Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Das letzte Dorf

Wir gingen zwischen Steinen und dürren Kräutern in weglosen Windungen bergauf. Hinter uns lagen noch fünf, sechs Hütten und ein Kapellchen, schauten uns noch ein paar Menschen und meckerten uns noch einige Ziegen nach. Dann ward es still. Vor uns steht die große, leblose Einsamkeit dieser ausgedörrten, wasserlosen, steinernen Gebirge. Kein Mensch mehr, kein Dach, kein Tier. Nur noch Steine und steinerne Stille und oben der große, starre Himmel der Abruzzen.

Als wir schon ziemlich hoch oben waren, mein Träger Tieco und ich, setzte ich mich, um es nochmals anzustaunen, dieses allerletzte Dörflein dort unten. Ich sah den dünnen, kalkweißen Weg, der irgendwoher sich zu diesen Häuschen verlor, irgendwoher aus einer großen Menschenstraße bis in diesen Winkel herauf. Und ich sah, wie der helle Faden plötzlich abbrach, als wäre hier das Ende der Welt, als könnte kein Fuß mehr weitergehen, dürfte nicht weitergehen.

In diesem Örtchen Mulizio oder wie es heißt, ich fand es auf keiner Karte, sagten die Leute, weiter gebe es keine Dörfer und Menschen mehr. Ach, wie stolz sie das sagten! Wie einer, der den Rücken frei hat. Es klang fast so, als meinten sie: Da rechts in der Tiefe fängt es mit den Menschen an. Da, links gegen die Höhen, kommt gleich der Herrgott. Es waren sieben Weibsleute, vier oder fünf Männer und ein Haufe Kinder. Mager und hart sahen alle Gesichter aus. Von so viel Stein und von so wenig Halm wird niemand fett. Aber sie hatten keine Runzeln. Sie kannten ja das Staubschlucken und die Sekundenhetze und die Tyrannei der Gesellschaft und Gesellschaftsordnung nicht. Der Himmel ist zu nahe. Gelassene Menschen sind es, ruhige, zufriedene, schweigsame. Sie tragen noch eine alte, bunte Kopftracht und seltsame Busentücher und hosenähnliche Unterkleider, wie vor hundert und hundert Jahren. Und sie reden auch noch so alt. Kein Professor kennt ihre Grammatik. Sie blicken dich an, als kämest du aus einer andern Welt. Die Kinder recken sich an dir auf und betasten dich. Als ich ihnen im guten freundlichen Italienisch sagte: Vi reverisco!, schrien sie zu den Alten unter den Türen: Domm parling, Domm parling! Er kann reden, hört, er kann reden. So wenigstens verstand ich das.

Die kahlen Berge schauen, einer über den andern, auf diesen Winkel nieder. Das drückt und schattet. Daher haben auch diese Leute so dunkelgraue, schwere, schattige Augen. Aber das Weiße darin schimmert rein wie der Himmel. Man erzählte mir: ihre Kinder weinen nicht, wenn sie stürzen, und die Alten sterben ohne Seufzen. Es ist vielleicht nicht wahr. Aber man könnte es glauben, so wenig Wehleidigkeit und Sentimentalität hat hier Platz. Dieses letzte Dorf der Welt kommt einem wie eine wunderbare Dichtung vor, ohne Vers und Reim, urzeitlich, urweltlich, wie ein stiller Berg oder ein einsames ernstes Wasser, von Anfang so und am Ende noch so! Es war schwierig, sich hier verständlich zu machen, sogar für meinen umbrischen Führer. Wir redeten mehr mit den Fingern und Augen. Denn man muß wissen, daß wir hier zu den ohnehin verlassenen sibyllinischen Bergen erst noch an einer völlig unbegangenen Stelle den Aufgang nahmen. Vittorio Emanuele, Pio decimo? – Ja, das verstanden sie. Sie nickten, und ihre Blicke wurden freundlich. Guglielmo secondo? Niente! Tsar Nicolo secondo? Niente! I Giaponesi? Niente! Napoleone?... Sie stutzten. Vielleicht!... Gab es nicht einmal einen schwarzen Engel oder ein Ungeheuer dieses Namens?

Was für eine Politik und Historie haben sie? In ihrem Denken gibt es keinen Cäsar und keinen Bismarck, keinen Russisch-Japanischen Krieg, keine englische Flotte, kein Haager Schiedsgericht, kein Sternenbanner. Sie wissen nichts von Zollkrieg und drahtloser Elektrizität. Sie haben keinen Kinematographen gesehen. Könige sterben, Könige werden, Kaiserthrone modern, Republiken grünen –, sie bleiben hier oben das unveränderliche, letzte Dörflein mit seinen paar Ziegen, seinem magern Gemüse, seinen harten Maiskuchen und seinen kühlen Stuben. Und sie sind zufrieden damit. Man kann also leben ohne Weltgeschichte. Sieh da, Professor Guidone von Perugia, das hast du bei allem Aktenstudium nicht gewußt. Du würdest sterben ohne deine historische Vergangenheit. Die leben ohne sie, und leben gesünder als du.

