Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Die umbrische Ziege

Euch, ihr umbrischen Ziegen, muß ich ein Lied singen. Tagelang habt ihr mir die Menschen ersetzt.

Es gibt aber auch nichts Unabhängigeres als euch. Ihr rupft das Gras aus einem griechischen Marmor und kümmert euch nicht, daß ein Cäsar darunter schläft und ein anderer Cäsar darauf im knappsten Latein ein Distichon schrieb. Ich sah euch zu Orvieto bis in den schönsten Dom Italiens eure Kapriolen treiben.

O ihr habt keinen Respekt! Aber das steht euch gut an. So ungeniert möchte mancher Zweibeinige sein.

Aber ihr seid auch die geselligsten und menschlichsten Vierbeiner. Gleich tragt ihr uns Schmollis an und plaudert so naiv und witzig die Geheimnisse eurer Ziegenseele aus, daß auch wir nicht anders können und grad oder ungrad unser Herz auch euch ausschütten.

Ihr antwortet sogleich, und es wirkt ermutigend auf uns. Es klingt wie: »Nur nicht gleich alles so ernst nehmen, kleiner Mensch! Es geht schon, es geht schon – Gib nur nichts auf! Immer Kopf hoch! – Und etwa einmal die Hörner zeigen! Und dann wieder recht lustig meckern!«– Ungefähr diese schöne, gesunde Lebensweisheit liegt in euerem Zuspruch.

Oft bin ich stundenlang allein durch weltferne, umbrische Täler gelaufen. Der Weg ging aus und es ward immer einsamer. Und mir lag die Warnung unserer Reisebücher im Ohr: Gib acht, Abruzzen, Räuber, Totschlag!... Da ward es mir unheimlich zumute. Besonders, weil es rechts und links in den Höhen so öde war, als sitze der Tod dort oben auf den Steinen. Und weil es hier unten so eng und schattig war und manchmal hinter mir raschelte, wie von einem versteckten Banditen oder einem giftigen Wurm. Franz von Assisi hat dann ja freilich in seinem heiligen Leichtsinn ein Lied gepfiffen. Ich versuche auch zu pfeifen... aber aus Angst. – Plötzlich... der Himmel weiß woher.... steht eine Ziege vor mir mit ihrer harten, gerechten, frommen Stirne, ihren tapfern Hörnern und ihren heillos spaßigen Augen und meckert mich leutselig an. Von meiner Brust fällt ein wahrer Berg und ich rede sie im schönsten Italienisch an, das ich weiß: Ich grüße dich, meine hübsche, liebe, kleine Ziege! – Und ich streichle ihren steilen Rücken und da folgt sie mir plaudernd, aber immer zur Linken, aus lauter italienischer Höflichkeit. »Wo kommst du her, bella mia?« frag' ich. »Von dort oben, Signore, im Schlupf San Carlo bin ich daheim.« – »Und fürchtest du Fremdlinge nicht?« fahr' ich weiter. – Da schaut sie mich spöttisch an und meint: »Ach was, hast du denn nicht eben noch gepfiffen? Du bist doch ein völlig harmloses Geschöpf.« – »Das bin ich, da hast du recht, liebe Ziege. Und ich bitte dich geradezu, bleib nur hübsch bei mir. Es wird mir unheimlich ganz allein in dieser Gegend!« – »Ich bleib schon, nur keine Angst, Pellegrino! Ich hab' es gern, wenn Menschen mit mir wie mit ihresgleichen reden. Du sprichst zwar ein holperiges Italienisch. Aber ich versteh' dich zur Not doch. Fahr' nur fort!« Nun betracht' ich meine Begleiterin erst recht genau und sehe, wie menschlich sie mich anblickt und wieviel Ausdruck in ihrem Meckern liegt, wie sie die Substantiva so gut betont und die Zeitwörter so famos moduliert und dem Satz immer einen so freundlichen ernsten Tonfall gibt, daß es fast wie eine Stanze aus Tasso klingt.

