Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Endlich brachte der König Karl von Anjou es durch Schmeicheln und Gewalttätigkeit fertig, den Heiligen Vater in seine Residenz Neapel einzuquartieren. Von nun an regierte der Anjou die Kirche. Er las die Kandidaten des Kardinalsenats durchweg aus seinem französischen Klerus aus. Petrus hatte nur ein willenloses Ja zu nicken. Zuletzt wollte sich der König sogar schon einen ihm genehmen, sklaventreuen Papst als Nachfolger dieses Greises sichern. Die paar ernsthaften und unabhängigen Kardinäle sahen mit tiefem Kummer, in welche unziemliche Dienstbarkeit der Heilige Stuhl mehr und mehr verfalle. Da heimsten nun auch sie den Lohn für ihre ungeistliche Furcht vor einem starken Papst ein. Dafür trugen sie jetzt das Joch eines tyrannischen Königs und den Unfug von hundert kleinen, welschen Päpstlein. Diese Einsicht reinigte manches Herz. Immer mehr erlosch der Hader zwischen den italienischen Orsini- und Colonna-Kardinälen, immer mehr auch der Schrecken vor einem päpstlichen Helden und Eiferer. Ja, zuletzt war die Sehnsucht nach einer starken Innozenziusstirne und Innozenziushand in manchem geheimen Prälatenbrief und selbst in offener, tapferer Predigt laut.

Es ist nicht zu sagen, wie unglücklich indessen Papst Cölestin – so hieß er sich wohl im Heimweh nach seinem verlorenen, heiligen Berghimmel – die glänzenden Hoftage von Neapel verbrachte. Jeder neue Morgen sagte ihm mit neuer Klarheit, wie unfähig er zum Regiment der Weltkirche sei. Während er noch eben im Gebirge wie ein Jüngling ausgeschritten war, behend, mit roten Greisenbäcklein, leichtatmig und scharfäugig, siechte er jetzt in den Sälen dahin, welk, müde, kurzsichtig, und vermochte die Tiara nicht ein Viertelstündchen lang auf dem Kopfe zu behalten. Und der sollte den christlichen Erdkreis tragen? Sowie er sich unbelauscht meinte, streifte er den schweren Siegelring und die mächtige Brustkette ab, schlüpfte aus den goldbrokatenen Pantoffeln und lief barfuß und barhaupt ans Fenster, in das – ach, kein Abruzzenlüftchen!, sondern der vulkanische Atem Neapels dick und lavaschwer hereinfloß. Wenn dann der Kämmerer stirnrunzelnd vorstellte: »Aber Heiligkeit, Eure Würde! Das Ärgernis!«, dann schob Cölestin seine erdbraunen Einsiedlerfüße wieder seufzend in die heißen, seidengepolsterten Schuhe und flehte: »Gebt mir um Himmels willen meine Wildnis zurück!«

Trat er zum Palast hinaus auf die schreiende Straße oder ins Gelärm des Hafenplatzes, dann dachte er: »Wie still muß es jetzt droben im Wald von Morone sein!« Die Hitze dieser Sonne und dieser feurigen Menschen machte ihm Heimweh nach der kühlen, menschenlosen Klause am Gran Sasso. O ihr Herren Könige und Bischöfe, gebt mir meine Wildnis zurück!

Zuerst betete er still für sich darum, dann flüsterte er es, dann bat er scheu wie ein Kind, dann rief, dann schrie er es, daß es durch alle Gemächer drang und man ihn beschwor, doch um des Ärgernisses willen zu schweigen und sich zu gedulden. Aber als er nach und nach auf die Schliche seiner Kanzlisten kam, als er gar von einem erlogenen Breve und zwei erschwindelten Bischofshüten sich unwiderleglich überzeugen mußte, da hielt ihn nichts mehr. Sein Gewissen überschrie alle Bedenken. Er verderbe die ganze Welt, und sie verderbe ihn. Alles noch so drohende Zureden des Anjou und alles Pathos der französischen Kardinäle vermochte nichts mehr über ihn.

