Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Der Demokrat in der Kutte

In der schönen Franziskanerkirche liegt das Grab des Mönchs Bernardino von Siena. Eigentlich ist die ganze Kirche sein Grabmal. Denn schon acht Jahre, nachdem der Tod den rüstigen Mann mitten auf der eiligsten Reise in dieser Gebirgsstadt übernommen und in die Erde zu den andern Stillen und Stummen gelegt hatte, wurde diese prächtige und gemütvolle, wenn auch sehr ernste Kirche über sein Grab gewölbt.

Er wäre nicht hier geblieben, wenn er die Wahl gehabt hätte. Er wäre weit lieber in Mailand gestorben, woher er kam, oder in Neapel, wohin es ihn zog. In einer großen Stadt hätte er das letzte Stündlein begehen mögen, mit einem letzten Blick auf wimmelnde Gassen, das Getöse der Arbeit, der Aufregung, der Mühsale im Ohr und um sich den Geruch des Volkes, diesen ihm so lieben Duft schwitzender Stirnen, staubiger Füße, müder, heißer Hände. Nicht der Harzgeruch der Eichen hier oben, noch die stille Bergluft, noch die plaudernde Poesie der Wässerlein vom Gran Sasso. Nein, nein, nicht das! Bernardino konnte nicht mehr leben, ohne mitten im großen Volke und in dessen gewaltigen Lebensfragen zu stehen.

War er allein in seiner Zelle im Kloster, wie es die Mönchsregel so oft mich sich brachte, so ging er breitfüßig den engen Boden auf und ab und stellte sich vor, er mache den Missionsweg von Venedig nach Rom. Er betete laut, als ob hinter ihm ein Dom von Menschen mitbetete, oder er übte sich in einer Morgenpredigt mit den echten Gebärden eines Kanzelmannes, gerade als hätte er nicht vergitterte Fenster, bildlose Wände, eine Strohmatte und drei, vier Bücher, sondern zehntausend Augen und Ohren um sich. Alles wurde um ihn herum lebendig. Im Garten des Klosters fing er an mit den Schmetterlingen zu plaudern, aber – denn dies sind Aristokraten – noch lieber mit den Käferchen, Spinnen und Ameisen. Er sprach Hunde und Katzen und Pferde an. Aber wenn irgendwo ein Mensch zum Vorschein kam, dann ließ er alles andere liegen. Der Mensch, der unsterbliche Mensch ist da! Das war ihm das UnübertreffIiche. Für einen Menschen, einen ganz kleinen, ganz gemeinen, hätte er alle Berge und Wasserfälle, alle Statuen Griechenlands und alle Marmorbrunnen Roms gegeben. Alle Natur, alle Kunst für einen Menschen! Auch die Bücher, auch die Studien, auch den Psalter. Ein Mensch ist da!

Seine Wiege stand am bewegten, bürgerreichen Marktplatz von Siena. Bernardino war ein kluger und feiner Edelmann, an der Universität der erste Student, ein prächtiger Gesellschafter und liebenswürdiger Plauderer. Und schön! So schön, daß seine apollonische Figur auf Schritt und Tritt Aufsehen erregte. Daß er kein Spiel liebte und gern in einsamen Sälen ratschlagend auf und nieder ging, zeugte nicht gerade von seinem demokratischen Sinn. Aber da brach 1400 die Pest mit jener dämonischen Gewalt aus, in der sie Boccaccio schon 1348 gesehen und so klassisch beschrieben hatte. Bernardino hatte sie noch viel klassischer erlebt. Boccaccio ist in ein Landhaus geflohen, bis die grausige Beulenseuche sich verzog. Bernardino lief ihr entgegen, umarmte sie gleichsam, wusch ihre Eiterwunden, salbte ihre Narben, heilte, heiligte sie, während die ganze stolze Stadt zitterte und ihre Adeligen und Vermögenden sich in die fernen baumgeschützten Landgüter verkrochen, blieb Bernardino auf dem Platze, eilte ins erste und letzte Haus und trotzte an hundert Betten hundertmal dem Tode.

