Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Glückliche Faulenzer!

Einen Tag hatte ich im Dörfchen Prio zugebracht, wo niemand lesen und schreiben konnte, aber wo man reichlich von seinen Weiden, dem Vieh und dem Obst zu leben hat, und wo die stärksten und flinksten Jünglinge und die muntersten Töchter leben, wo man jahrelang keinen Arzt sieht, in der Regel von nichts als vom zu hohen, atemdünnen Alter stirbt, und wo eine Achtzigerin noch Haselnüsse mit ihren weißen Zähnen aufbeißt. Am Abend sitzen sie beisammen über Stiegen und Straßen, und die Hirten erzählten alte Sagen, oder der Hausierer Marcote berichtet irgend etwas Fabelhaftes aus dem tiefen, fernen Menschenlande... »Dorther!« sagt er, und zeigt mit dem braunen Arm in den unendlichen Dunstring, der zwischen Himmel und Erde gen Sonnenuntergang liegt. –»Dorther!« wiederholen die Berglerinnen mitleidig, »aus solcher Tiefe und Elendigkeit! Die armen Sandwürmer!«

Als ich Prio am nächsten Morgen verließ und durch einen glitzerig grünen Kastanienwald ins Land der lesenden und schreibenden Menschen hinunterstieg, da war es mir, als hätte ich das Paradies einen Augenblick bewohnt und sei nun leider wieder auf jener gottverfluchten Erde angelangt, wo man auf dem Bauch kriecht, in saurer Miene schwitzt und Dornen und Disteln ißt: mit einem Wort, wo man wieder Zeitungen, Hefte und Bücher schreibt.

Ich bin in jener ersten bittern Verstimmung etwas zu weit gegangen, als ich sagte: Möchte doch die Menschheit eines Morgens erwachen ohne Schulmeister und Schulbuch! Mögen alle Zeitungen in hübsche Nastüchlein für saubere Menschen und alle Tintenhäfen in Blumentöpfe verwandelt sein! Ich ging zu weit. Nein, nein, das Tintengeschirr ist heute leider so notwendig wie die Milchtasse, und die Zeitungen sind beinahe so nützlich wie Nastücher. Das sehe ich wohl ein.

Aber ich sehe nicht ein, warum man diese Italiener ewig als Faulenzer und Nichtswisser beschimpft. Wenn man das Unwägbare wägen und die wahre Arbeit und das wahre Wissen zahlenmäßig feststellen könnte, du mein Gott, wie hoch würde doch die Schale eines sogenannten süßen Nichtstuers emporschnellen!

Vor allem: Muß denn ein jegliches geschrieben sein, was man denkt? Gibt es nicht sehr große Dichter, die keine einzige Zeile schreiben? Und ich glaube, unter diesen Hirten und Nomaden sind viele solche Poeten. Oder ist denn das erst ein Gedicht, was man in ein Buch schreibt, daß man es bewundere, und daß arme, geplagte Schulkinder es auswendig lernen können? Ist das etwa nicht auch ein feines und großes Gedicht, was so ein Nichtstuer auf dem Rücken sich austräumt, wenn er in den blauen Himmel guckt und den Ernst und die Lustigkeit der Wolken betrachtet und sich daraus eine Tragödie oder eine famose Posse erdichtet? Oder wenn er das Ohr auf die Erde legt und dieser altersgrauen Mutter das Herz aushorcht? Und ist nur das Musik, was einer in Noten setzt und von einem Trüpplein gerechter Geiger sich vorspielen läßt, und worüber dann die Kritik ihre wohllautenden Orakelsprüche abgibt? Ist vielleicht nicht auch das Musik, was so ein Analphabet alles hört, wenn er immer die gleiche, über ein Brett gespannte Schnur zupft? Er hört vielleicht eine Musik, wie Mozart im Rausch seiner Phantasien auf dem Spinett, wie Beethoven beim Sterben und Hinüberschauen in die Ewigkeit. Es singt vielleicht und orgelt so wunderbar durch seine Seele, wie man es mit dem elenden Behelf von Noten und Takten nicht aussprechen kann. Und doch zupft er nur immer an einer Schnur! Genug, daß er hört! Und so kann mancher Junge kein A und kein B zeichnen, aber er sieht Bilder im Nebel, im Baumgeschwirr, im Sandhaufen, daß ein Tizian und ein Phidias ihn darum beneiden müßten. Jawohl, viele von diesen Analphabeten sind Künstler, Dichter, Musiker, aber für sich, in ihrer Seele, ohne Bühne, Szene und Händeklatschen. Und oft habe ich mich gewundert, wie solche Analphabeten klar reden, scharf und schnell erwägen und sicher entscheiden. Die Schule mit ihrer unabweisbaren Schablone von Klasse zu Klasse, mit ihrem Einerlei durch die ganze Bank hin, mit ihrer Tretmühle des Gedächtnisses und ihren zwei Drohmännchen: Examen und Zeugnis, die Schule mit ihrer Abschaffung der Eigenheiten, der Persönlichkeiten, des Naturgenies der Zöglinge, ihrem Zwang und Drill und Nümmerchengeist, diese Schule hat die Analphabeten nicht bilden, aber auch nicht verbilden können. Sie sind noch naiv, die Abruzzenkinder, noch frisch und eigenartig. Sie denken noch ohne Lineal und Winkelmaß. Jedes redet anders, lacht, schimpft, gebärdet sich anders, ist etwas Eigenes und kommt mit dem eigenen Schiff dereinst an sein Gestade. Jedes ist mit einem Wort ein eigener Mensch.

