Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Danach predigte ein Diakon, und ein anderer verkündete, wer die letzten Tage den Martertod erlitten habe. Die Namen wurden langsam und laut gesprochen und dann vom Volke singend wiederholt. Die einen riefen: »Der Herr gebe ihnen seinen Frieden.« Andere beten schon: »Orate pro nobis!«. Nun wurden die Körbe ausgepackt, die rings an den Wänden lagen. Alles setzte sich, der Papst mitten unter seine Kinder, und aß und trank von den Gaben. Für viele war das die einzige Mahlzeit im Tage.

Es war ein irdisch Essen und doch immer noch wie Gottesdienst. In jedem zweiten Satz hörte man »Christus« sagen. Alle Leute sahen aus wie abgehetzt und abgeplagt. Aber dennoch lachten ihre Augen. Sie schienen alle fröhlich irgendwohin in die Ferne und Höhe zu blicken, und sie sahen, obwohl in einem tiefen Erdloch vergraben, auch wirklich viel weiter als der Cäsar vom Kapitol oder der Jupiter von der Zinne seines aventinischen Heiligtums. Viele Witwen waren dabei und viele Waisenkinder. Andere hatten verstümmelte Arme oder einen siechen Leib, weil sie schon einmal auf die Folter gestreckt worden waren. Auch Brandmale trugen viele an der Stirne. Die alle kannte Tarcisius. Sie hatten ihm oft und oft ihre Marter haarklein erzählen müssen, und was sie antworteten im Verhör, und er hatte sie geküßt auf die Narben, und nur da hatte ihm die Geschichte nicht mehr gefallen, wo sie durch eine Gnade des Gerichts oder durch einen Aufschub des Prozesses oder gar durch eine Schlauheit oder listige Flucht dem Feuer und Messer entronnen waren. Dann hatte er sich die Ohren verhalten und geschrien: »Oh, ich wäre nicht aus der Kette gesprungen! Ich hätte gesagt: Gebt mir den Tod, euer Leben will ich nicht...!« Jetzt würde er das nicht mehr sagen. Helden sind es doch. Und der Bischof ist auch einer. Geht er doch in jedes Zirkusspiel immer an den gleichen Platz, wo ihn die armen Christen der Arena sehen und im Entsetzen der Löwen und Tiger noch seinen Segen und sein Absolvo und das lächelnde Nicken seines Apostelhauptes empfangen. Diese himmlische Gebärde: Keine Angst, der Herr Christus ist bei euch! Einen Augenblick nur, und dann seid ihr ewig Selige!... O ja, und Sebastian, der gegen die Barbaren an der Donau gefochten hat und zuerst über das Eis des Stromes gesprengt und in die Barrikaden der Sueven geritten ist, Sebastian, der am Hof, fast unter den Augen des Kaisers ein Dutzend Höflinge zu Täuflingen gemacht hat, Sebastian fürchtet den Tod gewiß auch nicht. Nein, aber tapfer leben ist auch etwas.

Tapfer leben! Ach, wie kann das Tarcisius, hier unten in den Höhlen oder als Vermummter in der Stadt oder, und dies die längste Zeit, bei den Ziegen und Schafen des Pastors Klemens Rufus? Da sitzt er den ewiglangen Tag auf einem Stein neben den Hirtenbuben, die ihn auslachen, weil er nicht melken und keine ungesottene Milch trinken kann...

»... Das kann ich auch nicht!« lispelt es neben mir aus dem Mantel hervor. »Und überhaupt... ja...«

»Was überhaupt?«

»... Sieht mir... ich weiß nicht... dieser Tar . . c . . isius sehr ähnlich«, bröckelte Ximenes langsam hervor.

»Meinst du?«

»Er hat Haare und Augen wie ich, ist von der Sonne auch so verbrannt, und tut geradeso, wie ich auch täte, wenn ich dort in den Rattenlö... nein, in den Katakomben sein müßte. Wie ist es denn nun mit ihm bei den Hirten?... Da sind wir doch stecken geblieben.«

