Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Ade, Knabenzeit!

Ich sollte nun wohl von den blühenden Jahren der Gymnasialzeit erzählen, von den Lehrern, die gütig in mein Jünglingswesen wirkten – von den Mitschülern, die mit hunderterlei Anfechtungen von Freundschaft, Hilfe, Gegnertum, Intrige, Krieg und Leichtsinn mich bald verwirrten, bald aufklärten und über die Landschaft meiner Seele bald Gewitter, bald Sonnenhelle verbreiteten – von der Begeisterung, mit der ich die Klassiker las und gleichzeitig mich immer stärker zum geistlichen Stande hingezogen fühlte, ja, am liebsten sofort in die wallende schwarze Kutte des gewaltigen Benediktus geschlüpft wäre – von den Süssigkeiten der Weltlichkeit, die mit dem Erscheinen eines weichen Flaums auf der Oberlippe sich immer deutlicher meldeten und oft wie ein warmer, schwüler Föhn über mein Fleisch und Blut strichen, und von dem erfrischenden Duell, das dann zwischen meinem Ideal und diesem Widerpart anhob, aber, wie mich dünkte, nie Blut oder Tränen kostete, sondern sozusagen in einem lustigen Händeschütteln der Rivalen und in der fröhlichen Überzeugung schloss, dass schöne gesunde Welt und heiliges Kirchenamt sich doch nicht ausschlössen, und dass, worauf der Geistliche dem Himmel zulieb verzichte, doch nur ein kleines und gar nicht notwendiges, hundertfach ersetzbares Stück erde sei.

Von all dem sollte ich erzählen, und es gäbe hundert warme Geschichtlein davon. Doch das gehört in ein neues Buch. Mit dem Studenten hört die Kindheit, das reine, unbeschwerte Knabentum auf. Eine ganz andere Zeit und ein ganz anderer Mensch beginnt. Zwei Ereignisse traten dazu, die den Strich zwischen gestern und heute unauslöschlich tief machten.

An einem Winterabend kam ich wie gewöhnlich etwas vor der Dämmerung mit meinem Bücherranzen heim und holte den Milchkaffee aus dem Ofenrohr und schnitzelte Brotbrocken hinein. Hinter der Tasse hatte ich schon die Bücher und Hefte aufgebeigt, in die ich mich stürzen wollte, sobald Verena die schöne, kristallene Petrollampe anzünden würde, die sie aus ihren bessern Tagen in unsere Armut wie ein Prunkstück gerettet hatte. Es war der alte Homer dabei, in dessen Odyssee das graue Meer rauschte, die kleinen Reden des Lysias, die mir nicht sehr behagten, Ciceros wunderlich echte Menschlichkeit und bestechende Kunst, witzige Algebra und abstrakte Physik. Indem ich ass und trank, bummelte mein Gehirn schon in diesen Büchern herum. Die Mutter sass am Fenster, im letzten Tropfen Tag, und strickte still vor sich hin. Sie klagte oft, dass ich so einsilbig geworden sei und so wenig aus der Schule erzähle. Aber was konnte ich ihr von quadratischen Gleichungen, von Kali und Antimon oder vom Wechselstrom vorplaudern. Ich hätte von Demosthenes und vom Nibelungenlied reden und Napoleon schildern können. Aber diese hohen, von Blut und Leidenschaft befleckten Dinge hätten sie nicht ergötzt. Und meine Kameradschaften auszukramen, wo sie mein Herz tiefer ins Spiel zogen, davor hielt mich eine seltsame Scheu, eine jünglinghafte Scham ab. Meine liebe, so schwer in Ernst und strenger Sachlichkeit haftende Mutter würde mich entweder auslachen oder schelten.

Es wurde dunkler in der Stube, und ich sehnte mich, dass die Mutter die Lampe anzünde. Aber sie liebte es, im Zwielicht ein Weilchen die Hände in den Schoss zu legen, und wahrlich, sie hatte eine solche kleine Pause des Atemschöpfens wohl nötig. So wartete ich denn geduldig. Aber ich wusste nichts zu sagen, und auch Verena schwieg. Eine schwere Stille lastete auf uns. Die niedrige Stube des alten Mattlihauses, wo wir nun schon etliche Jahre seit der Heirat des Lehrers wohnten, schien mir nicht bloss mit Dunkelheit gefüllt, sondern diese Finsternis fing an in meinen Ohren zu summen, ähnlich wie einem wird, wenn man für einige Sekunden im Wasser untertaucht.

