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VIII

Schloß Condaford schien dieser Liebesbund nicht zu gefallen; es hüllte sich in grauen Regen, als beweine es den Verlust seiner beiden Töchter.

Dinny fand Vater und Mutter eifrig drauf bedacht, über den Abschied von Clare schweigend hinwegzugehen, und hoffte, sie würden sich in ihrem Fall ebenso tapfer zeigen. Sie erklärte, sie spüre noch immer die Stadtluft, warf den Regenmantel um und ging vor der Enthüllung des Geheimnisses eine Weile spazieren. Hubert und Jeanne wurden zum Abendessen erwartet. Dinny wollte dann sprechen und so mehrere Fliegen mit einem Schlag treffen. Die Tropfen auf den Wangen, der würzige Duft, die frischbelaubten Bäume und der Kuckucksruf labten Körper und Sinne, doch das Herz tat ihr dabei ein wenig weh. Sie betrat ein Gehölz und schritt einen Jagdweg entlang. Hier standen Buchen und Haselsträucher, ab und zu auch eine englische Eibe, der Boden war Kreidegestein. Kein Laut ringsum, nur das unablässige Hämmern eines Spechts, noch fiel der Regen nicht so dicht, daß er auf den Blättern rauschte. Seit den Kindertagen war sie erst dreimal im Ausland gewesen, in Italien, Paris und den Pyrenäen, und sooft sie heimkam, gewann sie England und Condaford lieber denn je. Von nun an führte ihr Pfad hinaus in die weite Welt, wer weiß wohin. Dort drüben gab es gewiß Sand, Feigenbäume, Gestalten am Brunnen, flache Dächer, den Ruf der Muezzins, Augen, die durch dichte Schleier blickten. Bestimmt aber würde auch Wilfrid vom Zauber Condafords nicht unberührt bleiben und nichts dagegen einwenden, daß sie ab und zu einige Zeit in der Heimat verbrächten. Sein Vater lebte auf einem historischen Schloß, das aber halb versperrt blieb, nie Fremden gezeigt wurde und jedermann das Gruseln lehrte. Außer London und Eton schien Wilfrid von England nichts anderes als dieses Schloß zu kennen, denn er war vier Jahre im Krieg und acht Jahre im Morgenland gewesen.

‹Meine Aufgabe ist es›, dachte sie, ‹ihm England zu zeigen, seine, mir den Orient zu erschließen.›

Ein Sturm im letzten November hatte ein paar Buchen umgerissen, ihre mächtigen Wurzeln lagen bloß. Bei diesem Anblick fiel Dinny eine Bemerkung Fleurs ein, der Verkauf von Schlagholz sei das einzige Mittel, die Erbschaftssteuer zu bestreiten. Doch Vater war ja erst zweiundsechzig! Wie feuerrot Jeanne geworden war, als Tante Emily den Bibelvers zitiert hatte: ‹Gehet hin und mehret euch!› Ein Kind unterwegs! Gewiß ein Sohn. Jeanne war ein Weib, das bestimmt Söhne gebar. Eine weitere Generation des Mannesstamms der Cherrells! Wie nun, wenn Wilfrid und sie ein Kind bekämen? Mit kleinen Kindern kann man nicht in der Welt herumzigeunern. Ein Gefühl banger Unsicherheit überkam sie. Wie ungewiß schien doch die Zukunft! Dicht vor ihrer reglosen Gestalt hüpfte ein Eichhörnchen über den Weg und klomm an einem Baumstamm empor. Lächelnd sah Dinny ihm zu, diesem geschmeidigen, tiefroten Tierchen mit dem buschigen Schwanz. Gottlob, Wilfrid war ein Tierfreund! ‹Wenn einst zum Herrn und seiner Streu die Esel aus allen Ländern kommen …› – hieß es nicht so in einem seiner früheren Gedichte? Condaford mit seinen Vögeln, seinen Wäldern und Bächen, seinen alten Fenstern, Magnolien, Pfauentauben und grünen Weiden mußte er bestimmt ins Herz schließen. Aber Vater und Mutter, Hubert und Jeanne, würde er auch die lieb gewinnen? Und sie ihn? Kaum; er war ihnen gewiß zu unbeschwert von Tradition, zu launenhaft, zu bitter. Sein Bestes verschloß er in sich, wie aus Scham, es zu zeigen. Nie würden sie seine Sehnsucht nach dem Schönen begreifen; sein Glaubenswechsel mußte ihnen befremdend, beunruhigend scheinen, auch wenn sie den wahren Hergang, wie er ihn ihr erzählt, nie im Leben erfuhren! Schloß Condaford Grange hatte weder einen Kammerdiener noch elektrisches Licht, Dinny wählte für ihre Eröffnung den Augenblick, da die Mägde Dessert und Weinkaraffen auf den im Kerzenlicht schimmernden, polierten Tisch aus Kastanienholz gestellt hatten.

