Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

So stand es, so hiess es, so war es. Dem Hauptmann schwindelte. Die Mannschaft war nahe daran, vor dem Küster, über dem der Purpur des Bruders, nein, nunmehr der Schnee des Papstgewandes leuchtete, sich bis auf den Gurt zu verneigen.

Stolz überschaute Sesto das volle, zu Tod verblüffte Kirchlein. Dann ergriff er seinen schlanken, rothaarigen Sohn am Arm und kommandierte ruhig:

»Ihr habt es gehört. Nun führt uns zwei nach Rom. Auf mich und mein Kind nehme ich alles. Der Bruder selbst soll uns richten. Die andern,« beschloss er mit milderem Kameradenton, »die lasset bis dahin nur im Frieden. Ich bürge für sie. So ist's am gescheitesten.«

»So ist's am gescheitesten,« murmelte auch der Hauptmann mit erleichtertem Herzen. Noch in der gleichen, lauen Sommernacht schritten die Soldaten mit Sesto Peretti und seinem Sohn Poz'do gegen Surigno hinunter. Die Sterne blinkten ob den schwarzen Bergmassen, die kleinen Gewässer plauderten in den Abgründen, ein Wolf bellte über Pratalpe und hinter dem weissen, kalten Stirnlein des Papstneffen schimmerte es von köstlichen Bildern. Marmortürme, Domkuppeln, hohe Flussbrücken, worunter unsäglich breite Fluten glitzern, dann Kanonen und grelle Garden, Glockengeläute bis in die Wolken, Strassengefechte, die dreifache Krone des Onkels! Und zwischen diesen Wundern zog das kühne Knabenherz wie ein junger Bergfalke nach Abenteuern aus.

In Paritondo tröstete Don da Dia indessen den Pietro Solio aus, der in der Morgenfrühe, auf der Hausstiege sitzend, seine alte Älplerseele zu den Häuptern der sibyllinischen Berge emporschickte. Frau Peretti, zugleich um Bub und Mann trauernd, wachte an der Leiche mit den Mienen einer Witwe. Aber jedermann wusste, dass nicht dieser Tote, sondern zwei Lebende sie zur Witwe gemacht hatten.

Aber im verlassenen Kirchlein lächelte, nachdem alle sechs Kerzen heruntergebrannt waren, noch hell und unverzagt, wie eine, die sich Lichts genug ist, die schleierlose Madonna.

3. Kapitel

In einer kleinen, vergitterten Stube der Petersburg war Poz'do mit seinem Vater eingeriegelt. Rechts und links von der kleinen, stahlgebänderten Eichentüre war je eine Strohmatte in die enge, tiefe Mauernische geworfen. Das galt der kurzen Schlafenszeit. Aber für den langen, wachen Tag hatte man einige heilige Bücher auf einen Steinblock gelegt, der als Tisch dienen musste. An der Wand war ein hölzernes Kreuz befestigt. Die gewölbte Diele hing hoch und dämmerig über den zweien und war ein wahrer Lust– und Wildplatz für grosse, schwarze Spinnen. Die Peretti hörten in die Zelle hineindringen Rufe der Brückenwache, das Marktgetöse am Dienstag und Freitag, die Marienprozession am Samstag und das dunkle Rauschen des Tiber gegen Mitternacht, wenn das übrige Rom endlich stille geworden war. Auch rieselten fast den ganzen Tag Glockenstimmen ins Gefängnis, selbst von Lateran und von Santa Maria Maggiore, wenn der Wind von Albano her blies. Oft fiel das nahe Geläute der Sankt Petersglocken wie eine Vaterstimme in den Familienchor ein. Reiter trabten, Krämer schrien, die Gerüste für den Oktobermarkt wurden schon mit hundert Hämmern und Beilen gezimmert. Oft schritt eine geistliche, öfter noch eine munterweltliche Musik vorbei, umwirbelt von Kommandos oder dem übermütigen Jubel halbgebrochener Jünglingsstimmen. Einmal wurden sieben Kanonenschüsse gelöst, wohl im gleichen Burggemäuer, denn das ganze Zimmer zitterte siebenmal mit. Doch all das zusammen, dieses siegbewusste, wunderbare Geräusch der ewigen Stadt zerschlug sich an den Gittern und vermochte die entsetzliche Einsamkeit da innen nicht kleiner zu machen.