Es gibt bunte Arten von Faulheit. Die eine ist ein Laster, die andere eine Krankheit, die dritte eine Philisterhaftigkeit. Von diesen dreien weiß die Abruzzenseele nichts. Ihre Faulheit, wenn man sie so nennen mag, ist die Faulheit der Natur, der Berge, der Bäume, des Meeres, der Tiere, besser gesagt, ist die Beharrlichkeit des Stoffes. Dabei ist der Abruzzer dennoch rege und frisch. Im Augenblick springt er gemsenschnell auf, und im Augenblicke schlendert er, streckt alle Viere von sich und schlummert. Aber er faulenzt nicht. Er hört und merkt alles. Das Lüftchen vom Gebüsch her, das Aufbellen der Hunde, die tausendfältigen Menschentritte auf der Straße, das Klingeln einer Kupfermünze irgendwo, der Stundenschlag, alles. Durch seinen Kopf wandern stete, rasche, bunte Pilgerzüge von Gedanken. Er lacht, flucht, hofft, macht Pläne, studiert, grübelt voraus und rechnet in Früheres zurück. Er redet mit sich. Tut er nur wenig das Auge auf, so fährt er den Linien von Himmel und Erde nach und zeichnet sie weiter, rundet, verlängert, schattiert, vollendet. So ist er. In dieser scheinbaren Faulenzerei hat er sich mit den köstlichsten Dingen beschäftigt und unendliche Kurzweil genossen. Der Deutsche, der Engländer, der Franzose verstudiert, verplaudert, verrechnet die Natur. Aber der Italiener liegt auf seinem schönen runden Römerschädel im Gras oder auf einem Mäuerchen, den Hut auf der Stirne, die Hände im Sack und rechnet nicht und schreibt nicht und redet nicht.... sondern sieht, hört, erlebt, genießt. Das ist mehr. Erst das ist nämlich genug.

Millionen Kinder müssen vom Morgen bis Abend in den Schulen, Millionen Jüngferchen und Jünglinge in höheren Studien oder in Arbeitskasernen ihre frische junge Seele ermüden. O wieviel schöner haben es meine Jungen von Pratimonte, von Lieghino, von Sassalpe und Montifiero... Viele hunderttausend Leutchen ihres Alters müssen das schönste Drittel des ohnehin knappen Lebens in den Studierbänken verbringen. Wenn sie herauskommen, sind sie keine Analphabeten mehr, sie sind vielleicht Doktores und Professores. Aber gar oft sind sie über einen Leist geschlagen, glatt gehämmert ist ihre einstige gehörnte, geniale Eigenheit, in der Ursprünglichkeit und natürlichen Schwungkraft sind sie fast alle geknickt. Sie fliegen nicht mehr wild und frei und hoch. Sie kennen ja jetzt das zahme Abc und leben auch danach in einerlei Geschrei und Trab und Mode.

Die Analphabeten der Welt... ich nehme jetzt das Wort weiter und nenne jeden so, der nicht auf die Kultur des Papiers, der Tinte und des Schulbakels schwört, die Analphabeten sind allein noch die sonnigen, kurzweiligen Originale der Menschheit und des Lebens, die andern sind fast nur noch Kopien oder gar Kopien der Kopie. Jene schwingen noch etwa die Fackel des Genies durchs vielzimmrige Welthaus. Diese tragen die Stubenlampe des Talents mit vorsichtigen Pantoffelschritten über ihren abgezirkelten Weg. Diese kennen das Tote, jene das Lebendige besser, diese schreiben und lesen und dozieren prachtvoll, jene leben noch prächtiger. Wer beides könnte, wäre der rechte Mensch.


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