Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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»Bei seinem niedrigen Leben freute sich der Friani doch auf jede Weihnacht, als käme da seine Erlösung. Aber drei Jahre hintereinander fand er den Engel bei dem Umzug nicht mehr, und alles ward ihm lichtlos.

Oft bestürmte er seine Amme, die Mutter Robertas: ›Wo hast Du den Engel versteckt? Ich brauch' ihn. Er soll mich weiß machen... Oder nein, sag' es lieber nicht, ich könnte ihn am Ende schwarz machen...‹ In bösen Augenblicken schlug er die Frau; einmal sperrte er sie wochenlang in den finsteren Hausturm; ja, er soll sie dort gefoltert haben, weiß ein Schwätzerchronist. Das glaub' ich nicht. Diese demütige Magd, die eine so tapfere Mutter war, imponierte ihm. Und zuletzt befahl er immer: ›Nein, sagt es mir nie, wo Roberta steckt; auch nicht, wenn ich Euch erwürge!‹ – Der Magd sagte er du, der Mutter Robertas respektvoll ihr!

Ach, diese Mutter hatte den jungen Herrn mit sonderbaren Frauen und Fräulein kommen sehen, bankettieren, sie küssen und beschimpfen in der gleichen halben Stunde, ihnen den Schuh zur Türe hinaus nachwerfen und sich dann unter Tisch und Stuhl hinunter betrinken. Alles wollte die Witwe erleiden, nur nicht ein solches Leiden der Tochter. Daher war sie lange Zeit in Empoli in Dienst, und wenn sie in Gimignano bei der Tante weilte, so lag doch das elende Hüttlein außer der Stadt, am stillen Hang zum Elsatal hinunter. Die Mutter konnte ihr Kind nur besuchen, wenn Agostino im Rausche lag. Und immer fragte dann Roberta nach ihm. Und immer flehte die Mutter: ›Frage nicht; ich kann dir nur Wüstes von ihm berichten!‹ Dann schwieg die groß, ernst und tapfer erwachsene Jungfer, aber ihre Seele fragte noch immer.

So kam nun wieder der Christabend mit dem Umzug. Jetzt geschah der erste Streich der Roberta.

Sie ging unter den großen Engeln. Agostino war Herodes. Als er sie sah, schwindelte ihm. Mitten im Zug sprengte er in die Engel hinein und drängte zu Roberta vor.

›Halt!‹ herrschte sie ihn an und wurde bleicher als Schnee. ›Halt! Die Hirten dürfen nicht zu nah' an die Engel kommen!‹

Der Friani stutzte, ward ebenso bleich und stammelte verlegen: ›Aber ich bin König Herodes!‹

›Um so schlimmer!‹ rief Roberta hallend laut über den Platz. ›Und ich bin nur ein bettelarmer Engel!‹ – Dann kehrte sie ihm den Rücken.

 

Aber daheim fiel sie zu Boden und weinte bis zum Morgen, weil sie sich einen Engel gerühmt und noch mehr, weil sie, die Bettlerin, ihn wie einen noch elendern Bettler behandelt hatte. Ach, wie hatte ihr vor dem trostlosen Dunkelblau seiner Augen geschaudert! Welch ein Mitleid schüttelte sie, als sie an seinen bitter verzogenen Mund dachte. Wie elend, wie gar nicht weihnachtlich hatte sie gehandelt. Um sie von der Prozession abzuschrecken, hatte die Tante ihr endlich alles Wahre und Unwahre erzählt, was das Gerücht über den heimlich und immer Geliebten wußte. Das hatte die Jungfer überwältigt. Doch jetzt, bei der Erinnerung an sein Bleichwerden und an seine Miene voll ehrlicher Bubenangst konnte sie unmöglich all das Böse glauben. Und, o Herrgott, wenn auch alles wahr wäre, sie liebte ihn dennoch und gerade jetzt, wie noch gar nie, liebte ihn zum Herzzerspringen.

Welch ein schweres, trauriges Jahr schlich nun bis zur nächsten Weihnacht hin! Oh, dann wollte sie das Verpaßte einholen und den Fehler gutmachen.