»Aber liebes, horngeschmücktes Wesen! Wo find' ich heut' abend Unterkunft? Wo treff' ich gute Menschen?« – »Folg' nur mir, amico! Ich gehe ja auch zu meinen Hirten. Sie sind ein wenig mißtrauisch, halb Phlegmatiker, halb Melancholiker, wie alle Bergleute. Aber das macht nichts! Wenn sie sehen, daß ich bei dir bin und so lustig mit dir plaudere, dann denken sie, wir seien Geschwister und nehmen dich wie meinesgleichen auf.« – »Tausendmal Dank, Signorina – oder muß ich sagen: Signora?« – »Signora«, antwortete die Geiß mit Mutterwürde. »Also Signora; aber sieh, ich hab' doch ein bißchen Angst. Es steht da allerlei Übles in den Büchern über euere Abruzzen.« – »Überlaß das alles doch nur mir, Pellegrino – Die Bücher? Ach, Dummheiten!« – Voll Verachtung hob die Ziege den Schwanz ein wenig...

Und so trippelt sie immer neben mir und immer links, streift ab und zu den Bart an mir ab, zupft eine Kresse vom Ranft, riecht an meiner Hand, bettelt mich an und stiehlt mir auch etwas aus der Tasche wie eine richtige rechtschaffene Italienerin, und sagt dazu: Danke schön!, und bettelt und stiehlt wieder und erzählt daneben viel aus diesem hohen Hirtenland. Der Winter sei naß und kalt und man hocke zusammen. Aber beim ersten warmen Wind gehe es in die Höhen. Auf einmal schießt da alles Kraut hervor. Man weiß nicht, wo anfangen und wo aufhören. Die jungen Zicklein überfressen sich regelmäßig, man kann warnen, wie man will. Weiter hinten gibt es noch etwa einen Wolf. Dort treten wir immer zu vieren oder fünfen auf und stehen hart zusammen und halten die Hörner vornüber, daß der Bengel nichts wagt. Ahi, Signore, das war einmal köstlich in Benozzio oben. Dort waren unserer nur drei, ich, als junges Geißlein, eine Tante von mir und mein Onkel. Wir sagten ihm nur Barbone, weil ihm der Bart bis an den Boden reichte. Als wir den Wolf rochen, wies uns der alte Bock an, stille zu stehen, und, wenn der Kerl angreife, durchaus neutral zu bleiben. Er wolle das allein ausmachen. Er würde sich doch ewig schämen, eine ehrenwerte Dame und ein Kind als Rekruten zu brauchen. Nun kam der große, aschgraue Wolf wirklich. Zitternd sahen wir dem tapferen Onkel zu, wie er mit gesenktem Kopf dem Scheusal direkt ins Maul schoß, es überwarf, hornte, zurückwich, wieder vorschoß und wieder hornte, stach und vollboxte, so daß der Wolf gar nie zu Atem kam und in der ersten Pause, die ihm Barbone gewährte, schleunigst davonhumpelte. – Das war droben am Monte Benozzio, Signore! Man spricht noch heut' davon. Nicht wahr, eine prachtvolle Geschichte. Barbone gehörte eigentlich in die Schulbücher, so gut wie Garibaldi.

»Prächtig, aber bitte, gibt es hier kein Wasser? Ich habe schrecklichen Durst.«

»Ah, ihr Menschen, povera gente! – Immer habt ihr Durst oder Hunger, eins von beiden müßt ihr haben. Ohne Zweifel, ihr seid alle am Magen krank. Ei, wenn ihr so einen soliden Ziegenmagen hättet, ihr gäbet, glaub' ich, euer Lesen, Schreiben und Rechnen daran.«

»All das Gelump, jawohl, meine Schwester, wenn ich jetzt nur einen Schluck Wasser hätte –«

»Geduld, in einer Viertelstunde kommt die Rivola Mazza, so ein Tröpflein, weißt du, gerade genug für uns zwei.«

