. «Hast du dich vielleicht einen Pfifferling drum gekümmert, als Hubert unter Mordanklage stand? Du hast ihn trotzdem geheiratet.»

«Das ist etwas andres. Hubert hatte nichts verbrochen, dessen er sich zu schämen brauchte.»

Fleur lächelte.

«Standesgemäß. Was hast du drauf zu erwidern, wenn ich dir erkläre, daß mindestens fünfundneunzig Prozent der modernen Städter gelangweilt gähnen würden, sobald du sie auffordertest, über Wilfrid den Stab zu brechen? Und achtundneunzig Prozent haben in vierzehn Tagen die ganze Geschichte vergessen.»

«Glaub ich dir nicht», erklärte Jeanne.

«Du kennst eben nicht die moderne Gesellschaft, meine Liebe.»

«Grade die moderne Gesellschaft», erklärte Jeanne noch nachdrücklicher, «hat nichts zu bedeuten.»

«Freilich bedeutet sie nicht viel; aber wer bedeutet denn heute überhaupt etwas?»

«Wo wohnt er?»

Fleur lachte.

«In der Cork Street, gegenüber der Bildergalerie. Du willst ihm doch nicht gar auf die Bude rücken?»

«Vielleicht.»

«Wilfrid kann beißen.»

«Danke für die Auskunft. Jetzt muß ich gehn.»

Fleur sah die junge Frau bewundernd an. Das Blut war Jeanne in die Wangen gestiegen und dieses Rot ließ ihr braunes Gesicht noch lebensfrischer erscheinen.

«Adieu, meine Liebe! Komm doch wieder und erzähl mir, was du ausgerichtet hast; ich weiß ja, du hast verteufelt viel Mut.»

«Mir ist ja noch gar nicht klar, ob ich hingehn werde», erwiderte Jeanne. «Leb wohl!»

Ziemlich verärgert fuhr sie am Parlament vorbei. Fleurs weltweise Reden hatten ihr tatkräftiges Naturell nur gereizt. Immerhin war es vielleicht doch nicht so ganz einfach, wie sie sich's vorgestellt, vor Wilfrid Desert hinzutreten und ihm zu sagen: ‹Halt! Gib mir meine Schwägerin zurück!› Dennoch fuhr sie zur Pall Mall, stellte das Auto unfern vom ‹Parthenaeum-Klub› ein und schritt die Piccadilly entlang. Die Vorübergehenden, besonders die Männer, drehten sich nach ihr um, so stark wirkten die wundervolle Anmut ihrer Gestalt und ihre frischen, lebensprühenden Farben. Sie hatte keine Ahnung, wo die Cork Street war, sie wußte nur, sie lag in der Nähe der Bond Street. Und als sie die richtige Straße erreicht hatte, ging sie ein paarmal auf und ab, ehe sie die Galerie erspähte.

‹Es muß das Haus gegenüber sein›, dachte sie. Unschlüssig stand sie vor der Haustür, die kein Namensschild trug; da kam ein Mann, der einen Hund an der Leine führte, die Stufen hinauf und blieb neben ihr stehn.

«Sie wünschen, Miss?»

«Ich bin Mrs. Hubert Cherrell. Wohnt hier Mr. Desert?»

«Jawohl, gnädige Frau. Doch ich weiß nicht, ob Sie ihn jetzt sprechen können. Hierher, Foch, braver Kerl! Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen, frag ich an.»

Eine Minute später stand Jeanne Wilfrid gegenüber und würgte ihre Bedenken entschlossen hinunter. ‹Ach was›, dachte sie, ‹er kann auch nicht ärger sein als eine Versammlung der Pfarrgemeinde, wenn man Geld von ihr will.›

Wilfrid stand am Fenster und zog die Brauen hoch.

«Ich bin Dinnys Schwägerin», erklärte Jeanne. «Verzeihn Sie meinen Besuch, doch ich möchte Sie gern sprechen.»

Wilfrid verneigte sich.

«Hierher, Foch!»

Der Wachtelhund hatte eben Jeannes Rocksaum beschnuppert und gehorchte erst dem zweiten Ruf seines Herrn. Er leckte Wilfrid die Hand und ließ sich hinter ihm nieder. Jeanne war rot geworden.

«Es ist allerdings sehr kühn von mir», fuhr sie fort, «doch ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Wir kamen erst kürzlich aus dem Sudan zurück.»

Wilfrids Miene blieb ironisch, Ironie aber brachte Jeanne stets aus der Fassung.

«Dinny ist noch nie im Orient gewesen», fuhr sie ein wenig stotternd fort.

Wilfrid verneigte sich nochmals. Die Sache verlief am Ende doch nicht so glatt wie eine Gemeindeversammlung.

«Wollen Sie nicht Platz nehmen?» fragte er.

«Oh, danke! Ich geh in einer Minute. Ich wollte Ihnen nur sagen, Dinny kann unmöglich ermessen, was gewisse Dinge dort draußen im Orient bedeuten.»

«Wahrhaftig, daran hab ich auch schon gedacht.»

«Wirklich?»

Kurzes Schweigen; Jeannes Wangen wurden immer röter, Wilfrids Lächeln immer ironischer. Dann sagte er:

«Herzlichen Dank für Ihren Besuch! Wünschen Sie noch etwas?»

«Eh – nichts. Guten Tag!»

