Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Das Lächeln schwand von ihren Lippen, als sie das Getöse vernahm, das durch die geschlossene Tür an ihr Ohr schlug.

‹Allmächtiger!› dachte sie, ‹Tante Emilys Geburtstagskränzchen! Ich hatte es total vergessen.›

Da hielt jemand plötzlich im Klavierspiel inne, ein Lärmen, Balgen, Stühlerücken auf dem Parkett, ein paar quiekende Schreie, dann neuerdings Klavierspiel.

‹Aha! Musikalische Stühle!› dachte sie und öffnete sacht die Tür. Die gewesene Angela Forest, nunmehr Angela Cherrell, saß vor dem Klavier. Auf acht besondern Stühlen, abwechselnd gen Westen und Osten gekehrt, saßen eine große und acht kleine Gestalten mit hellen Papierhüten; sieben von ihnen sprangen eben auf, zwei jedoch blieben auf einem Stuhle sitzen. Dinny blickte von links nach rechts: Ronald Forest; ein kleiner Chinesenjunge; Tante Alisons Jüngste, die kleine Anne; Tony, Onkel Hilarys Jüngster; Celia und Dingo, die Kinder von Michaels verheirateter Schwester Celia Moriston; Sheila Forest; und auf dem einzigen Sessel Onkel Adrian und Kit Mont. Dinny sah Tante Emily keuchend auf den Kamin zutreten, in großem, violettem Papierhut, und Fleur, die an Ronalds Ende den Stuhl aus der Reihe schob.

«Kit! Steh auf! Du warst draußen.»

Kit blieb unbeweglich sitzen, Adrian erhob sich.

«Schon gut, Junge! Spiel mit deinesgleichen. Los!»

«Hände weg von den Stühlen!» rief Fleur. «Wu Fing, du darfst nicht sitzen bleiben, wenn die Musik aufhört. Dingo, bleib nicht so am letzten Stuhl kleben.»

Plötzlich hielt die Musik inne. Hastiges Laufen, Verwirrung, Geschrei. Anne, die kleinste von allen, blieb stehn.

«Komm, Herzchen!» sagte Dinny, «schlag die Trommel da! Hör auf, sobald die Musik aussetzt. Noch einmal! Paß auf Tante Angela auf!»

Wieder und wieder dasselbe Spiel, bis Sheila, Dingo und Kit allein blieben.

‹Ich setze auf Kit›, dachte Dinny.

Sheila draußen! Weg mit dem Sessel! Dingo, der wie ein kleiner Schotte aussah, und der hellblonde Kit, dem der Papierhut vom Kopf gefallen war, liefen immer wieder rund um den letzten Sessel, beide ließen sich drauf fallen, beide standen wieder auf, Angela sah absichtlich weg, Fleur trat lächelnd zurück, Tante Emily war feuerrot. Da hielt die Musik inne, Dingo plumpste wieder auf den Sessel, Kit blieb allein stehn, puterrot, mit gerunzelter Stirn.

«Kit!» mahnte Fleur, «denk an die Spielregeln!»

Kit warf den Kopf zurück und grub die Hände in die Taschen.

‹Eine Lektion für Fleur!› dachte Dinny.

Da sagte eine Stimme hinter ihr:

«Die Passion deiner Tante für Jungvolk und violette Hüte führt zu seltsamen Rebellionen. Wie wär's, Dinny, wenn wir in meinem Arbeitszimmer Zuflucht suchten?»

Dinny warf einen Blick auf Sir Lawrence Monts vertrocknetes, mageres, etwas spöttisches Gesicht, der kleine Schnurrbart war jetzt ganz weiß, das Haar noch immer nur graumeliert.

«Ich hab hier noch nicht meine Pflicht getan, Onkel Lawrence.»

«Versäum sie. Hohe Zeit, daß du das lernst! Laß die Hölle toben, komm in mein Arbeitszimmer hinunter, dort wollen wir wie zwei gute Christenmenschen plaudern.»

Dinny schwankte; aus angeborener Dienstbereitschaft hätte sie gern noch mitgespielt, da fuhr es ihr durch den Sinn: ‹Ich möchte wirklich gern mit dem Onkel über Wilfrid Desert sprechen!› Sie stand auf und ging mit ihm.