Die Leute haben zwei Stunden ins nächste armselige Nest, wo man ihre Toten neben einer zerfallenen Kapelle rasch und wenig tief begräbt. Den königlichen Namen Dorf verdient auch dieser Ort noch lange nicht. Immerhin wird hier jeden Sonntag im Sommer eine heilige Messe gelesen. Dann gehen die Mulizianer hinunter und hören alles, was sie brauchen und wovon ihre kargen Seelen leben. Mit einem Duft von Weihrauch und mit dem großen Klang des Evangeliums gehen sie wieder die zwei Stunden bergauf in den Schatten der letzten, höchsten Berge, geradewegs an die Stiege des Himmels, wie sie es nennen. In ihren Ohren schallt und schwingt noch fort das allgewaltige:

»In illo tempore dixit Jesus...«

Zur gleichen Stunde singt es der Archidiakon in der größten Kirche der Welt, verkündet es der deutsche Pfarrer an der Ostsee, ruft es der Hofprediger vor dem Kaiser, rezitiert man es im Westminster zu London und geht es in der Neuen Welt von Kathedrale zu Kathedrale. Aber auch hier oben hört man die gleichen Worte, ohne Sammet und Gold, aber im gleichen lichten Messiasrock. Das Evangelium ist hier oben, wo man nichts vom Zar und von der Schlacht am Yalu und von der Krönung Georgs in Indien weiß, die Weltsprache, das Weltbekenntnis.

In illo tempore dixit Jesus:

Eccolo: vom Sämann und von der Witwe mit dem einzigen Heller, von der klugen Jungfrau und vom Samaritan und vom verirrten hundertsten Schäflein, vom Füßekuß der Magdalena, vom Mundkuß des Judas und vom reinen Kinderkuß des Meisters – und dann von Kreuz und Grab und Gloria – Weltsprache!

In illo tempore dixit Jesus parabolam hanc!

Ach, wie sie horchen, die wenigen Älpler, wenn der Pfarrer, selbst unter lauter Steinen und Bergmenschen ein Älpler geworden, aus dem alten Buch vorzulegen beginnt. Ums Kapellchen rauscht ein kleines Bächlein, huschen die wilden Rebstauden, meckern die Ziegen und schreien die winzigen Barfußkinder. Aber in die kleinen, mit roten Vorhängen halb geschlossenen Chorfenster schauen die grauen Berge herein mit ihren gelassenen ewigen Gesichtern und bestätigen stumm: Es ist so, wahrhaftig, es ist so!

In illo tempore – in jener Zeit nahm Jesus den Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, mit sich auf einen hohen Berg. Und da ward er vor ihnen verklärt. Und sein Antlitz leuchtete wie die Sonne. Und es erschienen Moses und Elias und redeten mit ihm. Da sagte Petrus zu Jesus: »Herr, hier ist gut sein. Wenn du willst, bauen wir hier drei Hütten, dir eine, dem Moses eine und dem Elias eine.«

Wo klingt dieses Evangelium schöner? Da sind sie ja, die Petrus, Jakobus und Johannes, hier oben, fern der trüben Welt, auf dem Tabor! Und sie hören Gott ganz nahe aus den Wolken rufen, wenn es blitzt fast an ihr Haar, wenn es donnert in ihr Gebein. Und sie haben hier drei Hütten gebaut, dem Herrn aber ein besseres Kapellchen. Und wenn sie herunterschreiten vom Berge wie die Apostel, dann heißt es auch: »Saget niemand, was ihr gesehen habt!« Nein, nein, wir verraten es nicht, wie zufrieden, wie allein und wie nahe wir der Ewigkeit sind!

Wer lange Zeit unter diesen Einsamen weilte, würde ihre Sprache allmählich ordentlich verstehen. Und da würde er mit Staunen bemerken, daß diese Leute im ernsten feierlichen Reden die Sprache der Heiligen Schrift wunderlich schön und unbewußt gebrauchen. »Und ich sage dir, so ist es. – Wahrlich, wahrlich, wir müssen sorgen, daß Giovanni, der Hirt, einen Knecht bekommt. – Es ist nicht möglich, daß er allein so viele Schafe hütet. – Gebt dem Knecht, was rechtens ist, und behaltet, was euch gebührt! – Unser Vater, der in den Himmeln ist, schirme dich, Kindlein! Er hat jedes deiner Haare gezählt. – Geh im Frieden, Pilger!« – Glaubt man nicht, im Lande der Patriarchen zu wohnen?

Es ist leider wahr, ich könnte doch nicht hier bleiben mit meiner Unruhe in den Füßen und Fingern. Ich bin verdorben von der Welt. Diese Einsamkeit ist zu gewaltig für einen, dem der Tingeltangel der irdischen Narrengasse alle Nerven zerrüttete. Aber ich beneide euch. Ich möchte sein wie ihr, Menschen zuhinterst und zuoberst auf Erden. Ich möchte mich an diese Einsamkeit gewöhnen, ehe die große Einsamkeit des Todes mich zwingt – gern oder ungern – einsam zu werden.

Nimm den Sack, Tieco! Avanti! Und vorwärts zu den sibyllinischen Gipfeln!


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