Während sie die Treppe hinabging, fühlte sie sich kleiner als je zuvor. Der erste Mann, dem sie auf der Straße begegnete, fuhr erschrocken zurück, ihr Blick hatte ihn wie ein magnetischer Strom durchzuckt. In Brasilien hatte er einmal einen Zitteraal berührt und dabei ein ähnliches, aber weniger vages Gefühl empfunden. Doch seltsam: Trotz ihres Mißerfolgs hegte Jeanne gegen Wilfrid während des Rückwegs zum Auto durchaus keinen Groll. Noch seltsamer: Die Gefahr, in der Dinny schwebte, schien ihr jetzt nicht mehr so groß.

Als sie wieder zum Auto kam, hatte sie eine kleine Auseinandersetzung mit einem Schutzmann, dann fuhr sie heim nach Condaford. Wie der Teufel raste sie drauflos, brachte alle Passanten in Lebensgefahr und war zum Lunch zurück. Sie erklärte, sie habe eine lange Spazierfahrt gemacht, und verriet von ihrem Abenteuer kein Wort. Erst abends, als sie schon im Himmelbett des größten Gastzimmers lag, erzählte sie Hubert:

«Ich bin in London gewesen und hab mit ihm gesprochen. Hubert, ich glaube, Dinny hat keine üble Wahl getroffen. Er hat etwas Anziehendes.»

«Was zum Kuckuck hat das mit jener Geschichte zu tun?» rief Hubert und drehte sich auf dem Ellbogen herum.

«Sehr viel», entgegnete Jeanne. «Red nicht lang, gib mir lieber einen Kuß! …»

 

Als die seltsame junge Besucherin gegangen war, warf sich Wilfrid auf den Diwan und starrte zur Decke empor. Er fühlte sich wie ein General nach siegreicher Schlacht – noch ratloser denn zuvor. Nun hatte er fünfunddreißig Jahre hindurch aus verschiedenen Gründen als ausgesprochener Egoist gelebt und war ganz und gar nicht an die Gefühle gewöhnt, die Dinny vom ersten Augenblick an in ihm erweckt hatte. Das altmodische Wort ‹Anbetung› schien hier kaum angebracht, dennoch fand er keinen passenderen Ausdruck. War er in Dinnys Nähe, dann fühlte er sich ruhig und erquickt, blieb er ihr fern, so war es ihm, als habe man ihm das Herz aus der Brust genommen. Und dabei empfand er immer deutlicher, daß sein junges Glück nicht vollkommen sein könne, wenn nicht auch Dinny ganz glücklich wurde. Sie erzählte ihm stets, sie könne nur in seiner Gegenwart glücklich sein. Doch das war lächerlich, nie und nimmer konnte er ihr für die Interessen und Neigungen Ersatz bieten, die vor ihrer Begegnung beim Fochdenkmal ihr Leben ausgefüllt hatten. Wenn er das aber nicht vermochte, weshalb riß er sie in sein Schicksal mit? Jene junge Frau mit den sonderbaren Augen, die eben hier gewesen, war ihm wie eine Verkörperung dieser Frage erschienen. Ihren Besuch hatte er allerdings abgeschüttelt, jene Frage schien jedoch noch immer in der Luft zu schweben.

Der Wachtelhund, der das Unkörperliche noch deutlicher als sein Herr spürte, ließ die lange Schnauze auf Wilfrids Knie ruhn. Selbst diesen Hund verdankte er Dinny. Er hatte sich der menschlichen Gesellschaft entwöhnt und diese verhängnisvolle Affäre trennte ihn vollends von den Menschen. Wenn er Dinny zur Frau nahm, schnitt er auch sie von der Welt ab. Wäre das anständig?

Doch er hatte ja mit ihr vereinbart, sie in einer halben Stunde zu treffen. Er klingelte.

«Ich geh aus, Stack.»

«Sehr wohl, gnädiger Herr.»

Den Hund an der Leine, wanderte Wilfrid in den Hydepark. Gegenüber dem Kavalleriedenkmal nahm er Platz und überlegte, ob er Dinny von Jeannes Besuch erzählen solle. Da sah er sie kommen.

Rasch schritt sie von der Park Lane her, hatte ihn wohl noch nicht erblickt. Sie schien kaum den Boden zu berühren. Schlank und aufrecht wie eine Gerte – so nannten es doch wohl diese verdammten Romanschreiber? Frisch wie der junge Frühling sah sie drein und lächelte, als habe sie eben etwas Angenehmes erlebt. Noch glaubte sie sich unbeobachtet. Ihr Anblick gab Wilfrid seine Ruhe wieder. Solang sie so froh und sorglos dreinsah, brauchte er sich keinen Kummer zu machen. Bei dem Bronzepferd, das sie unlängst als ‹gebäumten Rumpf› bezeichnet hatte, hielt sie inne, offenbar, um nach ihm auszuspähn. Anmutig wandte sie den Kopf nach allen Seiten, doch ihre Miene war etwas ängstlich geworden. Er erhob sich. Da winkte sie mit der Hand und schritt rasch über den Fahrdamm auf ihn zu.

«Du kommst wohl von einer Sitzung bei Botticelli, Dinny?»

«Nein, vom Pfandleiher. Falls du einen brauchen solltest, empfehle ich dir Frewens in der South Molton Street.»

«Du – beim Pfandleiher?»

«Jawohl, Liebster. Augenblicklich verfüge ich über mehr Geld, als je zuvor im Leben.»

«Wozu brauchst du es?»

Dinny beugte sich nieder und streichelte den Hund.

«Seit ich dich kenne, ermesse ich erst den Wert des Geldes.»

«Wieso?»

«Weil Geldmangel mich nie von dir trennen soll. Wir beide streben jetzt hinaus in die Weite. Nimm doch Foch die Leine ab, Wilfrid. Ich bin überzeugt, er folgt dir.»


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