Ja, Tarcisius dachte, wie er morgen und übermorgen wohl wieder dort auf dem Steine sitzen und etwa einen störrischen Bock am Horn schütteln... ach, wäre es doch lieber der Präses oder gar der Imperator ! Und etwa ein blondes Schäfchen vor einem Widder schirmen wird Ach, wäre es doch ein gefangenes Christkind! Aber es sind nur Ziegen und Schafe. Und schläfrig dehnen sich die braungrünen und grauen Campagnastrecken mit den weißen, schnurgeraden Straßen aus. Da und dort starren die Häupter traumseliger Ulmen oder totenstiller Zypressen in den trägen Himmel auf. Den Tiber hört man nirgends. Aber in nördlicher Klarheit schimmert Rom mit seinen marmorbebauten Hügeln, den Tempeln voll goldener Götzen auf den Dächern, den Theatern, Bädern, Triumphbogen, den kaiserlichen Palästen auf dem Palatin und den baumerfüllten Villenhöfen zu ihm herunter. O dieses Rom! Wie es lärmt und funkelt! Jetzt, jetzt ist ein Rennen, jetzt hört er Löwen brüllen, jetzt musiziert man vor Cäsars Haus. Und indessen liegen Hunderte in tiefen Verliesen oder werden auf der Drehbank ausgerenkt oder hängen an Kreuzen oder müssen als Sklaven die Mühlen drehen, den Holzteller um den Hals. Wer weiß, was eben jetzt so ein Christ schreit!... Hilfe, Hilfe!...

»Tarcisius!«

... Oder wie einer sich gegen zehn Schergen verteidigt oder einer vor zehn andern wie vor Bluthunden durch alle Gäßchen des Trastevere jagt! Hilfe ! Hilfe! Und Tarcisius hockt hier bei langweiligen Schafbuben und muß das alles leiden und geschehen lassen und darf nichts tun als beten und das Rauchfaß schwingen. Oh, Sankt Peter und Paul, daß er es doch mit allen Feuerkohlen dieser Tyrannenstadt um den verfluchten Kopf schlagen könnte!

»Tarcisius!«

Wer ruft ihn? Ach, der schöne Gardistenhauptmann! Neben dem stillen, feierlichen Papst sitzt er und ruft schon wieder. Und alles sieht auf ihn. Auch die narbigen Gesichter, auch das blasse und so milde Antlitz des römischen Bischofs, auch die Hirtenbuben, auch die Frauen und Kinder, die ganze unterirdische Gesellschaft blickt voll Erwartung auf ihn.

»Schläfst du denn, kleiner Held?« frägt Sebastian mit geduldiger Stimme. »Du sollst dem Heiligen Vater und allen Brüdern und Schwestern hier erzählen, was du in der Basilica Ämilia gesehen hast. Du warst von Anfang dort... Wie? Du kannst es nicht?... Du schüttelst den Kopf!... Schon weinst du wieder!... Ehrwürdiger Vater, dieser Junge ist ein Flaminier. Du weißt, das sind unverbesserliche Kämpfer. Gar unser Tarcisius ist unglücklich, weil er noch kein Schwert bekommt zum Dreinschlagen oder zum Martertod. Kann man ihn denn nirgends brauchen? Ich wette, er stellte überall seinen ganzen flaminischen Mann.«,

Papst Caius, mit dem Beinamen Mansuetus, blickte in stillem Ergötzen dem Buben ins Gesicht. Siedend heiß und blutdunkel ließ der verschüchterte Knabe den Kopf fast zwischen die Knie sinken. Der Heilige Vater lächelte immer zufriedener. Also, der Junge hat Kühnheit! Aber er hat auch Scham! Das ist die rechte Mischung zum Helden. Oh, Caius kennt das Bürschlein wohl. Er hat längst beachtet, wie es sich in Sehnsucht nach etwas Heldischem verzehrt. Zum drittenmal ist der Bub' heute in die Stadt entlaufen. Und nun weint er gar, weil er nicht in einen Kerker kriechen oder auf ein Schafott steigen durfte. Ja, das sind Flaminier. So war sein Vater Paulus, so sein Ahne Marcian. Da hilft nichts. Das sind Leute entweder zum Schlagen oder Geschlagenwerden. Die Behaglichkeit mittendrin würden sie nicht aushalten. Er wird wieder in die Stadt springen, dieser flinke Knabe. Es ist etwas in ihm, das ihn fortreißt, etwas wie Thomasgeist, etwas, dem kein Mensch und am wenigsten ein Christenmensch widerstreben soll. Denn der Geist weht, wo er will. Jetzt hat er diesen jungen Schopf am Wirbel gefaßt. Es hieße, der Gnade widerstehen, widerstände man dem herrlichen Kinde.