Da rumpelten grobe Schuhe von draussen. Es stieg jemand rasch die Holztreppe vor dem Hause empor und klöppelte an die Türe. Ich zündete die Lampe an, während meine Mutter hinaussprang.

Sie kehrte mit einer Depesche zurück. Ihr Gesicht wurde bleich, ihre Finger zitterten. Damals war dieses hellbraune kleine Kuvert noch selten, und wenn eines zu uns flog, bedeutete es nie etwas Gutes.

»Soll ich’s auftun, Mutter?«

Da riss sie es mit dem Zeigefinger hastig auf, überlas es und hielt sich am Tischrahmen.

»Der Vater?«

Sie nickte und glitt langsam aufs Sofa. Weiss wie Schnee wurde sie. Ich sprang in die Küche, holte Essig, sie netzte sich die Schläfen damit und Lippe und Nase. Dann beteten wir fünf Vaterunser, wie es alte schöne Sitte war, sobald ein Totenzeichen geschah, und während der unsterblichen Worte wurde uns leichter, und wir bekamen das erlösende Gefühl, dass es um unsern lieben verstorbenen Vater, der in schweren geistigen Drangsalen endlich in eine Anstalt gebracht worden war, nun in der Gnade und Ruhe Gottes viel besser stehen müsse als je in der Unrast seines Landstrassenlebens.

Während ich nun mit halbem Geiste in meinen Büchern lernte, sass Verena neben mir und strickte, als wäre nichts geschehen. Aber ob wir auch seit Jahren nie mehr einen Deut vom Vater erhalten, ob er uns sozusagen schon längst gestorben war und die schwarze Unmittelbarkeit des Todes, wenn Leiche und Sarg unter dem gleichen Dache mit den Überlebenden liegen, hier nicht zur Geltung kam, trotzdem war unsere scheinbare Geschäftigkeit eine Verstellung, eine gegenseitige, wohlgemeinte Überredung. Sooft ich von meinem Heft zur Mutter schielte, sah ich sie mit abwesenden Augen über das mechanische Geklingel der Stricknadeln in irgendeine Ferne blicken. Das Leben mit Paul rollte noch einmal vor ihrer Seele ab, von den blühenden, glühenden Tagen in Brienz zu den ersten Enttäuschungen, den wachsenden Nöten, den vielen bittern Trennungen und dem noch bitterem Wiedersehen bis zur Einsicht, dass hier ein Schicksal walte, gegen das sie unvermögend sei. Wie waren Pauls letzte Jahre, wie seine letzten Tage? Dachte er noch einmal an sie? Und wie? mit Reue, mit Sehnsucht oder mit dem unnennbaren Gefühl: Hätten wir uns doch nie auf Erden getroffen? Ach, wie dem sei, gewiss hat er sich, als das Leben von allen Seiten wich und der Tod über ihn stürzte – denn es war ein Schlaganfall –, gewiss hatte er sich noch der Liebe Gottes empfohlen, in allem Ruin des Daseins an diese Liebe geglaubt, wie ein kleines Kind, das sich tief in den Finger geschnitten, zur Mutter läuft und den Kopf in ihren Schoss birgt. Immer war er ein Kind gewesen, im Sündigen, im Lieben, im unendlichen Glauben, dass Gott das, was er geschaffen und in grosser Schwäche hangen sah, niemals untersinken lasse.

Einige Monate schlichen träge durch diesen Winter dahin. Die Fastnacht kam. Am fetten Dienstag schenkte uns die Mutter einen Abend mit Nidel und Lebkuchen und etwas Wein. Sie hatte zweimal in kurzer Zeit Anfälle von Brustfellentzündung gehabt, aber sie jedesmal rasch durch eine Schwitzkur überwunden. Jetzt, unmittelbar vor dem Aschermittwoch und den vierzigtägigen Fasten, gönnte sie uns noch eine kleine Fastnachtsfreude. Meine jüngere Schwester – die ältere war im Welschland – und ich sassen mit der Mutter um den runden Tisch und leckten und schleckten von den seltenen Tafelfreuden. Wir Kinder sangen und lachten hie und da in die mondhelle Nacht hinaus, während Verena mit dem kurzen Birkenbesen die Buttermilch schwang, bis sie duftig wie leichter Schnee aufschäumte. Während wir scherzten und uns neckten und alte Lieder sangen und immer wieder in den Schmaus griffen, blieb die Mutter merkwürdig ernst, wie eine stille Insel im Geplätscher der losen Gewässer ringsum.