Nach dieser echt franziskanischen Reifeprüfung trat er in den Orden des Heiligen von Assisi. In jenen Tagen der wenigen und schlechten Straßen und der wochenlangen Reise, um nur von einer größern Stadt zur Nachbarin zu gelangen, mußte ein junger Mensch schon sehr viel Reichtum oder Gewalt und Würde und Keckheit besitzen, um über den Schatten seiner Provinz hinaus zu wirken. Bernardino war denn auch gewiß als Laie nicht weiterhin bekannt, obwohl er als reich und altadelig gelten durfte. Ein Principe war er eben doch nicht unter den zweimal zwanzig Fürsten der Halbinsel. Auch besaß er weder am römischen Hof noch bei den Sforza und Visconti und Este irgendeinen Fürsprecher oder nepotenliebenden Onkel.

Da haben nun die Bettelorden eine wahrhaft weise, demokratische Vorsehung gespielt. Über ganz Italien verzweigt, stellten sie ihre tüchtigen Leute sogleich an die bedeutenderen Posten der Arbeit. Für sie gibt es keine Entfernung. Ihre großen Prediger stehen im April auf der Mailänder Kanzel, halten die Pfingstpredigten in Sizilien und feiern den Advent droben im Österreichischen. Dem demokratischsten aller Orden, den Minoriten, verdankte Bernardino es, daß er sehr früh als gewaltiger Volksmann wirken konnte.

Es fällt auf, daß er zuerst unter den Ackersleuten Umbriens und den Rebenbauern Toskanas predigen mußte. Fünfzehn Jahre lang! Und doch kannten die Oberen seine fürstliche Beredsamkeit. Einen gleich großen Redner hatten damals weder sie noch irgendein anderer Orden. Dennoch mußte er dem Landvolk und Kleinbürgertum predigen. Über dieses Rätsel ist noch kein Forscher hinausgekommen. Aber was würden ihm Dokumente erklären? Seelenleser muß man sein. Wer Bernardinos Charakter studiert, findet für das Geheimnis wohl bald eine recht wahrscheinliche Lösung. Seit der Pest und dem franziskanischen Noviziat hat sich die demokratische Gesinnung Bernardinos immer kräftiger entfaltet und ist mit der Priesterweihe und dem ersten seelsorglichen Wirken rund und reif geworden. Von nun an ist er der reine, ausgesprochene Mann des Volkes. Die kleinen Leute bilden seine große Welt. Seine Kanzelsprache, sein Ton, seine Bilder und Beweise richten sich wunderbar nach der Einfalt des Volksherzens ein. Er schildert kräftig, malt dick und groß, wirft tiefe Schatten, zündet grelle Lichter an. Er erschreckt, begeistert, macht lustig und traurig mit oft beinahe brutaler Heftigkeit. Er fürchtet kein grobes Wort für eine grobe Sache. Selbst die Plastik und Wucht der Gassensprache ist ihm recht, wenn er die Gemeinheit der Gasse verspottet. Nicht das Adelshaus von Siena, sondern der Volksmarkt gibt ihm die Worte ein. Aber er weiß sie der grandiosen Bibelsprache in einer Art anzubequemen, daß der Gedanke nie auch nur ein Streifchen seiner Würde verliert.

Einen solchen Prediger konnten die Obern nicht an die feinen Höfe der Humanisten, in die Gesellschaft der Renaissance schicken. Ein Mann, der vor dem Ferrareser Herzog und den Medici in Florenz und selbst vor dem Piccolomini, einem so anders gearteten Sienesen, bestehen mochte, mußte das Evangelium ästhetischer verkünden, mußte griechische Dichter zitieren, Ciceros Perioden nachahmen, sangvolle Satzkadenzen formen und sich in der Mythologie fast so gut wie in der Christologie auskennen. Es kommt dazu, daß Bernardino der strengem Observanz im Orden angehörte. Dieser rigorose Zweig der Franziskaner hatte im lauen Zeitalter des Humanismus ohnehin einen harten Stand. Er galt als geistliche Roheit, als revolutionär, als fanatisch. Da fürchtete denn der Prior in Siena Ungelegenheiten von Bernardinos Eifer. Denn er kannte den Frate. Dieser schöne Mann mit den tiefen Brauenbögen, dem gelbblonden Haar, den Wangen, bald rot, bald blaß, dem vor Inbrunst blühenden Mund, der kleinen, raschen, tapfern Gestalt und einer Händebeweung, die aus dem gemeinen, dunkeln Habit heraus so leuchtende Zeichnungen zum Wort schrieb, daß man sie noch lang nach der Predigt durch die graue Kirchenluft meinte schweben und schwingen zu sehen – dieser Bernardino sah wie ein lanzenschwingender Erzengel Michael aus, wenn er gegen die Mißbräuche der Zeit redete. Die feine Welt hätte seine Blitze und Donner nicht ertragen. Ein andermal, ein andermal! Hätte ein Statthalter Felix nach dem andern gerufen.

