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VI

Clare Cherrells Trauung in der Kirche der vornehmen Welt auf dem Hanover Square war ein mondänes Ereignis und nahm in der Rubrik ‹Gesellschaft› gewisser Blätter samt der Liste der Gäste eine Viertelspalte in Anspruch.

«Das wird die beiden aber freun!» sagte Dinny.

Clare traf mit den Eltern am Vorabend aus Condaford in der Mount Street ein. Dinny kam mit Lady Cherrell erst kurz vor dem Brautpaar in die Kirche, sie war bis zum letzten Augenblick um die jüngere Schwester bemüht gewesen und empfand eine Rührung, die sie unter der Maske des Humors verbarg. Sie hielt sich ein wenig im Hintergrund des Kirchenschiffs auf, um mit einem alten Bediensteten zu sprechen, und erspähte Wilfrid. Ganz hinten, auf der Seite der Braut saß er und blickte nach Dinny. Rasch lächelte sie ihm zu, schritt durch das Kirchenschiff und setzte sich neben die Mutter vorn in den Betstuhl. Michael wisperte ihr im Vorbeigehn zu:

«Leute in Massen, nicht wahr?»

Wahrlich, es gab ihrer genug! Clare war bekannt und beliebt, Jerry Riven noch bekannter, wenn auch nicht ganz so beliebt. Dinnys Blick glitt über das Publikum, anders konnte man diese Versammlung kaum bezeichnen. Die unregelmäßigen Gesichter dieser Leute schienen seltsam charakteristisch, trugen keinen gemeinsamen Stempel. Alle hatten offenbar ihre eignen Ansichten und Überzeugungen. Die Männer bildeten keinen besondern Typ, wiesen nicht jene Gleichförmigkeit auf, die für deutsche Staatsbeamte so bezeichnend ist. Im vordern Kirchenstuhl saßen außer Dinny und ihrer Mutter noch Hubert, Jeanne, Onkel Lawrence und Tante Emily; in der Bank hinter ihnen befanden sich Adrian, Angela, Mrs. Hilary und Lady Alison, Onkel Lionels Frau. Zwei oder drei Reihen weiter hinten gewahrte Dinny Jack Muskham; er schien stattlich, elegant und ziemlich gelangweilt. Als er ihr zunickte, dachte sie: ‹Komisch, daß er sich meiner noch erinnert!›

Auch auf der Seite des Bräutigams war das Kirchenschiff mit Leuten bevölkert, deren Gesichter und Gestalten ebenso verschiedenes Gepräge trugen. Abgesehn von Jack Muskham, dem Bräutigam und seinem Trauzeugen, schien kaum einer der Herren Wert auf elegante Kleidung zu legen. Doch Dinny las in ihren Zügen, daß alle in bestimmten Traditionen verankert waren. Kein einziges dieser Gesichter wirkte auf sie wie Wilfrids Antlitz, spiegelte wie das seine innere Kämpfe, Disharmonie, Verträumtsein, Leid und Sehnsucht nach der Wahrheit. ‹O ich Phantastin!› dachte sie, und ihr Blick blieb auf Adrian ruhn, der unmittelbar hinter ihr saß. Ein stilles Lächeln umspielte seinen Mund über dem Ziegenbart, der sein braunes, langes Gesicht noch länger machte. ‹Wie lieb er nur aussieht!› fuhr es ihr durch den Sinn, ‹nicht so eingebildet, wie die Träger solcher Spitzbärte sonst zumeist sind. Für mich ist und bleibt er der netteste Mann der Welt!› Dann flüsterte sie: «Eine schöne Sammlung von Gebeinen, Onkel.»

« Dein Skelett möcht ich haben, Dinny!»

«Mich wird man verbrennen und die Asche in den Wind streuen. Pst!»