Um elf Uhr sagte sie: »Genug!« Wir trugen das Geschirr ab. Dann nahm sie das braune grosse Gebetbuch, aus dem sie uns jeden Abend das Nachtgebet vorlas, und betete vor. Mir fielen vor Schlaf fast die Augen zu. Aber meine Mutter ergab sich nicht, bis die Tagesrechnung mit unserem lieben Herrgott beglichen war.

In der Nacht schreckte ich durch ein heftiges Klopfen vom obern Boden auf, wo Mutter und Schwester schliefen. Ich sprang in Hosen und Pantoffel und flog die kleine Treppe hinauf. Die Mutter lag mit brennendem Gesicht auf den weissen Kissen, ein Bild des schmerzlichsten Zusammenbruchs. Wir kochten ihr Milch, legten heisse Tücher auf jene Seite, wo es sie wie mit Messern stach, beteten und weinten und trösteten sie wieder mit unserem lieben Doktor Stockmann, der morgen früh geholt würde und sich zu helfen wüsste. Es wäre schwer zu entscheiden gewesen, wer in diesen bangen Stunden dem Aschermittwoch entgegen eine grössere Angst durchlitt, die Mutter, uns zu verlassen, oder wir, die Mutter zu verlieren.

Ich getraute mir nicht, ins Kollegi zu gehen. Nein, ich musste im Zimmer der Mutter bleiben. Sehnsüchtig erwartete ich den Arzt, der schon so oft geholfen hatte. Meine jüngere Schwester kam aus der Messe und trug noch etwas Asche auf dem Scheitel. Denn die Priester streuen an diesem Morgen den Kirchgängern Asche aufs Haupt und reden jedem mit dem schweren Spruche zu: »Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehren wirst!« – Kein unnützer Fingerzeig, nach all dem Lärm, der Eitelkeit und Sinnenlust, wie sie in unserer Fastnacht die Hörner strecken!

»Zeig’!« befahl Verena leise, und die Schwester bog den Scheitel, so tief sie konnte, zur Kranken hinunter. Da fingerte die Mutter einige Aschenkörner auf, streute sie auf ihr noch so schwarzes Haar und betete das Sprüchlein vom Staube und vom Zurückkehren in den Staub mit tonloser Lippe. Ich musste zur Türe hinaus, um meine Rührung zu verbergen.

Es war eine Brustfellentzündung schwerer Art. Eine Weile schien es, als überhaue die Mutter auch noch diesen Streich. Aber es fiel uns Kindern auf, dass sie, die über jeden Schlüssel und jede Schublade bisher noch in den schlimmsten Stunden regiert hatte, jetzt auf einmal alles aufgab, sich um nichts mehr kümmerte, dalag wie eine, die auf nichts mehr rechnet, nur noch selten sprach, meist die Augen geschlossen hielt und, wenn man fragte, wie es gehe, wortlos und hilflos die Hände auf die Decke fallen liess.

Nie werde ich diese drei Wochen der Angst vergessen. Im Kollegi dachte ich zwischen Cicero und Achilles nur an meine Mutter. Am Mittag ging ich zum Seeufer und schaute über das Wasser nach Sachseln, als ob ich Kunde bekommen könnte, es gehe nun besser. Abends warf ich den Schulsack schnell vom Rücken und rannte zur Mutter hinauf, um sie an beiden Händen zu nehmen und im stillen zu beschwören: O bleibe doch bei uns! Denn mir schien vom einen zum andern Tag, sie entferne sich immer mehr von uns, lebe schon halb anderswo. Jetzt, wo es nichts mehr nützte, packte ich ihr mit fieberhafter Redseligkeit aus, was ich tagsüber erlebt, was geleistet, was von den Kameraden erfahren hatte. Aber sie hörte es kaum, lächelte nicht, wehrte eher mit der magern Hand ab und sank in ihre Ahnungen der nahen Ewigkeit zurück. Das liebste, was es für mich noch gab, bestand darin, dass ich die Kranke in einer warmen Decke auf das andere Bett hinübertragen durfte, wenn ihr eigenes Bett gehörig gelüftet und aufgemacht werden musste. Oh, wie gerne trug ich diese teure Last, wie froh wäre ich gewesen, die Strecke hätte nicht drei Schritte, sondern einen viel längern Weg betragen. Aber wie klein und vogelleicht war diese Last geworden, die doch selbst Berge von Mühsal auf sich genommen und tapfer bis ans Ende getragen hatte!

Am Tage des von ihr so verehrten Pflegvaters Jesu empfing sie die Sterbesakramente.