Und sogleich blüht im genialen Kopf des Papstes ein Plan auf, breitet sich aus wie ein raschwüchsiger, mächtiger Baum, greift mit den Ästen über die große Stadt und fingert mit einem Zweiglein in jedes Gäßchen, selbst in die Gefängnisse, ins Amphitheater, in die Gerichtsstuben und wirft einen greifbaren Segen in jeden armen Christenwinkel, während der Wipfel immer höher gen Himmel rauscht...

»Was ist es denn!« stupft mich Ximenes. »Vorwärts! Das wird prachtvoll...« Ich höre deutlich, wie sein Atem leise keucht und schnaubt.

»So sage mir, Tarcisius«, fragte Papst Caius Mansuetus gütig, »kannst du durch die Stadt laufen mit einem wichtigen Brief in der Tasche, ohne rechts und links zu schielen oder in die Läden zu gucken oder dich in eine Komödie beim Forum oder in ein Soldatenspiel vor den Thermen zu vergaffen, immer nur die Hand und das Herz am wichtigen Brief? Kannst du das?«

»O Heiliger Vater...« vermochte der Junge nur zu stammeln. Aber dieses Gestammel kam heißer als tausend Schwüre aus seinem Mund.

»Und ohne stillezustehen, wenn Christen vorbeigeschleppt oder auf einem öffentlichen Platz gemordet werden? Ohne ein Wort zu sagen oder eine Faust zu ballen? Könntest du auch das, wenn du mir etwas Wichtiges besorgen müßtest?«

»Ja... Bischof! ja!« schrie Tarcisius jetzt schon ruhiger.

»Und wenn es gar das heiligste Sakrament wäre? Unser Abendmahlsheiland? Zu einem Kranken, zu einem Verurteilten? Würdest du auch wissen, was Großes du trägst? Demütig und still vor dich hingehen? Du wilder Sohn, wärest du zahm genug?«

Der Knabe erblaßte vor freudigem Erschrecken, rutschte vom Stühlchen auf den Boden, spannte flehend die Arme nach dem Bischof und hielt den Mund weit aufgerissen vor Durst nach dem letzten schönen Worte. Ihm schwindelte vor Glück.

»Begreifst du, was das für ein großes Amt ist?« bat der Papst jetzt furchtbar eindringlich. »Was du jetzt versprichst, mußt du auf Leben und Sterben halten. Bist du geschickt genug?«

Da rief der Kleine mit brennenden Lippen: »Heiligster Vater, war das Eselein am Palmsonntag so geschickt, so bin ich's noch viel mehr. Oh, ich will unsern lieben Christ durch die Henker und durch die Löwen...«

»St! St! Still und demütig, daß niemand auf dich achtet...«, korrigierte Sebastian.

»Ja, daß niemand auf mich achtet«, gelobte das Bürschlein folgsam.

»Und wenn es auch nie zwischen die Löwen und Tiger, vielleicht nur zu den Sklaven und zu den armen Christinnen im Tiberviertel geht!«

»Zu den Sklaven und armen Christinnen...«, wiederholte der Knabe und verbiß herzhaft eine leise Enttäuschung wegen der Löwen und Tiger.

»Es geht uns wie dem alten Samuel«, wandte sich jetzt der Papst erklärend an die ganze Gemeinde ringsum. »Wir müssen die Bundeslade dem Knaben David anvertrauen. Nicht diesem da allein. Ich hoffe, wir haben noch viele Davide hier. Unsere Gesalbten, die Prediger und Täufer und Katecheten, dürfen wir nicht alle auf der Pastoration verlieren. Besonders nicht so, wie den unseligen Porphyrius, diesen gottgeschlagenen Saul!«... Hier erbebte die ruhige Stimme des Bischofs leise, und alle senkten die Stirnen wie in Scham für jenen treulosen Priester, der das Haupt zu hoch gereckt und es nun vor wenigen Tagen als Apostat unter die Füße der Römer Götzen schmählich gebogen hatte. Einer aber knirschte mit den Zähnen. Das war Tarcisius.