Da trat der Chor ein, von den zelebrierenden Priestern gefolgt. Jerry Riven wandte sich um. Diese Lippen mit dem katzenhaften Lächeln unter dem schmalen Schnurrbart, diese scharfgeschnittnen Züge, die kühnen, gierigen Augen! Plötzlich dachte Dinny bestürzt: ‹Clare! Wie konnte sie nur diesen –! Ach was, das würde ich ja von jedem andern auch sagen, bis auf den einen. Ich werde kindisch!› Dann schwebte Clare am Arm ihres Vaters durch das Kirchenschiff zum Altar. Ein prächtiger Anblick, wahrhaftig! In jäher Erregung spürte Dinny ein Würgen in der Kehle und ließ ihre Hand in die der Mutter gleiten. Arme Mutter, sie war totenblaß. Zu dumm, dieses ganze Getue! Die Leute mußten es um jeden Preis lang, anstrengend und rührselig machen. Gottlob, Vaters alter schwarzer Frack sah wirklich noch ganz anständig aus – Dinny hatte die Flecken mit Ammoniak weggeputzt; und Vater stand da wie einstmals bei einer Truppenschau. Wenn jetzt einer der Knöpfe auf Onkel Hilarys Rock nicht blank geputzt wäre, würde er es sofort entdecken. Aber Onkel Hilary trug ja keine Uniformknöpfe! Fürs Leben gern hätte Dinny weiter hinten neben Wilfrid gestanden. Der hatte jetzt gewiß so nette, ketzerische Einfälle, und sie könnten einander durch vielsagendes Lächeln erheitern.

Und die Brautjungfern! Hilarys Töchter, ihre Kusinen Monica und Joan, schlank und rank. Die kleine Celia Moriston, einem blonden Seraph gleichend (wenn Seraphim weiblich sind), Sheila Forest, brünett und lebensprühend, und die kugelrunde kleine Anne.

Als Dinny niedergekniet war, fand sie ihre Ruhe wieder. Sie entsann sich noch der Kindertage, da sie und Clare im Nachthemd nebeneinander vor dem Bett zu knien pflegten, Clare, ein kleiner dreijähriger Stöpsel, sie selbst ein ‹großes Mädel› von sechs Jahren. Sie hatte mit Vorliebe das Kinn auf den Bettrand gestützt, um die Knie zu entlasten. Und wie süß Clare nur aussah, wenn sie betend die Hände hob wie das Kind auf dem Reynolds-Gemälde! ‹Dieser Kerl›, dachte Dinny, ‹macht ihr noch Kummer! Das weiß ich ganz bestimmt!› Und ihre Gedanken wanderten wieder zu Michaels Hochzeit vor zehn Jahren. Hier, im selben Dom hatte sie auch damals gestanden, kaum drei Schritt von dem Platz, wo sie jetzt kniete, neben irgendeinem unbekannten Mädchen, einer Verwandten Fleurs. Und mit der aufgeregten Neugier der Jugend war ihr Blick in die Runde geschweift und schließlich an Wilfrid hängen geblieben, der sich etwas abseits hielt und Michael betrachtete. Der arme Michael! Im Übermaß des Triumphs hatte er an diesem Tag geradezu verstört dreingesehn! Dinny entsann sich noch ganz deutlich ihres Einfalls: ‹Michael und sein gestürzter Engel!› In Wilfrids Antlitz hatte sie damals einen Zug gelesen, als sei er ausgeschlossen von allem Glück, einen bittern und doch lebenshungrigen Blick. Es war im zweiten Jahr nach dem Friedensschluß gewesen, und Dinny wußte jetzt, welch schwere Enttäuschung, ja welchen Nervenzusammenbruch Wilfrid nach dem Krieg erlitten hatte. In den beiden letzten Tagen hatte er ganz freimütig mit ihr gesprochen, ja sogar mit spöttischem Humor seiner Leidenschaft für Fleur gedacht, einer Leidenschaft, die ihn dazu getrieben, nach dem Orient zu entfliehn. Dinny, die bei Kriegsausbruch erst zehn gewesen war, entsann sich eigentlich nur noch, daß Mutter stets Sorge um den Vater gehabt, die ganze Zeit über gestrickt hatte und eine Art Sockendepot gewesen war; daß jedermann die Deutschen haßte; daß man ihr Bonbons zu essen verbot, weil sie mit Sacharin gesüßt waren; und schließlich erinnerte sie sich an ihre Aufregung und ihren Kummer, als Hubert in den Krieg zog und nur selten Nachricht gab. Durch Wilfrid hatte sie in den letzten Tagen erst so recht erfahren, was der Krieg für jene bedeutet hatte, die wie er und Michael Jahre hindurch sein Grauen erleben mußten. Mit seiner Gabe, allen Empfindungen lebendigen Ausdruck zu leihn, hatte er ihr das Gefühl des Entwurzeltseins geschildert, die Umwertung aller Werte und das tiefe Mißtrauen gegen alles, was Zeit und Überlieferung geprägt und geheiligt hatten. Er habe jetzt den Krieg überwunden, sagte er. Nun, das mochte er wohl glauben, doch noch immer schienen ihr seine seelischen Wunden nicht ganz verheilt. Nie sah sie ihn, ohne das Verlangen zu fühlen, mit kühler Hand über seine Stirn zu streichen.