Aber als das Volk in Prozession dem Heiligen nachzog, als ganze Provinzen unter seiner Tribüne zusammenliefen und keine Kirche die Zuhörer mehr faßte, als in den durchpredigten Landstrichen Zucht und Friede zurückkehrten und dem jungen Prediger durchs blonde Haar schon aschgraue Fäden liefen, da versuchte ein erleuchteten und furchtloser Prior den Bruder in Mailand zu verwenden. Zuerst in der Ordenskirche und in kleinen Gotteshäusern der Vororte. Aber jetzt gab es kein Aufhalten mehr. Von Straße zu Straße drang sein Ruf. Die Bürgerschaft verlangte ihn zum Fastenprediger im Dom. Sie fühlte, daß dieser Mann wie schon lange keiner mehr ihr Herz kannte, ihr armes, geplagtes, von keinem Fürsten und gar oft auch vom geistlichen Hirten nicht verstandenes, hungriges und durstiges Volksherz. Und nun erscholl die Stimme des mächtigen Kanzelrufers in Santa Maria Nascente vor einer unzählbaren Menge, die durch die Türen sich in dichtem, stillhorchendem Knäuel noch weit auf den Platz und in die Straßen hinaus fortsetzte.

Dunkelnächtig ist der Dom. Aber die Blitze von Bernardinos Evangelium durchzuckten ihn wie mit lebendigem Feuer. Schwer und breit lasten die Bündelsäulen des ungeheuren Baues vom Gewölbe zum Boden. Wie Felsen! Aber sie erbebten dennoch vor der Majestät und Unwiderleglichkeit dessen, was der Prediger von Jesus und für Jesus sprach. Eng schließen sich Quader an Quader, Bogen an Bogen zusammen. Aber noch inniger verschmolz in Bernardinos Sermon Satz mit Satz, Teil mit Teil und der Anfang mit dem Schluß. Und wenn sich die Wölbung des Domes so breit und hoch ausspannt, als gäbe es keine schwere Erde mehr und müßte darob gleich der offene Himmel sein, so war der begeisterte Schwung, womit der Mönch seinen Vortrag schloß und ihn mit der Hoheit und Liebe Jesu wie mit einer überirdischen Kuppel krönte, noch tausendmal überwältigender. Reich und arm, gemein und herrschaftlich, Krieger und Krämer, Herzog und Bettler, alles kam, horchte atemlos, bangte, zürnte, erblaßte, klopfte an die Brust und gelobte Besserung.

Von jetzt an wurde Bernardino auch Fürstenprediger. Aber er wählte die Worte nicht feiner und schliff den Satz nicht sorglicher. Gerade das wirkte. Rhetoriker und Theatraliker und Künstler kannten die Nobili zu Dutzenden, aber einen einfachen, evangelischen Sprecher nicht mehr. Da kam nun dieser Demokrat ohne Feile und Komplimente und sagte Maitressenwirtschaft des Landesherrn sei Ehebruch, Steuerdruck gegen die Untertanen sei Plünderung, Kriegführen aus Ehrgeiz und Erobern komme dem gemeinen Mord und Raub gleich, Prunk mit Denkmälern und Statuen sei Eitelkeit wie übertriebenen Schmuck anlegen, kurz und gut, ganz genau so heiße das Sünde beim Herrn, was als Sünde beim Bauer und Handwerker gelte. Du! rief er alle von der Kanzel an, du Herzog, du Knecht, du Färber, du Senator, du Bischof und du General! Keinen Namen nannte er ausdrücklich und keine Person stellte er bloß, damit er um so klarer ihre Sünden schelten dürfe. Jedoch so traf er weit genauer. Jeder fühlte den Hieb, der ihm von der Kanzel her galt, jeder die Beschwörung, die ihn zur Buße und Genugtuung trieb.

