Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Wasserspiele von Terni

Mir war für lange die Lust vergangen, allein mit meinem Gedanken zu sein. Nur immer öde, hohe Winkel, stille Berge, schweigsame, leblose Hüttlein, das hält kein Mensch, der menschlich fühlt, lange aus. Ich fürchtete die Einsamkeit je länger, je mehr. Lache oder lache nicht, mein Freund, aber statt das Ränzlein zu schultern und bergauf, bergab über die Ketten des Velino ins Gelände des Polto zu steigen und von da hinüber zum Tuanerflüßchen, um mit ihm nach Terni und seinen Wasserwundern zu laufen, dankte ich meinen Führer ab und warf mich ins elende Wägelchen der Sulmoner-Bahn. Ich fuhr aus den Knien des Hochgebirges mit erleichtertem Atem in die Hügellandschaft der alten Sabiner hinaus. Vom Fenster der rechten Wagenseite sah ich hoch oben die klare Straßenzeile, die von Aquila über die mächtige Gran-Sasso-Kette nach Ceramo und von da ans Adriatische Meer geht. Eine prachtvolle Reise soll das sein, zu dreien oder vieren, mit Proviant und Revolvern versorgt, diesem Paß in die majestätische Gebirgshöhe und dann ans ewigblaue Gelände der Adria zu folgen. Ein andermal!

Atridoco... sieh da, schon eine andere Welt! Alle Wasser von Aquila gehen ins östliche Meer! Hier aber bricht der Velino aus einem schluchtartigen Tal und wendet sich ohne langes Besinnen westwärts, romwärts. Von jetzt an will alles nach Rom. Was da hüpft und springt und schäumt, alles schreit: Nach Rom, nach Rom!

Sei mir gegrüßt, Rieti, du weißes Kalksteinstädtchen mit deinen muntern Augen und leichtsinnigen Stirnen! Du hast etwas Erlöstes an dir. Sind es die Fluren um dich, der Obstgeruch deiner dunkellaubigen Gärten und die in ferner Dämmerluft zurückgelassenen Berge, warum du so frei aufatmest und dein Besucher mit dir? Ach, ich sage dir, wir tun unrecht. Wir täuschen uns. Gehe nur hinunter mit deinen Kindern nach Rom. Die heiße Stadt wird ärger auf euch lasten als alle Riesen des Gran Sasso... Aber was schwatze ich? Rieti lacht aus seinen Reben, dem gelben Korn und den schlanken, silberhellen Pfirsichbäumen heraus. Lache denn... und siehe selber zu, was dir wohl tut!

Und schau, schau, wie schnell das Lachen vergeht! Bald genug, gegen Terni zu, wird das Gesicht der Gegend wieder finster. Das machen die schroffen Abhänge des rechten Nera-Ufers, diese schwarze Schluchtwand, die näher und näher rückt. Alles wird enger, dunkler, wie vor einem Unglück. Dem Velino wird bange in seinem friedlichen Bett. Was gibt es wohl da vorne? Was steht ihm bevor? Wenn er es wüßte!

Ich steige aus. Noch eine halbe Stunde Marsch, und nun stehe ich am Rande des Abgrundes, wo der Velino schäumend und brausend in die Nera hinunterstürzt. Er tut das in drei Sätzen, zuerst zaghaft und sich sträubend, zwanzig Meter tief, dann, da es nun so weit ist und auf Tod und Leben geht, hundert Meter, und endlich verzweifelt noch eine letzte grauenhafte Stufe von sechzig Metern hinunter.

Langsam, langsam war ich dem Absturze entgegengegangen. Was wird das Großes sein?, dachte ich. In Italien macht man mit jedem kleinen Spaß, den ein loses Wässerchen treibt, ein gewaltiges Wesen. Was waren denn eigentlich diese Sprünge des Agnone in Tivoli bei Rom, womit man so ungeheuer prunkt? Nun ja, es ist ja hübsch, daß gerade bei einer Weltstadt so ein Schlingel von Bach seine unklassische Natur und Waghalsigkeit zeigt. Aber alles in allem bleibt er ein harmloser Tropf gegen die Wasserfälle in der Schweiz. Von denen kann er noch viel lernen: vor allem einen ganz andern Hochsprung, viel mehr Frechheit, Schäumen, Spritzen und Tosen; ein Unbändigtun, als müßte sogleich die Welt untergehen. Die italienischen Bäche sind zahm. So wird es auch beim Velino sein, ein mäßiges Wasser, ein schönes, braves Hinuntergleiten in eine Schlucht, eine klangvolle Melodie dazu, basta.

Aber wie ich mich dem Abgrunde näherte und das jenseitige dräuende Bord sah, hörte ich auch ein tiefes, unterirdisches Grollen und bemerkte schon das Aufwallen von Wasserdämpfen in die sonnige Luft. Nein, Schweizer, es muß doch etwas Großes da unten vor sich gehen. Spute dich!

Nun zog ich mit recht eigensinnigem, holzigem Stolze extra möglichst langsam vorwärts, einem trefflichen Ausguck zu. Weil alle Welt so hindrängte, wollte ich den Großhans spielen, der so was wie Terni und sein Wasserkunststück sozusagen in den Hosensack nimmt; der daheim ganz andere Sachen zeigen kann; ach was, aber der nun einmal aus Gutmütigkeit und Höflichkeit gegen die Welschen auch diesem Spielzeug ein bißchen Aufmerksamkeit bezeigen will. Nur erwarte man keine Hymnen! Ein Eidgenosse, der so oft am Rheinfall stand, ins Höllengrauen der Handeck hinunterstarrte, den Reichenbach photographierte und am wunderbaren Tosafall stand – der freilich auf der italienischen Bühne, aber mit Schweizerhelden seine Tragödie abspielt –, ein solcher Eidgenosse... ihr versteht, liebe italienische Freunde, wird an euern zierlichen Wasservagabunden keine Oden singen. Aber er wird das Käppi lüften. Alle Achtung! Es ist ja außerordentlich viel, daß euer zahmes Land auch nur noch diese Keckheiten der Natur zuweg bringt.