»Es ist auf die Hirten abgesehen, und jener Mietling, wenn ihn alle Gnade verlassen hat, ist feig genug, sie wie Judas zu verraten. Da tun uns die Kinder not. Sie sind unverdächtig und können leicht mit Botschaft und Almosen und selbst mit dem heiligen Sakrament in Türen schlüpfen, wo kein Mann zukäme. Und so einen Gang, Tarcisius, halte ich für dich bereit. Du mußt zu Laban gehen, dem Futtermeister, am Zirkus Maximus. Er ist ein Jude, aber liebt uns, weil wir seine Frau und sein Knäblein beim Auflauf gegen die Hebräer gerettet haben.«... Der Papst zeigt auf Sebastian... »Seitdem hilft uns der gute Mann, zu den Zirkusverliesen zu gelangen. Aber seit vorgestern wird leider der Zugang von Gardisten bewacht. Laban hat uns unterrichtet, daß man nur noch in sein Häuschen vor der Bühnenmauer kommen dürfe, und nur noch selten, und keiner der bisherigen, und daß in die Kerker selbst gar niemand mehr ohne Gefahr für sein Haupt gelange.«

Ein tiefes Seufzen stieg da und dort aus der lautlos horchenden Schar.

»Nun ist mir, wie ich den trostlosen Tarcisius sah, ein Licht aufgegangen. Dieser Knabe kann am ehesten ins Haus und vielleicht sogar zu den Eingekerkerten dringen. In jedem Fall wird er zu Laban gelangen und, wenn es nicht anders geht, durch diesen Juden das heilige Abendmahl der Monica Severa und ihrem Diener zukommen lassen. Lege dich schlafen, Tarcisius, daß du morgen zeitig aufbrichst, und vergiß nicht, daß du versprochen hast, demütig und schlicht wie das Palmeselein unsern König in die Stadt zu tragen!«

»Nicht anders, Heiliger Vater!« beschwor Tarcisius und ging so leicht und so selig, als könnte er fliegen, mit den Schafbuben Ajax und Romulus den holperigen und oft von ihm verschimpften Weg zu den klementinischen Hütten, wo er neben den Schafen im Laub sein Lager hatte. Aber er konnte nicht einschlafen.

»Bleibt auch noch ein wenig wach!« bat der Hitzige die zwei ruhig neben ihm liegenden Hirtlein. »Ihr schnarcht ja schon.«

»Laß uns in Ruhe!« bat Ajax. »Ich weiß wohl, warum du nicht schlafen kannst.«

»Nein, das weiß er nicht«, lachte Tarcisius in sich hinein.

»Warum kann er nicht schlafen?« fragte schläfrig Romulus.

»Weil er nicht aus dem Kelch getrunken und nicht vom Abendmahlsleib gegessen hat. Er hat beidemal unsern lieben Heiland vorbeigehen lassen. Ich sah es gut. Und ohne Christus kann man nicht schlafen.«

»O ihr... wenn ihr wüßtet!« rief Tarcisius und umschlang die Bauernsöhne leidenschaftlich und drängte sie rechts und links an sich... »ich war ja so wild, so zornig, so... ach, ich konnte gar nicht mittun... weil ich in der Basilika... nein, nein, das könnt ihr nicht verstehen. Aber morgen trag' ich Christum da, seht, da auf der Brust, unter dem Gewande da, in dieser meiner rechten Hand. Wie der Papst!«

»Aber wir haben seinen Leib genossen und sein Blut getrunken. Tarcis! Wir haben ihn schon im Herzen drin, denke!«

Verblüfft schwieg das römische Junkerlein. »Ja«, sagte er zuletzt demütig, »ihr seid wohl viel besser. O Christkind, mach mich auch so!«

Das hörten die Geißbuben schon nicht mehr. Sie schliefen mit dem Weichselstock und dem Kürbis neben sich, die Füße im Stroh, aber alle Sterne des Himmels im Gesicht und das leibhaftige Kind von Bethlehem im Herzen, tausendmal seliger als ihre ersten Ahnen in der ersten Weihnacht...

*

Ich hielt einen Augenblick in meiner Geschichte vom Knaben Tarcisius inne. Schlief mein Nachbar, daß er so unbeweglich geworden war? Ich hätte ihn jetzt sehen mögen. Es war ein eigentümliches, beklemmendes Erzählen so ganz ins Finstere hinein. Zwischen dem, der spricht, und dem, der horcht, sollte es nicht undurchdringlich dunkel sein. Nein, man muß sich sehen, wenn auch lieber in einem leisen Dämmer als im grellen Licht, aber man muß sich im Gesicht des andern beobachten, stärken, erquicken können. Dann erst lebt die Geschichte, glänzt, fliegt, reißt das Herz mit.


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