Jetzt waren die Ringe gewechselt, die schicksalsschweren Worte gesprochen, die Ermahnungen des Priesters beendet, Brautpaar und Trauzeugen verschwanden in die Sakristei. Hubert und die Mutter folgten. Dinny saß reglos da, ihr Blick hing an dem Fenster über dem Altar. Ehe! Unmögliche Institution – nur mit einem Wesen erträglich!

Da flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr:

«Dinny, leih mir dein Taschentuch! Das meine trieft und dein Onkel hat ein blaues.»

Dinny reichte ein Batisttüchlein hinüber und puderte sich heimlich die Nase.

«Laß dich nur ja in Condaford trauen», fuhr die Tante fort, «all diese Leute hier – so eine Plage – an alle soll man sich erinnern, was sie sind und was sie nicht sind. Das war seine Mutter, nicht wahr? Die lebt also auch noch!»

‹Soll ich noch rasch einen Blick auf Wilfrid werfen?› überlegte Dinny.

«Bei meiner Hochzeit», wisperte ihre Tante, «küßten mich alle, kunterbunt durcheinander. Ich kannte ein Mädel, das hat nur deshalb geheiratet, um vom Trauzeugen des Bräutigams einen Kuß zu bekommen. Aggie Tellusson. Aber wer weiß, ob es wahr ist! Da kommen sie zurück!»

Jawohl, da kamen sie! Wie gut kannte Dinny dies bräutliche Lächeln! Wie konnte nur Clare so empfinden, sie war ja nicht mit Wilfrid verheiratet! Dinny folgte hinter Vater und Mutter an Huberts Seite, der ihr zuflüsterte: «Kopf hoch, Mädel! Sie hätt eine schlimmere Wahl treffen können!» Sie drückte seinen Arm, doch ein Geheimnis, das sie ganz erfüllte, schied sie von ihm. Da sah sie, wie Wilfrid, die Arme verschränkt, nach ihr blickte. Wieder lächelte sie ihm freundlich zu, dann verschwamm ihr alles vor den Augen, bis sie wieder in der Mount Street war und Tante Emily in der Tür des Empfangszimmers sagen hörte:

«Dinny, bleib bei mir und zwick mich rechtzeitig in den Arm!»

Dann kam der Einzug der Gäste, begleitet von Lady Monts Kommentar.

«Es ist wirklich seine Mutter – sieht aus wie ein geräucherter Hering … Da ist Henny Bentworth! … Henny, Wilmet ist auch da, hat noch ein Hühnchen mit dir zu pflücken … Guten Tag! Ach ja – so ermüdend! … Guten Tag! Er hat ihnen so nett die Ringe angesteckt, nicht wahr? Wirklich, wie ein Taschenspieler! … Dinny, wer ist das? … Guten Tag! Reizend! … Dort drüben sind die Geschenke, bei dem Mann mit riesengroßen Schuhen, er gibt sich ja redlich Müh, daß man ihn nicht als Detektiv erkennt. Wahrhaftig, zu dumm! Aber man will ja doch die Geschenke zeigen … Guten Tag! Sie sind Jack Muskham? Lawrence träumte unlängst, Sie wären zersprungen … Dinny, hol mir doch Fleur, die kennt alle Welt.»

Dinny ging Fleur suchen und fand sie im Gespräch mit dem Bräutigam.

Als sie zur Tür zurückkamen, sagte Fleur: «Ich sah Wilfrid Desert in der Kirche. Wie kam er nur hin?»

Wirklich, Fleur hatte doch zu scharfe Augen!

«Ah, da bist du ja!» rief Lady Mont. «Welche von den dreien, die da kommen, ist die Herzogin? Die Bohnenstange, so? Ah! … Guten Tag! Ja, reizend! Sehr strapaziös, so eine Hochzeit! Fleur, führ doch die Herzogin zu den Geschenken hinüber, sie soll sich ein paar nehmen! … Guten Tag! Nein, mein Bruder Hilary. Er macht seine Sache gut, nicht wahr? Lawrence behauptet, er versteht's. Nehmen Sie doch, bitte, ein Eis! Unten … Dinny, will die auch Geschenke klauen? Oh, guten Tag, Lord Beevenham! Meine Schwägerin sollte eigentlich den Empfang besorgen, aber sie ist ausgekniffen. Ja, Jerry ist auch drin … Dinny, wer sagt doch nur: ‹Ein Trunk! Ein Trunk!›? Hamlet? Der sagt so viel. Also nicht Hamlet? … Oh, guten Tag! … Guten Tag! … Wie geht's? Oder geht's nicht? Solch ein Gedränge! … Dinny, dein Taschentuch!»