Noch ein kleiner Umweg! Ich stehe in halber Höhe zum obern und gegenüber dem mittlern Wasserfall. Und ich gestehe es, das hatte ich nicht erwartet. Ich ducke mich zusammen, ich bitte ab wegen meinem Hochmut, ich nehme alles zurück, was ich da prahlte. Nein, nein, das ist ein Wasserfall, besonders dieser Marmora, ein wirklicher und wahrhafter Wasserfall, kein Stiefgeschwister, sondern ein echter Bruder unserer schweizerischen Bachheroen. Die hellbraunen und doch so düstern Felsen, der tiefe Kessel, das Gelärm der Fluten, die paar Eichen und Terebinthen auf einzelnen Absätzen, die immer zittern und ihr Haar flattern lassen im Luftzug, der dieses unheimliche Loch durchweht, nein, das ist ein großartiger Witz, das ist ein Heldenspaß dieses an sich so geringen Flüßchens. So groß war es nie und so groß wird es nie mehr sein wie bei diesem Streich. Das ist der große Augenblick seines Lebens. Es hat ihn gepackt, wirft alles an ihn hin, stürzt sich kopfüber hinein und wird weltberühmt durch diese eine Minute, wo es Genie und Held ist. Es könnte noch so viele Fabriken treiben und Äcker bewässern und in geduldiger arbeitsreicher Wanderung noch so viele Völker segnen, das würde alles nicht an den Ruhm dieses einen wilden Augenblickes reichen. Seltsam zu denken, ergreifend in der lebendigen Anwendung auf den Menschen, aber durchaus wahr!

Einmal im Leben muß man durchaus aus seinem braven, biedern Philisterbett heraus, ja, gleichsam aus sich herausstürzen, einmal im Leben muß man Waghals und Held sein und ohne langes Besinnen den großen Streich wagen, den einem das Schicksal, vielleicht nur einen Augenblick lang, wie eine Krone entgegenhält. Man muß, will man nicht als langweiliger Mensch in einer entsetzlichen Korrektheit und Kleinheit seine Seele versanden und ersticken lassen.

Nachdem ich eine Weile die Fälle besehen hatte, kehrten die anfänglichen Bedenken wieder zurück. Ich mußte mir ernsthaft sagen, daß unsere Wasserfälle mehr Flut besitzen, höher und in schreckhaftere Abgründe fallen, daß sie titanenhafter tosen und eine weit wildere Umgebung zeigen. Wenn diese drei Fälle irgendwie in den Berner oder Walliser Alpen spielten, würden sie kaum groß beachtet. Dennoch, trotz diesen unleugbaren Wahrheiten konnte ich das tiefe Schaudern meiner Seele vor diesem Wassersturz nicht überwinden. Er blieb mir trotzdem als etwas Großartiges und Grausenvolles im Sinne.

Das kam so. Stundenlang hat man an der Nera und am Velino hinunter ein fruchtbares Wiesenland um sich gehabt, Ölbäume schimmerten, Weinberge grünten, Dörfer lachten aus großem Getreide heraus. Und ein schönes, liebreiches Wasser, dem man nichts als Artigkeit zutraute, ging melodisch mit. Darob hat der blaueste Himmel geleuchtet, und jene unvergleichlich rhythmischen Hügellinien, die nun einmal in das umbrisch-sabinische Bild gehören, Linien wie Wellen oder Kuppeln oder geschlängelte Bänder, haben gleich einem stillen, sanften Singen die ganze Gegend begleitet. Da hätte man denn eine reine, stille, leuchtende Stadt voll Blumen und Alabastersäulen, voll zierlicher Springbrunnen mit Putten erwartet; oder dann einen großen, glatten, tiefblauen See, befahren von weißen Schwänen und harmonischen Menschen; oder auch einen Park voll feingeschnittenen Büschen, Marmorthermen, lauschigen Lauben und feiertäglichen Leuten, die da lächelnd hin und her lustwandeln. Man hätte irgendein Fest, einen Sonntag, einen großen Frieden erwartet. Und nun: klüftet sich plötzlich die Erde tief auf, füllt sich eine Schlucht zwischen gähnenden Felsen mit Tosen und Stürzen, brodelt es in der schwarzen Tiefe, beschattet das Auge, macht das Herz bange; kurz, geht aller schöne Traum, das erwartete Rokoko-Idyll in eine revolutionäre Tragödie aus. Es geht mir, als hätte ich nach viel Lächeln und Spaßen einen Kuß erwartet, und nun bekomme ich einen Faustschlag. Er braucht nicht schwer zu sein. Eine kleine Hand genügt. Aber er schmettert mich doch zusammen.

Nein, darauf war man nicht gefaßt.

Das ist der düstere Zauber der Wasserfälle von Terni. Durch ihre mächtige Überraschung wirken sie so ungeheuer. Ich sah sie dreimal. Immer kam ich mir dabei vor wie ein Gast, der mitten im Hochzeitsfest voll Gitarrengeklimper und Becherläuten durch die Trommel eines Trauermarsches aufgeschreckt wird. Er läßt das Instrument aus der Hand fahren und das Glas in Scherben fallen. Er wird ernst. Er denkt an die Kürze des Lebens, an die Unsicherheit des Glückes und an die vielen Särge, die vor der lustigsten Stube stehen.


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