Diese Einsamkeit, diese Hexe der Hexen! Vater und Sohn wurden beinahe verrückt davon und wünschten aufrichtig lieber den Henker, als nochmals so einen einsamen Tag wie heute. Sie hatten eine so müde, gliederschwere Hitze und eine so dicke, staubige Luft früher nie gekannt und erstickten fast daran. Sie standen auf die Zehen, um über das steile Gesimse des schmalen, hohen Fensters hinaus etwa ferne Berge zu erblicken. Aber die Mauer war zu hoch. Nicht einmal der Riese Sesto langte an die Brüstung auf. Da schwang sich Poz'do sehnig und geschmeidig wie eine schöne Natter am Vater empor und kniete ihm auf die Achseln. – Was siehst du? flehte Sesto. – Ach, nur wüste Dächer über Dächern, schimpfte der Bub. – Und darüber hinaus? dahinter? bettelte jener. – Staubige Bäume und leeres, langweiliges, graues Land, versetzte Poz'do und wollte flink wieder abspringen. – Und darüber, da muss noch etwas sein? schau gut, Cuore mio! hungerte der Alte. – Ehe! Ich weiss nicht, ist es Rauch vom Feldfeuer und drückt ihn die Luft so zu Boden, oder ist es eine niedrige Mauer oder sind es die Monti Sabini. Pfui Teufel, solche Häufchen, wie daheim unsere Mäuse werfen! – Poz'do spie voll Ekel zum Gitter hinaus über diese ganze Wenigkeit da draussen und sprang dann elastisch wie eine Katze rückwärts ab. Da stand er nun wieder unten im Finstern. Aber er hatte in Wirklichkeit freie, herrliche Menschen auf der Tiberbrücke und grüne Bäume auf dem Aventin und im fernen Osten Berge, ach Gott, wahre Berge gesehen!

Mit müdem Gesicht blickte er den noch müdern Vater an, ob Sesto wohl seinen kindlichen Betrug bemerkt habe. Nein! Nur dünkte den Alten, Poz'do sehe auf einmal viel mutloser drein. Ach ja, wie wollte einem so jungen, wächsigen Leben nicht alle Bergkraft im Käfig gebrochen werden! Diese enge, dumpfe Stubenhaftigkeit tötete sicherer als Verhöre und Folter.

Sie schliefen beisammen auf den Fliesen und umschlangen sich so fest, als schlösse der eine noch im andern das letzte Stück Freiheit und wilde Natur im Arme. Was ihre rauhe Berglerart ihnen zeitlebens nie gestattet hätte, geschah jetzt: sie küssten sich wie Verliebte. Nun gab es für Poz'do nichts Schöneres anzustaunen, als seinen prachtvollen, steinharten Riesenvater mit dem krausen, rötlichgrauen Haar, dem geraden Rücken und dem tapfern Bart. So ein Held! Und nichts war feiner und ritterlicher für Sesto, als seinen Knaben, für den er früher nie recht Zeit oder Sinn gehabt hatte, endlich einmal sattsam zu betrachten.

Das hatte er ja gar nicht gewusst, dass er so einen grossartigen Buben besitze. Wie keck und üppig aufgesprungen waren seine hitzigen Lippen, wie frisch, dünkte ihn, töne noch die Melodie seiner ungebrochenen Stimme, wie unzerbrechlich glänzte die zwar von der Zimmerluft fahle, aber ungefurchte Knabenstirne, und wie tief hinab ging es in diesen kieselgrauen, immer feuchten Augen. Kam man da überhaupt auf den Grund? Schwamm und zappelte und wirrte es da nicht durcheinander und machte jeden Dreinblickenden, ehe er es sich versah, schwindlig wie beim Starren in ein tiefes, lebendiges Quellenwasser? Und was für ein Puls schlug in diesem Burschen! Am ersten Morgen wollte er den Wärter niederschlagen, am zweiten nur noch die Gitter ausbrechen und müsste er sich dabei auch alle seine zornigen Zähne ausbeissen. Aber am dritten Morgen wollte er dem Papst schreiben: Du, Onkel, sei nicht so stolz und komme mit uns zu reden!

Und immer schüttelte Sesto den Kopf und küsste den Buben auf die offenen Lippen und die kalten, wilden Zähne, als wollte er die Schärfe so gefährlicher Waffen mit seiner Liebe mildern. Aber als der junge Tiger nun erst recht schnob und fauchte, da hieb ihm der Vater eine schallende Maulschelle über die Liebkosung weg.

Darauf schwieg Poz'do viele Tage hindurch wie ein Stein, aber zergrübelte im Geheimen seinen unverbrauchten Verstand, um die Maulschelle zu verstehen oder doch herauszufinden, mit was für andern Vorschlägen und Streichen er dem Vater genehmer wäre.