Aber noch viel lastender waren die Tage für Agostino. Wie ein Wahnsinniger war er aus der Prozession davongaloppiert durch die leere Stadt, immer noch in Goldreif und Purpur des Herodes. Und sicher hätte er in der jetzigen Tollheit nicht bloß die unschuldigen Kinder, sondern auch alle Jungfrauen und Männer, groß und klein, von Gimignano niederhauen lassen, wenn er die Macht dazu gehabt hätte.

Eine ungeheure Aufregung hatte die Stadt wegen dieser Störung des Zuges ergriffen. Das haben die Salvucci angestiftet, hieß es. Nicht einmal Weihnachten gibt mehr Frieden. Und man verschanzte sich in die Türme und bewaffnete sich bis ans Kinn.

Nur die Witwe Roberta war wehrlos, als der Junker ins Haus stürzte und mit beiden Fäusten auf sie losdrang. Sie floh rückwärts, bis in den Stubenwinkel. Aber da nahm sie sich zusammen, hob den Kopf und sagte: ›Schlagt nur zu! 's ist ja bloß eine Frau!‹ – Und als er zauderte: ›Mein Mann starb für Euern Herrn Vater. Schlagt zu, aber sagt mir vorher, für wen ich sterben soll!‹

Das traf. Agostino bog sich und küßte der Frau die Hand. Aber nach den Tagen der Reue kamen die Tage der Wildheit und Empörung wie hungrige Wölfe zurück. Was litt die Witwe da! Er schmeichelte ihr wie eine Katze, bellte sie an wie ein Hund und drangsalierte sie wie ein Tyrann seine Sklavin, nur um zu erfahren, wo Roberta sei. Er wollte sie heiraten, er könne nicht leben ohne sie. Sie hätten ja beide die gleiche Milch getrunken. Sonst breche er in die Häuser und suche und verderbe, was er nur könne. Oh, er finde sie schon! Aber dann Gnade ihr Gott! Sie sei ein Engel. Ohne sie werde er immer schlechter.

Wie Gewitter rollten diese Reden mit Blitz und Donner über die Frau hin. ›Nein, nein!‹ schrie sie, und auf jedes Nein traf sie ein Faustschlag. Er strafte sie mit Hunger und Haft im Turm, ließ ihr Tag und Nacht keine Ruhe, umgab sie mit Spionen und gestattete ihr keinen Schritt zum Haus hinaus. Dann ging er mit seinen Helfershelfern tagelang auf die Suche, und das Mutterherz zitterte, bis er leer heimkam. Dann wieder nannte er sie sein Schwiegermütterchen, liebkoste sie, weinte und flehte sie mit den blauesten Augen der Welt an, doch Mitleid mit ihm, mit sich und mit der Tochter zu haben. Das alles und noch mehr der Zweifel, ob sie eigentlich recht tue, ob Roberta wohl den Ruin aufhalten könnte oder mitruiniert würde, und trotz allem eine heimliche, fast mütterliche Liebe zu Agostino und sein sicheres Rennen ins Elend vor Augen, das alles warf sie nieder, um nicht mehr aufzustehen. Sie wurde immer schwächer und konnte doch das Heimweh, ihr Kind noch einmal zu sehen, nicht stillen. Denn der Junker bewachte das Haus wie ein Falke; selbst im Rausch war er hierzu noch nüchtern genug. Eines Nachts aber, als unter ihrer Diele gezecht und gebrüllt wurde und die Witwe sich besonders elend fühlte, übernahm es ihre Kraft, und sie bat die zweite Küchenmagd, um Gottes willen zum Hüttlein des Prati, eine Viertelstunde unter der Porta San Matteo, zu laufen und Roberta zu holen. Die Mutter sterbe.

Jetzt ging alles rasch. Das falsche Mägdlein verriet den Auftrag dem Junker; dieser zog betrunken mit seinen Betrunkenen sofort nach dem Versteck Robertas. Sturm aufs Haus, eine schwer mißhandelte, vor Schreck halbtote Frau, aber keine Roberta. Fluchen, Zertrümmern, in Brand stecken des Hüttleins und im Katzenjammer nach Hause torkeln.