«Woran arbeitest du jetzt, Onkel?»

«Augenblicklich raste ich, Dinny, und lese die Memoiren der Harriet Wilson, einer bemerkenswerten jungen Frau. In den Tagen des Prinzgemahls hatten die Damen der Gesellschaft nicht viel guten Ruf zu verlieren; doch sie tat, was sie konnte. Falls du von ihr noch nichts wissen solltest: Sie hielt die Liebe hoch und hatte eine ganze Reihe Liebhaber, doch nur einen hatte sie wirklich lieb.»

«Und dennoch glaubte sie an die Liebe?»

«Sie war ein gutherziges Frauenzimmer, die Männer waren in sie vernarrt. Ein himmelweiter Unterschied zwischen ihr und Ninon de Lenclos, die auch selbst in alle verliebt war. Beide lebenssprühende Geschöpfe! Wie wär's mit einem Dialog zwischen den beiden über die Tugend? Aber nimm doch Platz!»

«Onkel Lawrence, als ich mir heut nachmittag das Standbild des Marschalls Foch besah, traf ich einen deiner Vettern, Mr. Muskham.»

«Jack?»

«Jawohl.»

«Der letzte Dandy, ein Vollblutdandy. Diese Menschenrasse ist fast ausgestorben. Jack jedoch ist wirklich noch ein Dandy von echtem Schrot und Korn, ein Held aus Whyte Melvilles uralten Romanen. Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?»

«Hm! Pferde, Piquet und unerschütterlicher Gleichmut – das ist sein Um und Auf.»

«Leg doch den Hut ab, liebe Dinny. Ich seh dein Haar so gern.»

Dinny nahm den Hut ab.

«Dann traf ich dort noch jemanden, Michaels Trauzeugen.»

«Was! Den jungen Desert? Ist der wieder daheim?» Sir Lawrence zog die bewegliche Braue hoch.

Auf Dinnys Wangen zeigten sich rosa Flecke.

«Ja», erwiderte sie.

«Ein seltsames Geschöpf!»

Plötzlich hatte Dinny ein Gefühl, wie sie es noch nie empfunden. Sie hätte es nicht näher beschreiben können, doch es gemahnte sie an eine Porzellanplastik, die sie ihrem Vater vor zwei Wochen zum Geburtstag geschenkt hatte – eine prachtvoll modellierte Gruppe: eine Füchsin und darunter vier zusammengekauerte Junge. Der Blick dieser Füchsin, zärtlich und doch auf der Hut, brachte ihre Gefühle in diesem Augenblick trefflich zum Ausdruck.

«Warum seltsam?»

«Ich darf nicht aus der Schule schwatzen, Dinny. Aber weil du es bist – für mich steht es fest, daß dieser junge Mann Fleur ein oder zwei Jahre nach der Hochzeit arg nachgestellt hat. Das trieb ihn dann fort in die weite Welt.»

Also das trieb ihn so ruhelos umher wie den ewigen Juden? Nein! Als er von Fleur gesprochen, hatte seine Miene durchaus nichts dergleichen verraten.

«Allerdings – vorbei und abgetan. Seither hat man aber noch so manches andere gehört. Klubs sind die Brutstätten von boshaftem Klatsch.»

Dinnys zärtliche Regung ließ nach, ihre Wachsamkeit wuchs.

«Was noch?»

Sir Lawrence schüttelte den Kopf.

«Der junge Mann ist mir sympathisch und deshalb, Dinny, möchte ich nicht einmal dir gegenüber wiederholen, was ich nicht zuverlässig weiß. Sobald jemand ein ungewöhnliches Leben führt, hängen sich die abenteuerlichsten Gerüchte an seine Fersen.» Plötzlich blickte er Dinny an; sie aber sah ganz unbefangen drein.

«Wer ist denn der kleine Chinesenjunge oben?»

«Der Sohn eines gewesenen Mandarins, der wegen der Unruhen in China seine Familie in England zurückließ. Ein komischer kleiner Ölgötze. Übrigens, ein nettes Volk, die Chinesen. Wann kommt Hubert?»

«Nächste Woche, mit dem Flugzeug aus Italien. Du weißt ja, Jeanne ist passionierte Fliegerin.»

«Was macht ihr Bruder?» Und er sah Dinny nochmals an.