Am 13. Dezember, nach vierteljähriger Tiara, trat der Greis im vollen Papstornat unter die versammelten Kardinäle und dankte in einer kurzen, ergreifenden Rede ab. Er sei zu alt, zu elend, zu unvermögend. Gezwungen sei er Papst geworden. Aber nicht Eisen noch Feuer hielten ihn ab, nur noch einen Tag Papst zu bleiben. Die Kirche Gottes litte wie zur Zeit der römischen Cäsaren. Der Fluch des Himmels könne jeden Augenblick sich über seinem Haupte entladen, wenn er zögere. Bald müsse er sterben. Da wolle er denn in der Einsamkeit seines Berges und in der Gnade des ausgesöhnten Gottes, aber nicht hier auf falschem Sessel und Posten wie in einer Lüge sterben.

Dann nahm er mit zitternden Händen die Krone ab und legte sie schnell, als brenne sie ihn, aufs Samtkissen des knienden Pagen. Und nun flog zum erstenmal seit drei Monaten wieder ein Lächeln über sein Gesicht. Darauf küßte er das wuchtige, goldene Brustkreuz, legte es samt der Kette aufs nämliche Kissen, und schon wurde sein Lächeln heller und seine Stimme fröhlicher. Jetzt zog er auch die Stola und den Seidenrock ab, löste den Fischerring von der Hand und warf die heißgeliebte Kutte seiner Einsiedlerschaft über sich. Und siehe, da fielen ein paar Tannadeln aus dem Ärmel zu Boden. Rasch, als gälte es seine Seele, bückte sich der Greis, las sie alle auf und betrachtete sie. Die waren ja noch vom Sommer des Jahres, von der seligen Klausnerzeit, vom Gran Sasso. Petrus meinte, seine Wildnis in der Hand zu haben. Seine Stimme klang jetzt wieder frisch wie oben am Morone unter Vögeln und Eichhörnchen, und er lachte laut und hoch wie ein Kind.

In der Kirchengeschichte gibt es manchen genialen Augenblick. Diese Entkleidung vom Papst zum Waldbruder war einer der großartigsten, eine Gnade für die Christenheit, aber auch eine gewaltige Predigt. Die kirchlichen und weltlichen Regenten hatten es bitter nötig, nach so vielen gierigen Händen, die nach den Papstinsignien griffen, auch einmal zwei Hände zu sehen, die diese Kleinodien munter von sich taten. Päpste hatte es genug gegeben, die aus Angst oder Demut sich der petrinischen Schlüsselgewalt durch zeitige Flucht zu entziehen suchten. So sogar noch der große Innozenz. Aber wenn sie dann gewählt und gekrönt waren, hat sie keine Liebe und kein Haß der Welt ihrem Thron abspenstig machen können. Cölestin ist vor- und nachher der einzige geblieben, der die Erhabenheit und Pracht der Tiara zwar gekostet, aber wie eine Last lächelnd von sich geworfen hat. Wie ein Erlöser stand er jetzt da.

Man wählte nun einen welterfahrenen, starken Papst, den unabhängigen Kardinal Benedikt Caëtani, der auch sogleich mit fester Hand sich die Tiara aufsetzte und als Bonifatius VIII. sich in der Historie einen heißumstrittenen Weltruf erwarb.

Cölestin war der erste, der sich vor ihm bog. Dann bat er glückselig um die Erlaubnis, in seine Abruzzenklause zurückkehren zu dürfen. »Meine Kutte hab' ich. Nun noch meine Berge, meine Einöde, meine Einsiedelei!«

Aber das schien dem politischen Kopf Bonifatius' höchst gefährlich. Das Volk, das den Papst Cölestin kaum einmal sehen konnte, aber ihn als einen Heiligen kannte und verehrte, würde ihn nach wie vor als den gültigen Papst ansehen. Es weiß gar nicht, daß einer, der Papst ist, aufhören kann, Papst zu sein. Aber noch stärker war der andere Grund. Wollte Bonifatius wahrhaft Papst und nicht eine Staatspuppe Karls sein, so mußte er sich durchaus von den Franzosen freimachen. Wie leicht konnten die nun den einfältigen Cölestin oben im Gebirge wieder in ihre Klauen nehmen und, ob er wollte oder nicht, als Gegenpapst und italienischen Heiligen gegen Bonifatius ausspielen! War das etwa nicht schon zu dutzend Malen vorgekommen, wo man einen Gegenpapst erst machen mußte? Hier aber hatte man einen Mann, der wahrhaftiger Papst gewesen war. Schon ging ein Gemunkel durch das neapolitanische Land, Bonifatius habe den alten Cölestin gezwungen abzudanken. Ein Schisma konnte entstehen. Die schwer gequälte Kirche ertrug das nicht auch noch zu aller andern Not. Nein, der Eremit Petrus darf nicht wie ein freier Waldvogel heimfliegen. Er muß im Käfig, ich will sagen, am Hofe des neuen Papstes behalten werden, muß mit ihm nach Rom gehen oder wohin der Heilige Vater ziehen wird. Er ist die Geisel zur Sicherheit der Kirche.