»Danke, danke, das freut mich. Aber erzähle weiter. Ich vergesse den Durst dabei. Was hast du noch für Freunde hier?«

»Hm, da gibt es noch Murmeltierchen, Schweinchen, Schafe, Hasen und Füchse –«

»Erzähl' mir davon, Signora!«

»Mit den Murmeltierchen kommen wir gut aus. Nur sind sie gar zu scheu und trauen keiner Seele auf drei Schritte. Sie besitzen keine Umgangsformen mehr, und wir könnten es wirklich nicht riskieren, sie in eine bessere Gesellschaft mitzunehmen. Schade, es sind sonst gute und fromme Tierchen!«

»Und die Schafe, Signora?«

»Das sind natürlich unsere nächsten Vettern. Aber diese Schafe, per bacco, die ihr als unschuldige und geduldige Lämmer andudelt, ich danke, das sind auch unsere größten Neider! Und dumm wie Polenta! Stets wollen sie besser sein als wir, und ihr letzter Trumpf ist immer der Spruch: Schafsbraten sei besser als Ziegenbraten. – Sie haben kein Ehrgefühl. Wer redet von seinem eigenen Braten? – Und was die Hasen betrifft, so sind es liebe, aber leichtsinnige Narren. Wir können sie lange warnen: Bleibt daheim, es ist eine Flinte unterwegs! – Dummheit, wenn es nach Kohl oder Rüben bei uns riecht, so kommen sie eben. Aber fällt dann mitten im sichersten Fressen ein Laub zu Boden, hui, wie sie erbleichen und steif werden, als hätten sie schon ein Pfund Schrot im Rücken. Sieh da, sag' ich, Freund Langohr, es war diesmal nur ein Olivenblatt. Aber gerade so gut hätte es eine Kugel sein können. – In Gottes Namen, in Gottes Namen, seufzt der Hase –, so sind wir eben. Voll Leben und Tod zugleich. Aber es war also doch nur ein Olivenblatt. Fressen wir weiter! – Und wahrhaft, er frißt sogleich mehr Kohl und Salat und Spinat weg, als wir zwei zusammen. So ist er!«

»Du bist ungemein kurzweilig, Signora«, sage ich erleichtert, »und erzählst fast so saftig wie Bocaccio. Und du beobachtest, das merkt man gleich. Bitte weiter, was ist denn mit den Füchsen los?«

»Pfui, mit diesem Vieh wollen wir nichts zu schaffen haben. Es ist falscher als Katzen. Aber wir haben unser Reglement. Heute glauben wir dem Fuchs genau das Gegenteil von dem, was er spricht. Er merkt das und wechselt. Also glauben wir morgen das Gegenteil vom Gegenteil. Und übermorgen vom Gegenteil des Gegenteils das Gegenteil, davvero!«

»Potztausend, Signora, ihr seid ja große Philosophen!«

»Ist nicht so gefährlich, Signore. Aber man kann doch nicht immer Kapriolen treiben. Herr, es gibt auch knappe Zeiten. Man ist froh um jede Distel. Da liegt man in den Steinen und kaut und kaut wieder. Und da kommen einem so Gedanken an allerlei tiefe Sachen. Man studiert und philosophiert, was zum Beispiel in Grund und Wahrheit der Hunger sei. Ist er etwas Reales und Positives oder ist er etwa nur ein Negativum oder ist er überhaupt gar nichts? – Und was ist das Genughaben? Und warum wechselt das immer, genug – Hunger – genug – Hunger? Und wo endet so eine logische Lebenskette einmal: im Hunger oder im Genughaben? Pellegrino, darüber hab' ich schon ganze Nachmittage auf dem Monte Benozzio philosophiert. – Ich höre, daß euere Philosophen... das heißt, nur die hellern... an einen Tierhimmel glauben. Corpo di bacco, ob wir da auch hineinkommen? Wir mit unsern Hörnern? Ob Onkel Barbone schon oben ist? – Attenzione, wenn dieser Bock hineinkam, und wenn ihr Menschen trotz Krieg und Lügen und Idealen hineinkommt, dann auch wir Ziegen, wenigstens in einen Tierhimmel! Was meinst du, Signore?«

Ich denke heimlich: Nein, so ein Unsinn! Aber laut sag' ich: »Das könnte ja allenfalls so sein mit dem Geißenhimmel –«

»Zitto, zitto, Signore, ich seh' dir an, du glaubst nicht daran. Dann lüg' mir aber auch nichts vor!«

»Caprina!« wollte ich beschwichtigen.