«Ich hab es ein wenig mit Puder bestäubt, Tantchen.»

«Da! Seh ich jetzt vielleicht scheckig aus? … Guten Tag! Ist nicht die ganze Sache blöd? Als ob denen an irgendwas läge, außer an ihnen selbst! … Oh, da ist ja Adrian! Ach mein Lieber, deine Krawatte sitzt schief! Dinny, zieh sie doch grade! … Guten Tag! Ja, sie sind drin. Ich mag Blumen bei Begräbnissen nicht leiden. Die armen Dinger liegen da und welken … Was macht Ihr lieber Hund? Was, Sie haben gar keinen! Verstehe! … Dinny, du hättest mich zwicken sollen … Guten Tag! Guten Tag! Eben hab ich meiner Nichte gesagt, sie hätt mich zwicken sollen. Haben Sie ein gutes Personengedächtnis? Nein? Zu nett! Guten Tag! Guten Tag! Guten Tag! Alle guten Dinge sind drei, Dinny, wer ist denn dieser Stöpsel? Oh! … Guten Tag! Sie sind also hier? Ich dachte, Sie wären in China … Dinny, erinnere mich, daß ich deinen Onkel frage, ob es wirklich China war. Er hat mich so unverschämt angeglotzt! Dinny, könnt ich mich nicht jetzt aus dem Staub machen? Wer gebraucht doch nur immer diese Redensart? Dinny, erinnere Blore an die Getränke! Da flattert schon wieder eine Schnepfenkette auf! Guten Tag! … Guten Tag! … Tag! … Tag! … Tag! … Guten … Ganz reizend! … ‹Schert euch zum Teufel!› wollt ich sagen, Dinny!»

Auf ihrem Botengang zu Blore kam Dinny an Jeanne vorbei, die sich gerade mit Michael unterhielt, und fragte sich, woher dieses lebhafte, braune Geschöpf nur die Geduld nahm, in diesem Schwarm herumzustehn. Nachdem sie Blore gefunden hatte, kam sie zu den beiden zurück. Michaels eigenartiges Gesicht, das Dinny von Jahr zu Jahr besser gefiel, offenbar weil es immer mehr den Stempel der Gutmütigkeit trug, sah gequält und unglücklich drein.

«Jeanne, das kann ich nicht glauben!» hörte sie ihn sagen.

«Man schwatzt aber in allen Basaren davon», erklärte Jeanne. «Wo Rauch ist, dort ist auch Feuer.»

«Hm, nicht immer. Jedenfalls ist er jetzt wieder in England. Fleur hat ihn heut in der Kirche gesehn. Ich werd ihn fragen.»

«Ich an deiner Stelle tät es nicht», erwiderte Jeanne. «Wenn es wahr ist, dann wird er dir's wahrscheinlich selbst erzählen, und ist es nicht wahr, so hast du ihn nur unnütz gekränkt.»

So, sie sprachen also von Wilfrid! Wie konnte sie es nur herausbekommen, ohne ihr Interesse für ihn zu verraten? Dann fuhr es ihr durch den Sinn: ‹Einerlei, ich mag von ihnen nichts hören. Er selbst muß mir alles Wichtige sagen. Von andern will ich's nicht erfahren.› Aber sie fühlte sich bestürzt, denn ihr Instinkt verriet ihr, daß ein schweres seelisches Erlebnis auf ihm laste.

Die leeren Phrasen waren abgeleiert, die Braut war gegangen. Dinny ließ sich im Arbeitszimmer ihres Onkels auf einen Stuhl fallen – dieser Raum allein schien unberührt geblieben. Ihre Eltern waren nach Condaford zurückgefahren, zu ihrer Überraschung wollte Dinny sie nicht begleiten. Es sah ihr so gar nicht ähnlich, daß sie von London nicht loskam, jetzt, da zu Hause Tulpen und Flieder knospten und die Apfelbäume von Tag zu Tag voller erblühten. Doch der Gedanke, Wilfrid auch nur einen Tag nicht zu sehn, schien ihr einfach unerträglich.