«Alan? Ist im Ausland – in China – stationiert.»

«Deine Tante beklagt es noch immer, daß es mit euch beiden nicht zum Klappen kam.»

«Lieber Onkel, für Tante Emily könnt ich alles tun. Doch da ich für Alan wie eine Schwester fühle, verbieten mir die Gebote Gottes und der Kirche diesen Schritt.»

« Ich mag nicht, daß du heiratest und in irgendein Barbarenland wanderst», entgegnete Sir Lawrence.

‹Onkel Lawrence ist unheimlich›, dachte Dinny und sah ihn noch unbefangener an denn je.

«Dieser gottverlaßne Kolonialdienst», fuhr Sir Lawrence fort, «verschlingt noch unsere ganze Sippe. Zunächst meine beiden Töchter, Celia in China, Flora in Indien; dein Bruder Hubert im Sudan. Und deine Schwester Clare flattert davon, kaum daß sie unter der Haube ist – Jerry Riven hat einen Posten in Ceylon erhalten. Charlie Muskham wird, wie ich höre, der Regierung in Kapstadt zugeteilt. Hilarys ältester Sohn will Staatsbeamter in Indien werden, der jüngere zur Marine gehn. Hol's der Kuckuck, Dinny, du und Jack Muskham, ihr seid die einzigen Getreuen. Und Michael, versteht sich.»

«Siehst du Mr. Muskham häufig, Onkel?»

«Oft genug im Burton-Klub; und im ‹Coffee House›-Klub setzt er sich ab und zu an meinen Tisch und wir spielen Piquet – wir sind ja die einzigen von der alten Garde. Zur Zeit der Hindernisrennen kommt er mir oft zu Gesicht, von jetzt an seh ich ihn wohl nicht mehr bis zum Cambridgeshire-Rennen.»

«Ist er tatsächlich ein so ausgezeichneter Pferdekenner?»

«Jawohl, Dinny. Dafür versteht er aber von allem andern gar nichts, wie die meisten Pferdeliebhaber. Das Pferd ist ein Wesen, das den Geist für andere Eindrücke unempfänglich macht. Man muß auf diese Tiere zu sehr aufpassen, auf sie selbst und auf alles, was drum und dran hängt. Wie sieht denn der junge Desert aus?»

«Oh!» rief Dinny ziemlich verdutzt, «gelbbraun.»

«Das kommt von der Strahlung des Wüstensands. Eine Art Beduine, weißt du. Sein Vater lebt wie ein Einsiedler und dem Sohn steckt das auch im Blut. Das Beste, was ich an ihm zu rühmen weiß: Michael hat ihn trotz jener Affäre noch gern.»

«Und seine Gedichte?» fragte Dinny.

«Disharmonisches Zeug. Er zerstört mit der Linken, was er mit der Rechten schafft.»

«Vielleicht hat er seine Heimat noch nicht gefunden. Seine Augen sind eigentlich schön, findest du nicht auch?»

«Am besten erinnere ich mich an den Zug um seinen Mund – ausdrucksvoll und bitter.»

«Die Augen verraten, was der Mensch ist, der Mund, was er wird.»

«Stimmt, Mund und Bauch.»

«Bauch hab ich keinen an ihm bemerkt», gab Dinny zurück.

«Das macht die Gewohnheit, von einer Handvoll Datteln und einer Schale Kaffee zu leben. Nicht etwa, daß die Araber so gern Kaffee tränken – eher haben sie eine Leidenschaft für grünen Tee mit Pfefferminz. Du lieber Himmel, da kommt deine Tante! Versteh mich recht, dieser Stoßseufzer galt dem Pfefferminztee, nicht ihr.»

Lady Mont erschien, ohne Papierhut, doch wieder bei Atem.

«Verzeih, liebes Tantchen», sagte Dinny, «ich hab wirklich deinen Geburtstag vergessen und dir gar nichts mitgebracht.»

«Dann, Dinny, gib mir einen Kuß. Ich sag ja immer, deine Küsse schmecken am besten. Woher kommst du uns ins Haus geschneit?»

«Ich fuhr nach London, um für Clare Einkäufe zu besorgen.»

«Hast du deine Sachen zum Übernachten mit?»

«Nein.»

«Tut nichts. Bekommst sie von mir. Trägst du noch immer Nachtgewänder?»