Um die Zeit erwachte Sesto eines Nachts und meinte nicht anders, als dass er in seiner Küsterei in Paritondo sei und Frau Anizia ihm vor der Türe etwas gerufen habe wie von Sakristei, Kelch, Altartüchern. Mit einem Ruck wollte er aufspringen. Da sah er den vom Mond ganz gelb gemalten Gefängnisboden und mitten drin, wie mit Kohle kreuz und quer das Fenstergitter abgezeichnet. Das weckte ihn vollends, und nun wusste er klar, wo er sei. Er konnte nicht so bald wieder einschlafen, sondern musste es leiden, dass Gedanken der Freiheit, so golden wie der Mondschein hier, und Gedanken der Haft, so schwarz wie die Gitterschatten darin, ihm in trübseligem Durcheinander den Kopf verwirbelten. Aber nach und nach legte sich diese wilde Träumerei und der Mond, so forschenden und herzdurchdringenden Lichtes er oft ist, gab den Gedanken Sestos eine geordnete und klare Richtung in die Vergangenheit zurück. Er grüsste mit merkwürdig bekanntem Gesicht durchs hohe, spitze Fenster herein und redete wie ein Kamerad aus alten Tagen mit ihm: Weisst du, damals habe ich auch geschienen zwischen den wilden Kastanien am Portsassa, wo ihr den Kaufherrn Giarni aus Verona nackt geplündert und in die Rovanaschlucht geworfen habt ... Und damals habe ich wieder geschienen, als ihr im Marchenstreit zwischen Spello und Foligno in den Garten der Väter Dominikaner schlichet und die ganze Sakristei ausraubtet ... Und in jenem September, wo ihr den deutschen Bischof bestahlt, seinen Kanzler und Hofkaplan niederhiebt, und den hohen Mann mit verbundenen Augen eine halbe Nacht lang in die Irre führtet, war ich tapfer mit dabei ... Aber damals, damals verhüllte ich mich hinter einer Wolke und traute nicht zuzuschauen, als ihr den frommen und mutigen Wallfahrer Durati, der ganz allein und unbeschirmt den Zehnten ins Waisenhaus nach Perugia trug, eurer vier oder fünfe zusammen, niederstachet. Das war Mord und Feigheit.

Das dumme, gelbe, schadenfrohe Mondlicht!

Am Morgen nach diesem unruhigen Lager war Sesto noch weit schweigsamer als sein Sohn und berührte keine Speise. Er fing an zu merken, dass er nicht bloss irgend ein Unrecht, sondern ein ganz gemeines Unrecht lebenslang geübt habe. Ihn fröstelte beinahe und er rückte ins Sonnenlicht, das dünn durchs Gitter hereinfloss und in dessen Strahlen wie auf einer goldenen Leiter viele lebensfrohe Fliegen mit Speckbäuchlein und Flügelgeglitzer auf und niederschwirrten und sich immer wieder gemütlich auf Sestos feuchte Krausen niedersetzen wollten. Zornig scheuchte er sie. Da schoss so ein Tier vor Schrecken in die oberste Fensterecke und blieb mit allen häckeligen Zehen im Gefäde einer Spinne hängen. Gleich rannte die hässliche, ungeheure Brigantin aus dem Verschlupf und umkrallte das arme Ding. Es schimmerte und schlug klingende Räder vor Angst, aber konnte mit allem Gezappel doch nicht loskommen.

Dieses Henkerspiel hatte Sesto schon oft ohne ein anderes Gefühl als das des Respekts vor der famosen Banditin beobachtet. Aber diesmal konnte er nicht zuschauen. Er hasste die Räuberin geradezu, und da er bei weitem nicht zu ihr aufreichte, rief er dem Buben, der wie immer nicht auf dem Teppich, sondern auf den kühlen Steinplatten lag und mit dem er schon lange kein Wort mehr gewechselt hatte. Er sollte ihm nochmals auf den Buckel steigen und das Gespinst zwischen den Stäben zerreissen. Aber auch so wollte es nicht in jene Ecke langen. Und im ganzen Raum fand sich nichts Dienliches, Stiel oder Stecken, womit man das Raubnest hätte vertilgen können.