Rechts und links verloren sich die Spießgesellen stumpf und scheu in den Seitengassen. Agostino, zerfahren und zerschlagen, stieg schwierig zur Kranken empor. Da brannte die Totenkerze. Ein müdes, weißes Leichengesicht lag im Kissen, mild, gütig, ohne Klage, die Augen für immer geschlossen. Verzeihung übers ganze Antlitz ergossen, eine Magd und doch so adelig wie kein Friani, noch Ardinghello. Der Junker brach am Bett zusammen.

Eine lange Krankheit, schwere Geldbußen und bittere Vorwürfe des niedrigen, herzlosen Volkes gingen über ihn. Aber die Adeligen beschirmten den Standesgenossen, entschuldigten sein Vergehen, und viele waren sogar stolz auf solche vornehme Bengelhaftigkeit. Von ihm selbst wußte man nur, daß er sehr langsam genese, nur noch Wasser trinke und kaum ein Wort rede. Weihnachten kam, und er hatte noch nie das Haus verlassen, sich nicht einmal am Fenster gezeigt und keiner Menschen vorgelassen. Es ist heilloser Stolz, hörte man sagen. Gebt acht, der Junker bereitet einen unerhörten Streich vor.

O ja, einen Streich, wie man noch nie gehört, aber ganz anders, als ihr Leutchen denkt!

Im Dunkel und Fackelschein der Nacht zog die Prozession langsam vom Dom her durch die Straßen, und sieh da, wer trug das Christkind im blauen Kleid der Madonna: Roberta. Oh, auch sie hatte einen Streich vor, und wahrlich keinen madonnenhaften, daher sie die Hilfe der listigen Salvucci nicht ablehnte. Aber sie wollte für sich und das arme Volk handeln, nicht für die Adeligen, so oder so. Vor dem Friani-Palast wollte sie den Mörder ihres Glückes so lange herausrufen, bis er kommen mußte und sich dann vor dem gesamten Aug' und Ohr der Stadt bis in den Staub demütigen.

Unter Gebet, Sang und Geplauder mit den Umstehenden wallte der Zug dem großen Ereignis entgegen, das nur Roberta kannte. Und auch sie kannte es nur halb. Fest biß sie die Lippen zusammen, je näher man der Entscheidung kam. Sooft sie das Kindlein betrachtete, das trotz Lärm und Feuer ruhig in ihren Armen schlief, wollte jene alte Liebe oder doch ein mit ihr verwandtes Mitleid erwachen. Aber dann dachte sie an das elende, einsame Sterben ihrer Mutter, an den Überfall und Brand des Hauses und an die Geistesgestörtheit ihrer guten Zia und überhaupt, daß sie wegen des nobeln Verbrechers da nie frei und froh wie andere, sondern immer im Schatten und Versteck, fern von der Mutter, die blauesten Jugendtage hatte vertrauern müssen. Nein, nein, jetzt sollte schonungsloser Gerichtstag sein, Gerichtstag nicht bloß für sich, Gerichtstag für das ganze, unter den Herren leidende, so unbeholfene Volk.

An den Fenstern und unter den Türen hielten Mütter ihre Kinder, blickten die Kranken für einen Augenblick wie Gesunde ins Fest, riefen Bettler um Almosen oder schrie ein Schuldner seinen Gläubiger um Gnade an. Selbst aus den vergitterten Lucken des Gefängnisturmes reckten sich dünne Arme. Und dreimal durfte die Madonna nicken, und jedesmal mußte da Gnade für Recht ergehen.

Dreimal nickte sie auch, und jedesmal griff es ihr ans, ach, so menschliche, so weibliche Herz. Sollte sie nicht noch ein viertes Mal?... Nein, nein! Und härter ward ihr schmales Liliengesicht.

Jetzt um's Eck des Clarohauses, da ist die Piazetta, da ist der Friani-Palast mit dem Prachtfenster. O Gott, was ist das?