«Ja», sagte Dinny.

«Braves Mädel! Ich mag Pyjamas bei Frauen nicht – dein Onkel auch nicht. Unter der Taille, da hapert's – da läßt sich die Linie nicht verbergen. Michael und Fleur speisen mit uns zu Abend.»

«Vielen Dank, Tante Emily. Ich bleib wirklich gern in der Stadt. Heut könnte ich ja nicht die Hälfte dessen besorgen, was Clare braucht.»

«Dinny, daß Clare vor dir heiratet, will mir gar nicht gefallen.»

«Tantchen, das ist doch so natürlich.»

«Quatsch! Clare brilliert in der Gesellschaft – solche Mädchen heiraten meist nicht so bald. Ich hab mit einundzwanzig geheiratet.»

«Tantchen, du widersprichst dir!»

«Jetzt lachst du mich aus. Ich hab nur einmal im Leben brilliert. Weißt du's noch, Lawrence? Damals auf dem Elefanten – ich wollte, er solle sich niederhocken, aber er bog nur die Knie. Diese Tiere können die Beine nur auf eine Art biegen.»

«Tante Emily, diesen einen Fall ausgenommen, bist du doch die brillanteste Frau, die ich kenne. Die meisten Frauen sind so langweilig und konsequent.»

«Dinny, deine Nase ist mir ein wahrer Trost. Ich hab diese Geierschnäbel schon so satt. Tante Wilmots, Henny Bentworths und meinen eignen.»

«Deine Nase ist doch nur ganz leicht gebogen, liebstes Tantchen.»

«Als Kind hatte ich Angst, daß es ärger wird. Oft stand ich da und hielt die Nasenspitze gegen einen Schrank gepreßt.»

«Das hab ich auch schon probiert, Tantchen, nur in umgekehrter Richtung.»

«Als ich es einmal tat, lag dein Vater versteckt auf dem Schrank wie ein Leopard auf der Lauer, sprang dann mit einem Satz auf mich herab und biß sich dabei in die Lippe, daß mir sein Blut über den Hals rann.»

«Entsetzlich!»

«Jawohl. Lawrence, woran denkst du nur?»

«Eben fiel mir ein, daß Dinny wahrscheinlich noch keinen Lunch genommen hat.»

«Ich wollt ihn morgen nehmen, Onkel.»

«Das sieht dir ähnlich», rief Lady Mont. «Klingle Blore! Solang du nicht verheiratet bist, wirst du immer so ätherisch bleiben.»

«Erst muß Clare vor den Altar, Tante Emily.»

«In der St. Georgskirche. Wer traut sie? Hilary?»

«Natürlich.»

«Da werd ich weinen müssen!»

«Tantchen, warum weinst du eigentlich bei Hochzeiten?»

«Wie ein Engel wird sie aussehn; und er wird einen schwarzen Frack tragen und einen Zahnbürstenschnurrbart und ganz und gar nicht das fühlen, was sie vermutet. Zu traurig!»

«Vielleicht fühlt er sogar mehr. Michael hat bestimmt Fleur, Adrian Angela an Gefühl übertroffen, als sie vor dem Altar standen.»

«Adrian ist dreiundfünfzig und trägt einen Bart. Und Adrian ist und bleibt eben Adrian.»

«Das fällt allerdings ins Gewicht. Aber meiner Meinung nach sollten wir eher um die armen Männer eine Träne vergießen. Die Frau erlebt die schönste Stunde ihres Lebens, und der Mann steckt fast immer in einer viel zu engen Weste.»

«Lawrence blieb das erspart. Er war stets eine Hopfenstange und ich war so schlank wie du, Dinny.»

«Tante Emily, in Kranz und Schleier sahst du gewiß entzückend aus. Nicht wahr, Onkel?» Sie fing einen sinnenden, belustigten Blick der beiden Alten auf, stockte und fuhr dann fort: «Wo habt ihr euch kennengelernt?»

«Beim Jagen, Dinny. Ich war in einen Graben gepurzelt, das gefiel deinem Onkel nicht, er lief herzu und zog mich heraus.»

«Köstlich!»

«Keine Spur, viel zuviel Schlamm. Den Rest des Tages wechselten wir kein Wort mehr miteinander.»