An einem Samstagabend traf ich sie durchaus verändert. Ihr Gesicht war rot, ihr Atem schwer, ihr Wesen voll Unruhe. Zufällig kam der Arzt gerade vorbei. Er machte ein bedenkliches Gesicht, und es erschreckte mich, als er unter die Decke nach Mutters Füssen griff, ob sie kalt seien.

Als ich eine Stunde früher von der Schule her ungestüm wie gewöhnlich in Mutters Zimmer getreten war, etwas lotterig und von der Strasse besudelt, hatte sie mich noch einmal sehr, sehr ernst angeblickt, vom Kopf bis zu den Füssen, und dann müde gesagt: »Zieh’ jetzt doch die bessern Hosen an!« Das war ihr letztes Wort. Denn als der Arzt nun ging und ihr Antlitz immer dunkler und ihr Benehmen fremdartiger wurde, sagte ich dringend: »Mutter, soll ich nicht den Pfarrer holen?« Sie nickte nur. Der Priester war schon durch den Doktor benachrichtigt, schnell bereit und lief, von mir, der immer einige Schritte voraussprang und wieder drängend zurückblickte, sozusagen immerfort gespornt, mehr als er ging zum alten Mattlihaus hinunter. Dort stürzte meine jüngere Schwester die Vorlaubentreppe hinunter und schrie mit verzerrtem Gesicht: »Die Mutter stirbt, die Mutter stirbt!«

Wenn ich das Alter der Pyramiden erreichte, so würde ich doch nie vergessen, was ich beim Eintritt in das Krankenzimmer sah: Meine Mutter mit einem Gesicht wie Wachs, die Nasenlöcher gespreizt, die Augen zerdrückt und aus jedem eine Träne gepresst. Der Pfarrer begann sofort zu beten. Sie aber hörte und sah nichts mehr. Noch ein einziges Mal hob sich der Hals in einem langen Atemzug. Dann knickte sie zusammen und ihr liebes Gesicht nahm sofort die zerbrochene, starre, abweisende Art des Todes, seine Kühle und Fremdheit an.

Wir knieten mit dem Pfarrer vor dem Bette hin und beteten mit ihm und das gewaltige Kirchenwort, das ich so oft nur halben Sinnes gesprochen hatte, rauschte jetzt wie ein Meer durch die Kammer und ging mich unendlich tief an: »Herr, gib ihr die ewige Rute, und das ewige Licht leuchte ihr! Herr, lass sie ruhen im Frieden, Amen.«

Es wurde Nacht. Man kam, die Tote zu waschen und für die Beerdigung anzuziehen. Dann zog die Totenbeterin ein, um die Nacht über an der Leiche zu wachen. Meine Schwestern fürchteten sich, im Nebenzimmer zu schlafen. Waren es doch noch so junge Wesen! Ich aber hörte in meinem Schlafzimmer nachts die Schritte der alten Frau über den Dielen und das Krachen der Holzwände und eine Menge von Geräuschen, die vielleicht gar nicht existierten. Aber ich konnte nicht weg, ich musste der Toten nahe sein, als ob sie mich vielleicht rufen könnte und mir noch etwas sagen sollte. Dennoch schwitzte ich in einer Art angstvoller Aufregung und war froh, als über die Holzbeige an der Hauswand unsere graue Katze aufs Gesimse kletterte und am Fenster mit den Pfoten rieb. Ich liess sie gerne herein, legte ihr ein Kissen auf den Stuhl und wurde nun viel ruhiger. Dieses egoistische Tier putzte sich gemächlich, suchte die bequemste Lage, rollte sich zusammen und schlief, als gäbe es nichts als ihr seliges Wachsein und Entschlummern.

So oft ich allein mit der Mutter sein konnte, blieb ich am Sonntag bei der Leiche. Jetzt lag sie in einem leisen, feinen Frieden da, abwesend einerseits, jawohl, abwesend von allem Bisherigen und mir doch so merkwürdig nahe. Es war etwas Unbegreifliches. Immer wieder musste ich das Linnen von ihrem Haupte heben, um diese Stillgewordene zu betrachten. Dabei floss mir das Weinen in ungehemmten Bächen nieder, den ganzen Tag, erlösend wie Frühlingsflut, aber so übermächtig, dass ich von da an wie ausgetrocknet blieb und jahrzehntelang keine einzige Träne mehr vergoss, obwohl mich manches Beweinenswerte traf.