So zog der Mönch durch das obere und mittlere Italien. Es gab keinen Fürstenhof, der ihn nicht hörte. Der Doge von Venedig, der junge grausame Tyrann von Siena, sein Anbeter, der gewissenlose Machiavelli in Florenz, die leidenschaftlichen Este, die kühlen Medici, die Egoisten von Mailand, die harten Herren von Verona und Modena, die Bürgerschaft von Perugia und Bologna: alle verließen erschüttert die Predigt. Kriege hörten auf, Luxusbauten wurden unterbrochen, Abgaben vermindert, Ehen gültig gemacht, Kebsen entlassen, Schulen gestiftet, die Tracht vereinfacht. Den Armen ward Geld verteilt, Söldner wurden in ihre Heimat gesandt, Spitäler gebaut, Religionslehrer in die Provinz hinausgeschickt. Bruderschaften zum Schirm der Hilflosen, der einsamen Kranken, der Waisen, zur Pflege der Siechen, zum Begräbnis der Hablosen wurden überall gegründet. In nomine Jesu! Und alles für das Volk, alles für das Volk!

Den heiligen Redner freute es, wenn ein Regierender vor dem Evangelium das Knie beugte und seine Schuld bekannte. Aber wenn ein ganzes Volk unter seinen Trostworten aufatmete und mit großen gläubigen Augen ihm zunickte, dann war seine Freude unendlich größer. Oh, er wußte himmlisch mit ihm zu reden: Der Herr, der Allgerechte, werde richten und schlichten. Kein falsches Fädchen dulde er. Er werde, wenn sie nur seine Söhne sein wollten, die Lasten von ihnen nehmen, die Kriege fernhalten, die Saaten segnen, lachende Sprößlinge in ihre Stuben setzen, ihre Krüge füllen und ihre alten Tage wohlig machen. Er werde ihnen eine gute Obrigkeit, aber auch eigenen Verstand und Herzmut geben, daß sie nicht bloß gedankenlos gehorchen, sondern auch brüderlich mit den Herrschenden herrschen dürften. Denn auch sie seien Könige und Gesalbte vor Gott, weil ihre Seele so viel gekostet habe und so viel Himmel erbe als die Seele des Königs von Frankreichs oder des römisch-deutschen Kaisers. Wenn er dann zuletzt eine Fahne entrollte, worauf in flammender Schrift gestickt war: In nomine Jesu flectatur omne genu!, und wenn er sah, wie diese geliebten Tausende von Zuhörern sich freudig neigten und das steifste, aber auch tiefste Knie darunter einem zerknirschten Herrenmenschen gehörte, dann erst triumphierte die himmlische Demokratie seines Herzens, dann jubelte seine Stimme, dann segnete er, dann glänzte der heilige Schweiß von seinem Antlitz in tausend kleinen, feinen Diamanten – o sicher! –, dann sah er ganz Italien vor sich, alle vierzig Stätlein wie Brüder geeint und in den Staub gebückt vor ihrem großen, gemeinsamen Könige Christus.

Keinem Großen ist die paulinische Erfahrung vom falschen Bruder erspart. Auch Bernardino litt darunter. Es bemühten sich eine ganze Reihe Schwächlinge, diesen Starken zu brechen. Es waren Schwächlinge der Sünde, aber auch Schwächlinge einer weichlichen Güte, einer alten, aristokratischen Tradition, eines humanistischen Schwindels, moralische Furchthänse, Hasen des geistlichen Lebens, Schemeldiener und Hörige der Menschenfurcht. Bischöfe befanden sich in der Zahl, selbst Kardinäle.

Mit Verdächtigen fing es an, spann mit Lüge und Verleumdung weiter, stieg bis zu Anklagen der Irrlehre und endete mit einem oberhirtlichen Verbot, weiter zu predigen. Bernardino verschwand in der Zelle.

Kein Zeitgenosse weiß Genaueres aus dieser Zeit. Nicht ein glaubwürdiges Schriftstück kam aus jenen bittern Tagen auf uns. Was der Heilige in der Ungnade des Papstes und in der Verbannung von der Kanzel litt, drang mit keiner Silbe aus seiner Klause. Bernardino hatte großartig geredet. Noch viel großartiger schwieg er jetzt. Es war kein trotziges Schweigen, kein stolzes Verbeißen der Klage. Es war das demütigste und gehorsamste Silentium, das man je an einem Gescholtenen wahrnahm.