«Was hat euch also zusammengeführt?»

«Dies und jenes. Ich war bei Hennys Familie, den Corderoys, zu Besuch, und eines Tages sprach dein Onkel dort vor, um ein paar junge Hunde in Augenschein zu nehmen. Doch warum dies Verhör?»

«Ich wollte nur wissen, wie man so etwas in jenen Tagen machte.»

«Geh hin und finde selbst heraus, wie man's heutzutage macht.»

«Onkel Lawrence will mich noch nicht loswerden.»

«Alle Männer sind Egoisten, bis auf Michael und Onkel Adrian.»

«Auch möcht ich dir das Weinen ersparen.»

«Blore, einen Cocktail und ein belegtes Brötchen für Miss Dinny, sie hat noch keinen Lunch gehabt. Und, Blore, zum Abendessen bleiben Mr. und Mrs. Adrian und Mr. und Mrs. Michael. Und, Blore, sage Laura, sie soll eines meiner Nachtkleider und alles, was man sonst noch braucht, ins blaue Gastzimmer schaffen. Miss Dinny wird hier übernachten. – Oh, diese Kinder!» Und Lady Mont segelte vor ihrem Kammerdiener zur Tür hinaus.

«Onkel, Tantchen ist wirklich entzückend!»

«Hab es nie bestritten, Dinny.»

«So oft ich sie sehe, wird mir leichter ums Herz. Kann sie je zornig werden?»

«Manchmal nimmt sie einen Anlauf, doch eh das Wetter losbricht, bläst der Wind schon wieder aus andrer Richtung.»

«Eine besonders wertvolle Eigenschaft! …»

Bei der Mahlzeit wartete Dinny auf irgendeine Bemerkung ihres Onkels über Wilfrid Deserts Rückkehr. Doch er machte keine.

Nach dem Essen setzte sie sich zu Fleur – sie hatte diese angeheiratete Kusine stets heimlich bewundert. Wieviel Selbstvertrauen besaß doch diese Frau und wie wenig Illusionen! Wie anmutig und sicher war ihr Gang, wie scharf ihr Auge, wie prächtig wußte sie Gesicht und Gestalt zur Geltung zu bringen! Sie sah auf Michael herab und gleichzeitig zu ihm empor.

‹Wenn ich je heirate›, dachte Dinny, ‹werd ich zu meinem Mann nie so sein. Ich werd ihm gerade und offen in die Augen sehn wie ein Sünder dem andern.›

«Fleur, erinnerst du dich noch an deine Hochzeit?» begann sie.

«Gewiß, meine Liebe. Eine höchst lästige Zeremonie!»

«Heut hab ich Michaels Trauzeugen gesehn!»

Fleurs klare Augen wurden rund vor Staunen.

«Wilfrid? Wieso hast du ihn wiedererkannt?»

«Damals war ich erst sechzehn und er machte Eindruck auf mein junges Gemüt.»

«Na, dazu ist ein Trauzeuge ja schließlich da. Wie sah er aus?»

«Sehr dunkel; scheint ein zersetzender Geist.»

Fleur lachte. «Das war er ja immer.»

Dinny blickte sie an und beschloß, sich weiter vorzuwagen.

«Onkel Lawrence hat mir erzählt, daß er gewisse andere Verbindungen gern zersetzt hätte.»

Fleur sah überrascht drein. «Was der alles bemerkt hat! Hätt ich ihm gar nicht zugetraut.»

«Onkel Lawrence ist ein wenig unheimlich», bemerkte Dinny.

«Wilfrid benahm sich in der Tat sehr brav», murmelte Fleur mit leisem Lächeln der Erinnerung. «Fromm wie ein Lamm ist er in den Orient gepilgert.»

«Diese Affäre hat ihn doch nicht für immer in den Orient verbannt?»

«Nicht mehr, als Masern einen für immer ans Krankenzimmer fesseln. Ach nein, der Orient gefällt ihm – vermutlich hat er dort irgendwo einen Harem.»

«Nein», erklärte Dinny, «wenn mich nicht alles trügt, ist Wilfrid wählerisch.»