»So seid ihr Menschen. Auf Erden soll euch alles gefallen und dienen. Und den Himmel wollt ihr erst recht allein für euch. Das ist nicht edel. Was haben wir euch denn zuleid getan?«

»Caprinellina! Ich werde wahrhaft froh sein, dich irgendwo im Himmel oder doch im Vorhimmel zu treffen, und auch deinen tapfern Onkel Barbone, glaub' mir! Und die Zita und...«

»Basta, Signore, Basta! Aber da ist noch etwas anderes. Manchmal, wenn ich durch unsere Gassen tripple, etwa um Ostern, dann riecht mir etwas in die Nase. O entsetzlich, ihr Menschen habt wieder einen Mord begangen. Nicht genug, daß ihr Sünder einander tötet, ihr mordet auch uns Unschuldige. Ihr redet von Bratenduft. Mir ist es Gestank und Verbrechen. Ich renne, renne bergan, bis ich ganz oben im Fels bin. Und da geht das Philosophieren wieder an. Ich denke ans Messer! Seht, Herr, wie ich zittere! Es steht mir auch bevor –, still, still, ich weiß es besser. Aber warum? Warum? Was haben wir euch zuleid getan, daß ihr uns so behandelt? Milch gaben wir euch und junges Vieh. Könnt ihr nicht warten, bis wir von selbst sterben? – Dann zieht uns Haut und Hörner ab, meinetwegen! Aber warum uns im schönsten Wohlsein töten? Wißt, Herr, wenn ich merke, daß es mir an den Kragen geht, dann spring ich einen Fels hinunter oder in ein wildes Wasser. Ich will richtig sterben.«

Das hübsche, leichtbeinige, strahlende Tier zu meiner Linken sah mich unendlich vorwurfsvoll an. Ich wollte es trösten. Aber wie? Wie oft hab' ich selbst Ziegenbraten gegessen, und wie gern hab' ich ihn jetzt noch, in dieser Minute!

»Caprina«, sag' ich und streichle den steilen Rücken, »wir müssen doch alle einmal den Weg alles Flei...«

»Schweigt, Signore, jetzt werdet ihr abgeschmackt. Das ist wieder so ein Gemeinplatz, wie man bei euch zwanzig für einen Soldo bekommt. – Aber horcht, die Rivola Mazza! – Wasser – Kommt schnell!«

Wir sogen beide am dünnen Faden Wasser, der da aus einem Kalkstein rann, und vergaßen darüber Tod und Philosophie. Dann trabten wir weiter selbander.

So sind die Ziegen in den Apenninen, ein Völklein voll Spaß und Ernst, voll Klatsch und Philosophie, gleich groß an Verstand und an Herz.

Am Abend fand ich im Bergdorf Osterur kein Wirtshaus und ging zum Pfarrer und fragte, ob er mir etwas Minestra und Wein und hernach eine Matratze zum Schlafen geben könne.

Da sagte der gastliche Mann: »Vuole capra? Wollen Sie Ziegenbraten?«

»Pst, pst!« flüsterte ich schnell, »nicht so laut!... Da unten!« – und ich zeigte in den verwilderten Garten, wo etliche Ziegen weideten. Mir war, sie könnten es hören.

Dann... o ich Unmensch.... aß ich doch capra. Das Fleisch war sehr gut! Aber mein Gewissen war sehr schlecht. Aus jedem Bissen hörte ich es leis und fein klagen: »Signore, was habe ich dir zuleid getan?«


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