Am steinernen Mittelpfeiler sich haltend, zitternd, gebückt, kriecht etwas aufs Gesimse hinaus. In grauem Sünderhemd kniet es da, ein mageres, furchtbar weißes Gesicht reckt sich auf, es spannt die Arme, es öffnet den Mund, es neigt sich tief und tiefer bis zum Fensterrand, und die lautlose, wie erstarrte Prozession hört einen schwachen Schrei: ›Misericordia!‹

O Himmel und Hölle, Agostino! flüstert es durchs Volk. Und die Salvucci, die so viel von diesem Abend und von Roberta gegen diesen Häuptling der Ardinghelli gehofft, ahnen, daß hier höhere Politik walte.

Agostino richtet sich auf, sucht mit seinen blauen Augen die Madonna, verneigt sich ein zweites Mal bis zum Gesimse, und wieder schreit es wie aus einem verängstigten Kind heraus: ›Misericordia!‹

Und so siebenmal. Das ist kein Theater. Das ist so ernst wie der Tod.

Roberta steht da wie vereist, sieht, hört, vergißt alles, alles hinter sich, weiß nur noch von diesem Menschen da oben, und langsam, langsam, wie wenn Sonne in den erfrorenen Baum fällt und es süß zu tauen beginnt, tropfen Tränen über ihr Gesicht. Sie wollte fluchen und muß segnen. Sie wollte den Säugling wie eine Schande gegen ihn, den natürlichen Vater erheben; nun küßt sie das fremde Kind, als wär' es ihr eigenes: sie wollte hassen und muß lieben.

Ach, was sind wir Gimignaner für harte und doch wieder so wachsweiche Menschen! Bei der dritten Verneigung des Büßers brauste es im Volke von Mitleid. Beim vierten rief man: Genug, genug, alle verzeihen dir! Beim fünften gab es nichts mehr als Verehrung für Agostino; beim sechsten beneidete ihn auch die, die schwer von ihm gelitten, und beim siebenten Bücken schrie alles: Un Santo! Un Santo!

Aber da überscholl eine Jungfrauenstimme den Lärm: ›Nein, kein Santo, ein großer Sünder, aber einer, der bereut und gutmachen will! Komm' herab, Friani, zu deinem Kind und zu deiner Braut! Wir sind keine heilige Familie, aber wir wollen wenigstens eine brave Familie werden.‹ – Und sie hob ihr vom Purpur der schönen Scham übergossenes, wahrhaft adeliges Madonnengesichtlein und das aufwachende und staunende Kindlein zu ihm empor. Und da sah man auch sein todtrauriges Gesicht leise nicken und lächeln...«

»Was ist noch zu sagen«, schloß Ettore, trank das Glas aus und erhob sich. »Hochzeit, glückliche Ehe, schöne Kinder, weiser Staatsmann, das versteht sich, und immer Wasser trinken, Wasser trinken; denn von seinen Schlingeltagen her hat Agostino, wie ich, einen steten Durst ins gelassene Leben hinüberbekommen. Roberta hat ihn gewiß auch oft unter die Pantoffeln genommen. Aber mit so viel Liebe und Klugheit und Wasser hat sie ihm auch zu manchem Erfolg geholfen. Aber, ich weiß nicht warum, von da an hat man im Christnachtzug keine lebenden, nur noch wächserne Weihnachtskindlein herumgetragen...«

»... Ihr habt es zu kurz gemacht«, klagte ich leise, da Ettore schwieg. »Aber es war doch schön und hat mich so gepackt, daß ich selber auch einen frommen Durst nach dem Brunnenwasser bekam. Die Sonne ist verschwunden. Gehen wir, füllen wir die Krüge, die Krüge des Segens.«

Still lag das Land. Festliche Wolken schwebten am Abendhimmel. Von den Kirchen hob das Geläute an, und in den uralten Straßen schwärmte ein sichtlich sorgloses Volk herum. Eine schöne, südliche Christnacht brach rasch herein. Wie oft in meiner nordischen Winterstube denke ich noch daran!


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