«Bravo, meine Liebe – mein billiger Zynismus verdient eine Zurechtweisung. Wilfrid ist ein höchst sonderbarer Mensch, eigentlich ein lieber Kerl. Michael hatte ihn gern.» Und mit raschem Blick auf Dinny: «Aber lieben kann man ihn unmöglich, er ist ja die Disharmonie in Person. Einmal studierte ich ihn ganz aus der Nähe – mußte es. Er entgleitet einem, ein Nervenbündel, voll Leidenschaft, weichherzig und verbittert zugleich. Und Gift will ich nehmen, wenn er an irgendwas in der Welt glaubt.»

«Außer vielleicht an die Schönheit», meinte Dinny fragend, «und an die Wahrheit, wenn er sie wo finden könnte?»

«Liebes Kind, wir alle glauben dran, wenn wir sie finden», gab Fleur unerwartet zurück, «nur leider, man findet sie eben nicht, außer – außer das Schöne und Wahre ist in uns selbst. Und wenn du einmal mit dir selbst zerfallen bist, was hast du dann noch zu erwarten? Wo hast du ihn getroffen?»

«Beim Fochdenkmal, das er sich besah.»

«Aha! Ich erinnere mich, vor Jahren vergötterte er Foch beinahe. Der arme Wilfrid, was kann dem noch blühn! Nervenschock im Trommelfeuer, Dichten – und seine ganze Erziehung! Ein Vater, der dem Leben den Rücken gekehrt hat, eine Mutter, Halbitalienerin, die mit einem andern durchbrannte. Nicht gerade idyllisch. Die Augen waren noch das Beste an ihm, sie erwecken Mitgefühl und sind ohne Zweifel schön – beides wirkt verhängnisvoll. Hast du vielleicht zu tief hineingeschaut? Hat sich das junge Gemüt wieder geregt?» Sie sah Dinny ins Gesicht.

«Nein. Ich wollte nur wissen, ob es dein Gemüt erregt, wieder von ihm zu hören.»

«Mich? Mein Kind, ich bin fast dreißig, hab zwei Kinder und» – ein Schatten flog über ihre Züge – «ich hab mir schon einmal die Finger verbrannt. Wenn ich je darüber sprechen könnte, dir hätt ich es anvertraut, keiner andern, Dinny; doch es gibt Dinge, über die man nicht sprechen kann.»

Oben auf ihrem Zimmer, in Tante Emilys unbequem weites Nachtkleid gehüllt, starrte Dinny ins Kaminfeuer, das man trotz ihres Einwands angezündet hatte. Sie sah es nur zu klar: ihre Gefühle waren einfach lachhaft! Eine seltsame Neugier empfand sie, war zugleich scheu und kühn und hatte den Eindruck, sie stehe unmittelbar vor einer wichtigen Entscheidung. Und was trug Schuld daran? Die flüchtige Begegnung mit einem jungen Mann, der vor zehn Jahren ein törichtes Gefühl in ihr erweckt hatte. Nach übereinstimmenden Aussagen ein höchst unerfreulicher Mensch. Sie langte nach dem Spiegel und besah prüfend Gesicht und Hals über der Stickerei des viel zu weiten Nachtkleids. Sie hätte mit dem Anblick wohl zufrieden sein können, war es aber nicht.

‹Immer dieselbe Botticellifratze!› dachte sie, ‹man wird es müde.›

‹Ein Näschen stumpf,
Die Augen blau!
Hüt dich vor deinem Spiegelbild,
Rothaarige Wasserfrau!›

Er war durch den Orient wohl anderes gewöhnt, schwarze Augen, die schmachtend durch Schleier blickten, verführerisch verhüllte, schwellende Formen, Wollust, Geheimnis, Perlenzähne – üppige Huris! Dinny besah im Spiegel ihre Zähne. Na, da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, die besten Zähne in der ganzen Familie. Auch ihr Haar war gar nicht wirklich rot – eher kastanienbraun. Was sich unterhalb der Waschzonengrenze der viktorianischen Zeit befand, entzog dieses reichgestickte Nachtkleid ihrem prüfenden Blick. Wahrhaftig, sie durfte nicht vergessen, diese Prüfung morgen früh vor dem Bade zu erledigen. Hoffentlich durfte sie dann beten: ‹O Herr, wie du uns auch gemacht, für alles sei dir Dank gebracht!› Mit leisem Seufzer legte sie den Spiegel hin und ging zu Bett.


 << zurück weiter >>