Da zog Poz'do einen kleinen, gleissenden Taschendolch, den man zwischen zwei Fingern verbergen konnte, zum höchsten Staunen Sestos, unter dem Kittel hervor. Er hatte ihn, weiss Gott wie, im lang gewachsenen Haupthaar, das auch so feurig blitzte, oder im Ziegenkragen oder sonst auf einem katzenschlauen Um– und Überweg ins Gefängnis geschmuggelt und einen ganzen Roman von Befreiungskapiteln heimlich gedichtet, durch deren jedes dieser Stahl wie ein Erlöser leuchtete. Aber jetzt warf er alle Pläne von sich. Während seine langen, kieselgrauen Augen das Metall noch weit überblitzten, fragte er nur: »Soll ich?«

»Tu's«, nickte der Alte.

Da schmiss der Knabe den Dolch breitlings empor und gab ihm einen so schwungvollen Bogen durchs Netz hindurch, dass das Raubtier mit dem Messer und einem kleinen Fetzen seines Königreichs über das Gitter hinaus und in die Stadt hinunterstürzte, indessen die Fliege verwundet aber frei in die Sonne flog.

Die Gefangenen sahen dem zerrinnenden Pünktlein lange nach und legten sich dann frierend in ihren Schatten zurück. Aber ihr Herz sang ein neues, kleines Lied. War es ihnen doch, als hätten sie einen Mord gut gemacht.

Aber ach, wie viel Schuld blieb noch! In der Nacht darauf schlief Sesto bis Mitternacht auch nicht einen Augenblick. Wie viele Fliegen galt es noch zu retten! Und wog dann so ein Insekt einen Menschen auf? Seufzend wandte er sich, da traf er seines Sohnes wache, weitaufgesperrte Augen. »Vater«, bekannte der Junge leise und glänzte feucht über die mondbeschienenen Wangen herunter, »Vater, wir sind schlechte Menschen.«

Sesto drehte sich eilig gegen die Mauer zurück. Er gab keine Antwort. Doch seine Glieder zuckten vor unbemeisterter Erregung.

Aber in der dritten Nacht, als es irgendwoher zwölfe schlug, da sagte Poz'do plötzlich mit heller, unbesieglicher Knabenstimme: »Vater, wir müssen dem Papst zu Füssen fallen, dass er uns richtet, aber dass uns Gott vergibt. Mich plagen die Sünden in dieser stillen Stube da furchtbar.«

Da widerstand der felsige Alte nicht länger. Er drückte mit beiden Armen den magern, aber wunderlieblichen Burschen an sich und liess ihn bis zum Morgen, wiewohl das Paar sogleich in einen tiefen Schlummer fiel, nicht mehr von seiner erlösten Brust los.

4. Kapitel

»Nein, Mario, gib zurück!«

So rollte es rauh wie Bergwasser vom schriftüberladenen Tischchen am Fenster zu den Vorhängen der Türe zurück, wo der Kammerherr stand. Ist das eine See oder ein Wind oder eine Welteiche, die so lärmt? Nein, es ist nur das kleine, grauhaarige, aber breitschulterige Männlein in schneeweissen Talar am Tischchen, das ohne sich merkbar zu rühren und ohne den umbarteten Mund grösser als zu einem Schlücklein Wasser zu öffnen, gleich alle vier Wände mit Tosen erfüllt. Diese Stimme! ... Und noch etwas: diese kleinen, scharfen, eisigen Augen im staubigen Gesicht, kalt, schwer und doch so kugelig rollend und blitzend wie Quecksilbertropfen! Das ist Sixtus V. Sein langes, überhohes Gesicht scheint grau, verwittert und formlos wie ein Stein, mit drei Hammerschlägen gemodelt. Aber wenn man näher sieht, sind hundert feine Kerbe hineingeschnitten, vom Kranksein viele, vom Studieren noch mehrere und vom Kämpfen mit seiner und der Welt Wildheit die meisten. Am Fenster arbeitet er. Wie ein Adler vom Horst späht er von hier über die Welt unter sich. Keinen Teppich unter den Füssen und keinen Baldachin ob dem Haupte mag er leiden. Zu lange hat er nur Erde zum Lager und nur den hohen Naturhimmel zum Dache gehabt. Selbst das Seidenmützchen ist ihm lästig. Es liegt auf einer alten Abschrift der Septuaginta, Folium 44, auf dessen breiten Rand der Papst noch eben seine Glossen mit kleinen, scharfen Schriftzügen hingekritzelt hat. Wer das lesen kann, muss Augen wie ein Sperber haben. Und erst, wer das so schreiben konnte! Der sieht der Menschheit auf die letzte und feinste Naht.

