Irene Forbes-Mosse
Peregrina's Sommerabende
Irene Forbes-Mosse

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Die Tanne

(Eine Fabel)

        Die Tanne stand so manches Jahr
Im grünen Herrscherkleide,
Am blumenreichen Abhang war
Ihr lichter Thron der Freude,
Und hinter ihr gleich einer Wand
Das junge Volk der Buchen stand,
Zu Füssen ihr die Wiese lag
So manchen honiggoldnen Tag.

Und kam ein Sturmwind hart und schwer
Mit Tosen und mit Wehen,
Zog grimmig über sie daher,
Sie liess es stolz geschehen:
Nach Osten streckt sie Wurzeln aus,
Dort ist ihr starker Feind zu Haus,
Dort stemmt sie sich mit Vorbedacht,
Er hat sie nicht zu Fall gebracht.

Doch eine Nacht sich Wind erhob
Ganz sacht, mit leisem Lauern,
Der sonst den milden Regen wob,
Sie fühlt den Westwind schauern;
Nur wenig Wurzeln hat sie dort,
Sie traute seinem Freundeswort,
Er hatte ja so manches Jahr
Im Scherz gezaust ihr krauses Haar.

Weh, heute ist er hart und stark,
Und wild und rauh sein Schütteln,
Sie fühlt bis in ihr tiefstes Mark
Sein mitleidsloses Rütteln;
So höhnisch lacht er durch die Nacht
Wie sie in allen Wurzeln kracht,
Der ganze Wald den Athem hält:
Der König wankt – der König fällt!

Die Tanne lag in Majestät
Am Morgen – still und düster,
Ein Säuseln durch die Wälder geht
Wie trauriges Geflüster . . . . .
Ihr stolzes Haupt ruht tief geneigt,
Ihr reiner Opferseufzer steigt:
»Dem offnen Feind trotzt mancher Mann,
Der Arglist nicht bestehen kann!«

 


 


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