«Ich muß euch leider mit einer persönlichen Angelegenheit behelligen», begann sie unvermittelt. «Ich habe mich verlobt.»

Niemand gab Antwort. Alle vier hatten stets gedacht und gesagt, was nicht immer dasselbe bedeutet, Dinny würde eine ideale Gattin sein; darum waren sie von Herzen froh, daß sie heiraten wolle.

«Mit wem, Dinny?» fragte endlich Jeanne.

«Mit Wilfrid Desert, dem zweiten Sohn des Lord Mullyon – er war Michaels Trauzeuge.»

«Aber –»

Dinny blickte die andern scharf an. Der Vater sah unbewegt drein, ganz natürlich, er hatte den jungen Mann ja noch nie gesehn, das sanfte Gesicht der Mutter trug einen erschrocknen, fragenden Ausdruck, Hubert schien mühsam ein Mißbehagen zurückzudrängen.

«Aber Dinny, wann hast du ihn denn kennengelernt?» fragte Lady Cherrell.

«Erst vor zehn Tagen, ich traf ihn aber seither täglich. Ich fürchte, es ist Liebe auf den ersten Blick wie in deinem Fall, Hubert. Wir kennen einander übrigens auch noch von Michaels Hochzeit her.»

Hubert sah auf seinen Teller nieder. «Du weißt vermutlich, daß er zum Islam übergetreten ist. So heißt es wenigstens in Khartum.»

Dinny nickte.

«Was!» rief der General.

«So heißt es, Vater.»

«Warum?»

«Weiß nicht, hab ihn nie gesehn. Er ist viel im Orient gereist.»

Dinny wollte sagen: ‹Wenn man sowieso nichts vom Glauben hält, ist es schließlich einerlei, ob man Christ ist oder Muselmann›, hielt sich jedoch zurück; das hieße ja, seinen Charakter nicht ins beste Licht rücken.

«Ich verstehe nicht, wie man den Glauben wechseln kann», bemerkte der General schroff.

«Mir scheint, ihr seid über meine Wahl nicht sonderlich entzückt», murmelte Dinny.

«Wie ist das möglich, meine Liebe, wir kennen ihn doch gar nicht.»

«Freilich, Mutter. Darf ich ihn nach Condaford einladen? Er hat die Mittel, eine Frau zu erhalten, und Tante Emily sagt, sein Bruder ist kinderlos.»

«Dinny!» rief der General.

«Das mein ich ja nicht ernst, liebster Vater.»

«Wirklich zu bedenken bleibt immerhin», erklärte Hubert, «daß er offenbar eine Art Beduine ist – wandert ruhelos umher.»

«Auch zu zweit kann man die Welt durchwandern, Hubert.»

«Du hast doch aber immer behauptet, der Gedanke, dich von Condaford trennen zu müssen, sei dir unerträglich.»