»Gebt her, Mario!«

Der Kammerherr Mario de Zucco stand schon unter den Türflügeln und machte gerade die dritte tiefe Abschiedsverbeugung, als es wie Widerwind so heftig und ungeahnt vom Schreibtisch zurückbrauste. Vor Verblüffung blieb er auf den Knien liegen. »Eilig, Mann!« herrschte ihn Sixtus an. »Wir wollen darüber nochmals mit und zu Rate sitzen.«

Das war das erstemal, dass der Heilige Vater ein schon unterzeichnetes Schriftstück wieder zurückzog, er der strenge und bestimmte und unverrückbare.

»Und wenn die Barone draussen warten, so führt sie herein!« rollte die Stimme zu Ende.

Doch keiner der haderlustigen Herren, weder Paolo Mossi noch Arrigo Fanciolla harrten in den Vorsälen. Sixtus wäre froh gewesen, wenn die Zänker schon daständen. Er bleibt jetzt nicht gern mit dem Skriptum da allein im Zimmer. Er möchte jetzt am liebsten recht gewaltig arbeiten, da mit Exegeten über die heillose Schwierigkeit zwischen Matthäus 1 und Lukas 3, oder dort bei den Plänen mit Baumeister Fontana über die Reparaturen am Quirinal und über die oft geflickten Wasserwerke; oder er möchte grosse, schwere Rechtssachen untersuchen, urteilen, richten, strafen, Stunde auf und Stunde ab, bis zum Rosenkranz in der Sixtina, nur um den Bruder und Bruderssohn zu vergessen, die ihm so nahe leben, viele Wochen schon gefangen und immer noch nicht verurteilt. Sie wollen ihn sehen, sie heischen gebieterisch, mit dem Bruder und Onkel zu reden und das Gericht von seinem Munde zu empfangen, Gesicht gegen Gesicht, diese stolzen Bergleute und hochpochenden Verwandten.

Warum konnte er mondenlang nicht seinen Namen unter das Urteil setzen: »Enthaupten! Sixtus V.«? Sonst ging er so kaltblütig mit diesen dürren, tötenden Papieren um. Aber hier? nein! So oft er unterzeichnen wollte, sah er ein altes und ein junges Gesicht aus dem Blatt schauen, hörte Vaters und seine eigene Knabenstimme, roch den Duft der armen Bauernstube daheim in Grottamare, einen Duft von Stroh, Lehm und halbgedörrten Rosinen, und den viel süssern des ersten gedruckten Buches, das ihm seine ernste Mutter heimlich eines Abends zusteckte, als er schlafen ging. Es war die Geschichte des Papstes Gregorius des Grossen von Elemente Parvi, lateinisch für Schüler mit Regeln der Grammatik, und hatte das Weib die Arbeit von Monaten gekostet. Aber wie der harte Junge jetzt mit aufglühenden Augen dankte und bald das Buch, bald die Hand der Mutter hitzig küsste, da war alles bezahlt. Der Vater brummte zwar, aber liess ihn doch gewähren und lachte dann auch, wenn Felice später mit dem Pfarrer Latein sprach und es bald schöner und schneller konnte als der Priester selbst. O die ganze Jugendgeschichte öffnete ihre längst erloschenen Augen wieder auf diesem Papier. Denn da ging es um Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut. Er hatte seit einem Menschenalter sich frei und heimatlos und einsam geglaubt, ohne Ahne und ohne Nachkommen, ohne jede warme menschliche Gliederschaft, so recht wie sein Amt zwischen Himmel und Erde es brauchte. Und sieh, da kommen zwei Menschen, die ihm Bruder sagen und Ohm!

Er hasst sie und liebt sie. Ein entwöhntes Gefühl von Herzlichkeit will ihn bei ihrem Perettinamen ergreifen. Etwas wie damals, als er die Mutter küsste oder als er vor dem Konvent der Minoriten den Vater noch einmal geschämig und doch wild umarmte und dann schnell in den dunkeln Korridor entschlüpfte. Nie hat er seitdem wieder so gefühlt. Kalt ist er geworden wie ein Buch.

Aber es sind ja Banditen, punktum! Auf dieses böse Wort hin hatte er das Todesurteil rasch unterschrieben. Denn wie Erzengel Michael die Teufel, so hasste der Papst dieses Menschengezücht. Nein, nein, leicht soll es ihm werden, bei solchem blutigen Pack die Regungen der Natur zu unter ...

»Euere Heiligkeit, die Herrschaften di Mossi und Fanciolla!«


 << zurück weiter >>