‹Das hat mich ordentlich gepackt!› dachte sie, ‹ärger, als ich es für möglich gehalten hätte. Was steht mir da noch bevor?›

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, da vernahm sie die Stimme ihres Onkels:

«Ah, Dinny! Wie freut mich dein Besuch nach dieser Invasion! Und alles in vollem Kriegsstaat! Hast du auch nur ein Viertel der Besucher gekannt? Warum müssen die Leute auf alle Hochzeiten laufen? Auf dem Standesamt oder unter den Sternen – die einzige Art, anständig zu heiraten. Deine arme Tante ist zu Bett gegangen. Da hat doch der Islam viel für sich, wenn es jetzt auch für modern gilt, sich auf eine Frau zu beschränken und diese eine nicht in den Harem zu sperren. Da fällt mir eben ein, über den jungen Desert geht das Gerücht um, er habe den Glauben des Propheten angenommen. Hat er dir gegenüber etwas davon erwähnt?»

Erschreckt hob Dinny den Kopf.

«Ich weiß nur von zwei Europäern, die im Orient zum Islam übertraten, beide waren Franzosen und wollten sich einen Harem halten.»

«Das Haremsleben ist lediglich eine Frage des Geldbeutels, Onkel.»

«Dinny, du wirst ja geradezu zynisch. Die Menschen sehn ihr Vergnügen gern von der Religion gebilligt. Doch das war wohl kaum Deserts Beweggrund. Ein wählerischer Kerl, wenn ich mich recht entsinne.»

«Onkel, was liegt eigentlich an der Religion, solang man es verschmäht, sie andern aufzudrängen?»

«Na, die Ansichten mancher Moslems über die Frauenrechte sind ein wenig barbarisch. Wenn der Gatte sie auf Untreue ertappt, kann er sie einmauern lassen. Als ich in Marrakesch war, kannte ich einen Scheich – unheimliche Geschichte!»

Dinny schauerte zusammen.

«Seit grauen Zeiten», fuhr Sir Lawrence fort, «trägt die Religion an den entsetzlichsten Greueltaten Schuld, die je geschahn. Möcht wirklich wissen, ob der junge Desert das nur getan hat, um sich Zutritt nach Mekka zu verschaffen. Mir scheint, er glaubt an gar nichts. Freilich kann man das nie wissen – er stammt ja aus einer seltsamen Familie.»

‹Ich kann und mag nicht mit ihm darüber sprechen›, dachte Dinny.

«Wieviel Leute sind heutzutag noch wirklich gläubig, Onkel?»

«Im nördlichen Abendland, sehr schwer zu sagen. In England vielleicht zehn bis fünfzehn Prozent der Erwachsenen. In Frankreich und den Ländern des Südens, wo es noch einen Bauernstand gibt, sind ihrer wohl mehr – wenigstens dem äußern Anschein nach.»

«Und die Leute, die nachmittags hier waren?»

«Die meisten von ihnen wären entrüstet, wenn du ihnen sagtest, sie seien keine Christen, doch noch weit mehr, wenn du ihnen rietest: ‹Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen!›»

«Bist du ein Christ, Onkel Lawrence?»

«Nein, meine Liebe; eher ein Anhänger des Confucius, dessen Lehre, wie du weißt, sich auf ethische Grundsätze beschränkt. Die meisten Leute unserer Kreise folgen eher Confucius als Christus, freilich, ohne sich darüber im klaren zu sein. Ahnenkult, Tradition, Ehrfurcht vor den Eltern, Standesmoral, Selbstbeherrschung, Scheu vor Aufdringlichkeit, gütige Behandlung von Tieren und Untergebenen, Gleichmut gegen Leiden und Tod.»

«Was kann man schließlich mehr verlangen?» murmelte Dinny und zog die Nase kraus, «außer vielleicht noch Liebe zum Schönen?»

«Liebe zum Schönen? Das ist Temperamentssache.»

«Doch trennt nicht gerade das die Menschen mehr als alles andre?»

«Gewiß, aber nolens volens. Liebe zu einem schönen Sonnenuntergang läßt sich nicht erzwingen.»

«Onkel Lawrence, du bist doch ein Weiser, deine junge Nichte erkennt es an. Jetzt mach ich einen kleinen Spaziergang, um den Hochzeitskuchen zu verdauen.»

«Ich bleib hier, Dinny, und schlaf mir den Champagnerschwips aus.»

Dinny ging einen weiten Weg. Seltsam, so allein herumlaufen zu müssen. Doch die Blumen des Hydeparks waren schön, still und glitzernd lagen die Wasser des Serpentinenteichs da, auf den Kastanienbäumen schimmerten die Blütenkerzen. Und wie traumverloren schritt sie hin, und ihr Träumen galt der Liebe.


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