Jedoch Peter Morone fleht so herzbeweglich, schüttet so grenzenloses Heimweh aus seinem alten Herzen, und die heilige Unschuld leuchtet so übermächtig aus ihm, daß nur ein Mann so herkulisch und felsig wie Bonifatius widerstehen konnte. Dieser Papst war aus dem Stoffe der Cäsaren gehauen. Doch darf man ihn nicht mit Innozenz vergleichen. Der hätte den Eremiten fröhlich ziehen lassen. Seinen politischen Schwung und seine eiserne Tatkraft besaß Bonifatius, aber nicht sein prachtvolles Genie der Praktik. Und noch etwas Großes fehlte diesem Kraftmenschen, der gleich Innozenz ein Campagner war: die innerliche, tiefe Glut des Herzens. Bonifatius war neben dem Staatsmann nicht auch Poet. Sonst hätte er den Klausner begriffen. Ein Innozenz hätte nicht einen schwachen Eremiten Petrus, sondern einen Karl von Anjou und Philipp den Schönen zeitig genug unschädlich gemacht. Den Vorgänger hätte er der Welt als Heiligen, als konkurrenzlose Größe vorgestellt.

Bonifatius hat geniale Züge, ohne ein eigentliches Genie zu sein. Sein Benehmen gegen Cölestin ist staatsklug und polizeilich mustergültig, aber es läßt das Weitblickende, Hellseherische eines Genies durchaus vermissen. Petrus mußte in seiner Nähe bleiben. Er ward mit Ehrerbietigkeit behandelt als der oberste unter den Kardinälen. Aber der Greis fühlte, daß dies eben doch Gefangenschaft war, und entfloh. Wie dies geschah und wie ein Achtziger von Anagni weg bis in die Abruzzen gelangen mochte, darüber fehlt uns jede Kunde. Aber rührend ist die Naivität dieses Heiligen, sich wieder in den Schlupfwinkel am Monte Morone einzukapseln, wo ihm die Gesandten die Papstwahl mitgeteilt hatten, und wo ihn die Verfolger jedenfalls zuerst aufspüren mochten. Wirklich kamen die Boten des Papstes bald genug den Berg herauf. Allein, trotz ihres strengen Auftrages, den Ehrwürdigen tot oder lebendig nach Anagni zu schaffen, brachten die Gesandten es nicht übers Herz, den Greis, der so rührend um ein ruhiges, letztes Lebensstündlein hier oben bat, aus seiner Zelle zu reißen und in die Haft nach Anagni zurückzuschleifen. Sie kehrten um. Da wurden härtere Mannen mit geschärfter Weisung zur Einsiedelei entsandt. Aber die Klause stand leer. Petrus hatte sich wohlweislich weiter in die Berge geflüchtet. Nun wurde Militärgewalt aufgeboten. Späher und Kriegsleute durchstöberten in langen Zeilen die ungeheure Wildnis. Ein ganzes Heer ward gegen einen greisen Klausner, der nichts als ein friedliches Sterbestündchen wollte, über Berg und Tal in Bewegung gesetzt. Das machte das fromme, von so viel kirchlichen Wirren verwirrte Volk nun erst recht zum Verehrer des Verfolgten. Den Leuten ward es nun völlig gewiß, daß Petrus der wahre Heilige Vater blieb, und daß sein Bedränger ein Afterpapst war, der sich nicht sicher fühlte, solange der echte und heilige Statthalter Christi lebte. Die Mönche in den Abruzzen, die Hirten der Alpweiden, die Leute in den verschlüpftesten Talweilern beherbergten den Eremiten, schirmten ihn, trugen ihn von Wald zu Wald, über die ganze ungeheuerliche Gran-Sasso-Kette ans Adriatische Meer. Und hier, im Begriffe, nach Dalmatien hinüberzusegeln, fing man ihn. Unter großen Beschwerden ward der arme Mann zuerst vor den strengen Papst nach Anagni und dann in das feste Kastell Fumone gebracht, dessen Ruinen heute noch von den Campagnahöhen ins Tyrrhenische Meer hinausschauen. Soldaten mit Schild und Lanze hüteten den Eingang, marschierten im Wachtschritt durch die Gänge oder standen vor den Gemächern bewegungslos aufgepflanzt. Aber drinnen weilten zwei Ordensbrüder bei dem gebrochenen Greis und pflegten seine letzten Tage. In dem schwülen, moderigen Odem dieser Burg lebte Petrus noch ein paar Wochen. Die Sehnsucht nach der Freiheit der Berge verzehrte ihn. Nur waren es nicht mehr der Gran Sasso und die Majella, sondern die Colles aeterni, die ewigen Hügel, wonach sein Heimweh nach so viel Enttäuschung wie eine flinke, makellose Taube flog. Von jenen Höhen wird ihn kein Papst und kein Kaiser mehr holen können. Dort ist die ewige Einsiedlerruhe. Schon im Mai 1296 starb Petrus. Anderthalb Jahre hatte seine welthistorische Rolle gedauert.