Man sah den Mönch mit den Konfratres in das Chor gehen, in seinem Stühlchen knien, am Pultlaternchen aus dem großen Buch die Nokturnen rezitieren und die Laudes beim Spiel der Morgenröte durch die Fensterbogen freudig psalmieren. Man sah ihn zufrieden und ruhig zelebrieren und Levitendienste beim Hochamt tun. Und das so häufige Wort der Psalmen iniquitas floß ohne Bitterkeit von seiner Lippe. Man wußte: dieser Held hält sich in Zucht. Aber er war doch immer ein Mensch. Und ein gewaltiges Temperament! So beruhigt er aus der Sakristei trat, es war die Ruhe nach Donner und Blitz und schwer durchfochtenen Gewittern. Droben in der Zelle von Ara Coeli rang der Mönch sich durch einen unsäglich harten Krieg. Der gedemütigte Kopf, das gekränkte Herz, die beleidigte Unschuld, das Heimweh nach der Kanzel, die Sehnsucht nach dem Volke, all das bedrängte ihn unendlich. Seine Klause wurde zu einem unerhörten Fechtboden, wo das Heilige mit dem Menschlichen rang, bis die letzten Reste von Eitelkeit zerstoben und Bernardino wieder selig wie ein Kind lächeln konnte. Er ist so das Vorbild aller Edeln geworden, denen von dort, wo das Recht kommen müßte, unrecht geschieht. Allen sagt er: Selig, wenn ihr dulden und schweigen und zufrieden lachen könnt, aber unselig seid ihr, wenn ihr trotzt. Gott will, daß ihr warten lernt. Warten heißt Siegen.

Bernardino wartete nicht umsonst. Die Art seiner Unterwerfung war seine beste Rechtfertigung. Der Heilige Stuhl gab ihm volle Genugtuung, erklärte Bernardino für unschuldig, stieß den Prozeß um, öffnete ihm alle, auch die römischen Kanzeln, und trug ihm zu dreien Malen den Bischofshut an. Er empfahl den Prediger den Bischöfen und Fürsten zur Abhaltung von Missionen und stellte ihn den jungen Dienern der Kanzel zum Muster vor.

Wieder übte Bernardino sein Lehramt in einem wahrhaft königlichen Siegeszug durch das obere Italien bis Florenz hinab. Noch kraftvoller wurde sein Wort, noch reicher die Saat seiner evangelischen Gedanken; aber auch eine wunderbare Milde gegen die Schwäche, eine Barmherzigkeit, die freundlich hob und Mut machte, brach sich jetzt, wie nie zuvor, durch die reißende Gewalt seiner Predigt durch. Sie zähmte seinen ehrlichen und tapfern Satz nicht, aber sie ließ in dem für viele so schreckhaft strammen Gebäude des Glaubens überall Fenster der Hoffnung und Liebe offen. Wo nur ein Splitterchen guten, demütigen Willens blieb, neigte sich die Mönchspredigt wie ein Samaritan dem Sünder zu, hob ihn aufs Maultier, führte ihn zur Herberge, salbte seine Wunden und zahlte die Pflege- und Heilkosten für ihn. Und alle mußten sich nach der Predigt brüderlich die Hand reichen.

In Ferrara schwang er das evangelische Wort noch einmal mit der Schärfe eines zweischneidigen Schwertes. Denn hier regierte der Herzog hart und knechtete das gemeine Volk bis in den Kot. Bernardino schleuderte ihm den Goldbeutel der Bestechung vor die Füße, lachte über seine Drohungen und bezwang ihn schon am dritten Tag. Das war ein großes Schauspiel für die ganze Stadt. Noch lange sprach man davon. An der damaligen Piazza del Duca, dem Dom gegenüber, hielt zwölf Jahre später eine Witwe ihren Jungen zwischen den Knien und erzählte, daß sie an jenen Abenden unter der Kanzel gestanden und gehört habe, wie er dem Tyrannen das Herz aufblätterte und durchlas wie einer der alten Seher, und wie er ihn zittern machte mit einer einzigen erhobenen Hand, aber wie er mit der andern das Volk in der Gnade Jesu Christi ermutigte. Und da flammten dem kleinen Gerolamo die Augen seltsam feierlich auf, seine Lippen rissen auseinander, als wollte er auch schon gewaltig sprechen; der magere Knabenleib erzitterte wie von einem innerlichen Erdbeben, und als es eines Tages hieß, er müsse Arzt wie sein seliger Vater werden, da entwich er nachts, und sein erster Brief, um Verzeihung bittend, aber im Vorsatz beharrend, kam aus dem Dominikanerkloster von Bologna und war unterschrieben: Unwürdiger Novize Gerolamo Savonarola!