«Und du, Hubert – ich erinnere mich noch deutlich – hast ja auch einst gesagt, du könntest an der Ehe nie Geschmack finden. Und ihr beide, Vater und Mutter, habt es gewiß auch einst erklärt. Seid ihr bei dieser Anschauung geblieben?»

«Du schlaue Katze!» Mit diesen schlichten Worten schloß Jeanne die Debatte.

Zur Schlafenszeit trat Dinny ins Zimmer der Mutter und fragte:

«Darf ich also Wilfrid nach Condaford einladen?»

«Natürlich, jederzeit. Wir sind schon so gespannt, ihn kennenzulernen.»

«Ich weiß ja, Mutter, es kommt ganz überraschend, so bald nach Clares Hochzeit. Doch warst du ja vermutlich drauf gefaßt, daß ich euch eines Tages verlassen würde.»

Lady Cherrell seufzte. «Das wohl.»

«Ich vergaß dir zu sagen, er ist Dichter – ein wahrer Dichter.»

«Dichter?» fragte die Mutter in einem Ton, als habe diese Mitteilung ihre Unruhe erst recht gesteigert.

«In der Westminster-Abtei liegen eine ganze Menge begraben. Doch unbesorgt, er kommt nicht hinein.»

«Religionsverschiedenheit ist eine bedenkliche Sache, Dinny, besonders, wenn Kinder kommen.»

«Warum, Mutter? Kinder haben überhaupt keine nennenswerten religiösen Begriffe und später, wenn sie groß sind, können sie ja selbst wählen. Bis übrigens meine Kinder, falls ich welche bekomme, herangewachsen sind, hat die konfessionelle Frage im Leben nichts mehr zu bedeuten.»

«Dinny!»

«Auch heutzutage hat sie fast keine Bedeutung mehr, abgesehn von den streng orthodoxen Kreisen. Die Religion des Durchschnittsmenschen beschränkt sich zumeist auf gewisse ethische Grundsätze.»

«Davon versteh ich zu wenig, um mitreden zu können, und du verstehst wohl nicht viel mehr.»

«Liebe Mutter, streich mir doch ein wenig übers Haar!»

«Ach Dinny, wenn ich nur hoffen könnte, daß du eine gute Wahl getroffen hast.»

«Liebste Mutter, ich hatte keine Wahl.»

Ihr fiel ein, das sei wohl nicht der richtige Weg, die Mutter zu beruhigen, da sie aber keinen bessern wußte, gab sie ihr einen Gutenachtkuß und ging.

In ihrem Zimmer setzte sie sich hin und schrieb:

‹Condaford, Freitag.

Liebster!