Auch hier erzählt die Legende, wie er mit zufrieden gefalteten Händen und mit lächelndem Munde gestorben sei. Ich wiederhole: die Heiligen wissen zu sterben, Bernardino droben am Berg, verzehrt vom Stadtheimweh, Petrus hier im Soldatenkastell, aufgerieben vom Bergheimweh. O ja, die wissen zu sterben! Wenn auch ihr Herz sich müd geschrien hat nach einer Stadt voll Menschen oder nach einem Berg voll Einsamkeit, schließlich, was ist Leben? Was ist Erde? Sie glauben an die Ewigkeit. Und dort, Bernardino, ist die große, ewige, seelengefüllte Stadt! Und dort, Petrus, ist der hohe Berg Tabor mit seiner unendlichen Einsamkeit in Gott!

Aber auch die Heiligen sind Menschen bis zum letzten Atemzug. Ihr Sterbliches wünscht auch sein sterblich Teil Heimat. Obwohl Bonifatius in übertriebener Staatsklugheit den heiligen Greis am Hochaltar zu Ferentino zehn Ellen tief in den Boden legen ließ, immer schien es, als höre man rufen: Gebt mir meine Wildnis wieder! Aus solcher Tiefe heraus! Und immer meinte man, Holzsandalen klappern und einen Pilgerstab klopfen zu hören wie von einem, der aufbricht und ins Gebirge zieht. Selbst so viel schwere Erde schien das unruhige, heimatsüchtige Gebein da unten nicht stillen zu können. Bis nach zwanzig Jahren Papst Klemens V. den Leichnam ausgraben und in Aquila oben, im Schatten der geliebten Einsiedlerberge, bestatten ließ.

So hatte Peter Morone endlich Ruhe, und wahrhaft, er ruht gut. Es ist in dieser Kirche seltsam einsam. Die Schritte des Pilgers tönen, als ginge man durch einen stillen Wald. Die Vorhänge an den Fenstern rauschen wie die Büsche am Monte Morone. Der KIosterbrunnen plaudert wie ein Waldbächlein, es duftet und schattet und kühlt hier wie unter hohen, grünen Buchendolden. Ja, Petrus hat seine Heimat hüben und drüben gefunden, sage ich mir, und fühle selber eine wohlige Heimatlichkeit durch meine Seele gehen.

Ich stand und stand und freute mich; da erreichte mich aus dem Freien, tief herüber, ein schriller Pfiff. Die Eisenbahn! Sie rollt in die Weite, aus den Bergen, aus der Heimat, in die Fremde. Und die Auswanderer mit ihr, diese ruhelosen Giorgio und Maddalena, diese Arbeit, Geld, Brot, Heimat suchenden Menschen der Abruzzen.

Sogleich ist es um mein Heimatgefühl geschehen. Nein, ach nein, Torheiten! Solange man lebt, soll man nicht von Heimat reden. Es gibt kein Bleiben und Sattwerden und Ausruhen allhier. Es ist alles ein stetes Zeltstellen und Zeltbrechen, wie der große Weltreisende Paulus sagt. Nicht wahr, Bernardino und Petrus, ihr heiligen Männer, nicht wahr? Man hat nirgends ein Daheim, bis man das kleinste aller Häuschen für den großhansigen Leib und das größte von allen für sein demütiges Seelchen gefunden hat!


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