Dreißig Jahre später predigt dieser Mann in Santa Maria del fiore wie ein Jüngsttagrichter und verkündet die göttliche Demokratie der Republik Florenz! Das Bild des Tyrannenbrechers Bernardino, des heiligen Donnerers, lebte im Jünger. Hätte er doch auch das andere Bild Bernardinos gekannt: des heiligen Schweigers!

In voller Rüstigkeit – Bernardino wurde je älter, je gesünder und stärker – rief man ihn nach Neapel, ins volksreichste Land, wo er noch nie gepredigt hatte, wo die Sünde der Mächtigen heißer als der Vesuv glühte und die Masse des Volkes in Verwahrlosung und geistlicher Unwissenheit erstarrt war wie die Lava an den Hängen des Kegels. Längst hatte es den Prediger dorthin gezogen. Mit der Sehnsucht eines Paulus eilte er auf dem kürzesten Weg durchs Gebirge gegen Sulmona auf Capua hinunter. Da, mitten auf der Straße im einsamen Hochgebirge, packt ihn das Fieber an, wirft ihn auf die Strohmatte der Franziskaner und rafft ihn nach ein paar Stunden hin.

O wie ungern – menschlich gesprochen – muß er da gestorben sein! Zwar die Legende erzählt, er sei mit einem Lächeln verschieden. Nun ja, die Heiligen wissen zu sterben. Sie verstehen es, noch dabei zu lächeln. Das macht ihnen niemand nach. Aber darum gefiel Bernardino dieses verriegelte Städtchen zum Sterben doch nicht besonders. Er hätte es andern gewünscht. Neapel, Fischer, Gassenleute, Krämer, Bettler, Gedrückte, Seufzende – hätte sie segnen, hätte ihnen noch einmal zurufen mögen: »Brüder seid ihr, alle Brüder, mit dem Papst und den Königen. Gleichmachen wird euch der Herr an seinem Tage. Hand in Hand werdet ihr gehen, und es wird greifbar wahr werden das Evangelium, wo man sich du sagt, du Fischer und du Kaiser, du Krämer und du Bischof, ihr alle gleich unsterbliche Brüder Christi.«– Oh, ich weiß, in Bernardinos brechenden Augen droben am Berg glitzerte noch eine heilige Sehnsucht nach den fünfzig gleich Wüstenbronnen dicht umlagerten und umdürsteten Kanzeln dieser seelenarmen, seelenreichen Stadt am Meer.

Es sollte nicht sein. Im Anblick stummer Tannen und Felsen, die ihm so viel weniger gefielen als Menschen, mußte er sterben.

Gott ist die unergründliche Weisheit. Vielleicht hat Bernardino einst im Anblick der Zehntausende, die ihm zur Kanzel eine ehrerbietige Gasse öffneten, eine geheime menschliche Eitelkeit verspürt, so eine leise Selbstgefälligkeit, die fein, lautlos, blitzschnell wie ein Mückenstich an uns gerät. Oder vielleicht auch wollte Gott, daß dieser Held des lauten Lebens und lärmenden Volkes, dieser Demokrat der Kanzel, dieser Mönch ohne Zelle, ohne schweigsame Stunden, ohne Ruheplätzchen, wenigstens für den wichtigsten Augenblick seines irdischen Wandels einen friedlichen, stillen Ort finde. Da zog er ihn zwischen die höchsten und einsamsten Berge des ganzen Landes, um ihn ja recht sicher zu haben. Und hier ward dem großen Prediger von einem noch größeren gepredigt: Stille sein!

Und so ruht denn sein einst so unrastiges Gebein hier im schattigen Aquila. Mir war, als ich am stillen Grab stand, ich höre sie wieder: die unzähligen Schritte dieses Menschen durch die ganze Halbinsel, das Rauschen seiner Ärmel bei den Gesten, die gewaltige Melodie seiner Kanzelsprache, die wie Orgelspiel in den weichen, tiefen Bässen geklungen haben muß, besonders aber dieses eine geflügelte, unruhige, ewig dürstende Apostelwort: Amplius!, weiter, o nur immer weiter!


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