Ohne Frage ist das mein allererster Liebesbrief, drum versteh ich's nicht recht, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Am besten, ich sag ganz einfach: ‹ Ich hab Dich lieb!› und laß es dabei bewenden. Nun hab ich daheim die frohe Botschaft verkündet. Meine Leute sind natürlich gespannt und möchten Dich gern so bald wie möglich hier begrüßen. Wann kommst Du? Erst wenn Du hier bist, werd ich in der Wirklichkeit leben, jetzt erscheint mir alles wie ein wunderschöner Traum. Hier geht es sehr schlicht und einfach zu. Ich weiß nicht einmal, ob wir vornehm leben würden, auch wenn wir es uns leisten könnten. Drei Mägde, ein Diener – Chauffeur und Reitknecht in einer Person – und zwei Gärtner sind unser ganzes Gesinde. Meine Mutter wirst Du vermutlich lieb gewinnen, ob Du Dich aber mit Vater und Hubert verstehn wirst, scheint mir zweifelhaft; doch glaube ich, Jeanne, Huberts Frau, wird Deine Phantasie reizen, sie ist so lebhaft. Condaford wird Dir ohne Frage gefallen, es versetzt einen in längstvergangne Zeiten zurück. Wir könnten miteinander ausreiten. Und herumspazieren möcht ich mit Dir und plaudern und Dir alle meine kleinen Lieblingsplätze und Winkel zeigen. Hoffentlich scheint dann die Sonne, Du liebst sie ja so sehr. Mir scheint sie hier fast Tag für Tag bei jedem Wetter, wie erst, wenn Du bei mir bist! Das Zimmer, das Du hier bewohnen sollst, liegt unglaublich ruhig und abgeschieden, Du erklimmst es auf einer Wendeltreppe, die ‹Pfaffenkammer› heißt es, weil Anthony Cherrell, ein Bruder des Majoratsherrn Gilbert Cherrell, unter der Regierung der Königin Elisabeth hier eingemauert war und das Essen in einem Korb erhielt, den man allnächtlich zu seinem Fenster niederließ. Er war ein katholischer Priester, der sich offen zu seinem Glauben bekannte, und Gilbert war Protestant, doch als anständiger Mann stellte er die Bruderliebe über die Konfession. Nachdem Anthony über drei Monate im Kerker geschmachtet hatte, riß man eines Nachts die Mauer nieder und entführte ihn über Land nach Süden zum Beaulieufluß, wo man ihn an Bord eines Seglers schaffte. Um den Schein zu wahren, warf man die Mauer wieder auf; und erst mein Urgroßvater ließ sie niederreißen, übrigens der letzte Cherrell, der ein größeres Vermögen besaß. Offenbar ging ihm das alte Gemäuer auf die Nerven, drum wollt er es los werden. Unter den Leuten im Dorf geht noch immer von ihm die Rede, vermutlich hat es solchen Eindruck gemacht, daß er vierspännig zu fahren pflegte. Am Fuß der Wendeltreppe befindet sich ein Badezimmer. Man ließ darin natürlich ein größeres Fenster ausbrechen, die Aussicht ist wunderschön, besonders um die Zeit, wenn Flieder und Apfelbäume blühn. Mein eigenes ‹Gemach›, falls Dich das interessiert, wirkt ein wenig eng und klösterlich, doch vom Fenster sieht man über die Wiesen zum Hügelkamm und den Wäldern. Seit meinem siebenten Jahr bewohn ich dieses Zimmer und möcht es um keinen Preis gegen ein anderes tauschen, außer du gibst mir

‹Juwelen und Spielzeug, das Freude mir macht,
Singvögel bei Tage, die Sterne bei Nacht.›

Ich glaube fast, diese Verse Stevensons sind mein Lieblingsgedicht. Wie Du siehst, fühl also auch ich den Wandertrieb in mir, trotzdem ich so sehr an der Heimat hänge. Vater ist übrigens ein großer Naturfreund, liebt Bäume, Tiere und Vögel wie die meisten Soldaten – sonderbar! Selbstverständlich ist diese Liebe mehr sachlich und verstandesmäßig, schwingt sich kaum zu ästhetischer Betrachtung auf, jeden Träumer halten diese Wirklichkeitsmenschen für etwas verdreht. Ich ging auch mit mir zu Rat, ob ich meinen Leuten Deine Gedichtbände zeigen soll. Doch ich laß es lieber bleiben, sie könnten Dich sonst gar zu ernst nehmen. Die Persönlichkeit selbst erobert stets die Herzen viel leichter, als ihre geschriebenen Werke es können. Heut nacht werd ich wohl nicht viel schlafen – seit Anbeginn der Welt der erste Tag, daß ich Dich nicht sehe. Gute Nacht, Liebster, alles Herzliche und einen Kuß von Deiner

Dinny

P. S. Ich hab für Dich das Lichtbild herausgesucht, auf dem ich einem Engel zum Verwechseln ähnlich sehe – das Bild, auf dem meine Nase am wenigsten in die Höhe ragt. Morgen schick ich Dir's. Inzwischen lege ich zwei kleine Momentaufnahmen bei. Und wann schenkt mir der junge Herr sein Bild?

D.›

So schloß dieser für sie ach so unbefriedigende Tag.


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