Es war jener Mittefastensonntag, wo man abends auf allen Höhen Feuer anzündet und eine Art Nachfastnacht begeht. Ich dachte nicht daran. Aber immer wieder hörte ich die letzten Worte meiner Mutter: »Zieh’ jetzt doch die bessern Hosen an!« Mir war, sie habe nicht die leichtern Hosen und den Rock für den Sommer gemeint, obwohl der Lenz in der Luft steckte und auch die Mittefastenfeuer eigentlich nichts anderes als ein uraltes Freudezeichen wegen des beginnenden Frühlings waren. Vielleicht hatte sie auch an dies gedacht, als ich schwitzend und das dicke, schwere Wintertuch zugeknöpft an ihr Bett sprang. Aber warum hatte sie mich so seltsam, so durchdringend angeschaut? Da lag mehr im Satz: Zieh’ doch die bessern Hosen an! Sicherlich wollte sie sagen: Werde ein besserer Mensch! Ich muss fort, du bist fortan allein. So sag’ ich dir denn zum letzten Mal, tu’ dein zänkisches Wesen, deine Starrköpfigkeit, dein blindes Dreinfahren, dein unbesonnenes, hitziges Gefühl, deine Hasenhaftigkeit vor Hindernissen, deine Trägheit im Entschliessen, deine Phantasterei und Unordnung, tu’ das von dir, schüttle dieses alte, wüste Lumpenzeug ab und zieh’ einen neuen, tapfern, reinen, guten Geist an. Das war grauer Winter. Jetzt wird es Frühling. Werde ein neuer, ein besserer Mensch! ...

Das meinte die Sterbende und nie zog ich ein neues Paar Hosen oder einen neuen Rock an, ohne dass ich jenen Spruch aus dem Sterbezimmer hörte und im Innersten seufzte, weil ich noch so wenig besser, ach, vielleicht sogar schlechter geworden war.

Am Abend kamen einige Verwandte von Brienz. Sie schienen mir ungerührt, und ich habe sie seitdem nie mehr gesehen und nie vermisst. Vielleicht bin ich ungerecht. Aber es waren doch leibliche Kinder, aus dem Mutterschosse der Toten hier, vor der sie so durchaus ohne seelische Teilnahme standen, einst ans selige Licht des Lebens gelangt. Alles widerte mich an, die Höhenfeuer, das Pulverknallen und Strassengelärme, die ganze Welt.

In der Nacht vor dem Begräbnis bekam ich einen schweren Asthmaanfall. Hustend und atemringend hörte ich am Morgen das Gepolter der Leichenträger und das Vernageln des Sargdeckels. Ein gütiger Handwerker soll endlich gesagt haben: »Nehmt doch Schrauben, dass es nicht so heillos durchs ganze Haus poltert!«

Es schneite wie mitten im Winter. Ich wurde ins untere Mattlihaus gebracht, ins Zimmer und Bett meines lieben Kameraden, der nun schon an der Innsbrucker Universität studierte. Von da hörte ich das feierliche Glockengeläute. Mühsam erhob ich mich im Kissen, um den Wegzug meiner Mutter aus dem Hause zu sehen und den Sarg zu grüssen, worin sie zu Grabe getragen wurde. Aber im wilden Schneegeflock konnte ich nichts erkennen. Da fiel ich ins Kissen zurück und spürte zum ersten Mal deutlich, was mich dann durchs ganze Leben nie mehr verliess, dass ich eine Waise und fortdann ganz allein auf meine zwei schwachen Füsse gestellt sei.

Die gütige Mattlifrau, die Ratsherrin, pflegte mich wie ihren eigenen Sohn. Dann ging ich bald wieder ins Gymnasium. Die Verwandten hatten uns geraten, den Konkurs über uns ergehen zu lassen. Aber meine schönen Stipendien und die rührige Arbeit der Schwestern hielt uns aufrecht. Es war, als ob die Mutter uns unsichtbar weiterhelfe.

Indessen eine gewisse Schlingelhaftigkeit, nicht des äussern Benehmens, sondern des innerlichen Wesens, eine Art rauhes Burschentum der Seele, eine ungeregelte Hitze des Blutes überkam mich nun um diese Zeit, da ich auch schon grossartig zum Barbier ging. Die weiche und doch so starke Hand der Mutter fehlte und das süsse Knabentum war endgültig abgetan. Aber wenn sich nun aussen und innen Stürme erhoben, so besassen sie doch nie Kraft genug, um das Abschiedswort der Mutter zu ersticken: »Zieh’ doch jetzt die bessern Hosen an!« Durch allen Dampf und Lärm der kommenden Jahre hörte ich diesen Ruf, und er wird mich bis zu jenem radikalen Kleiderwechsel begleiten, wo sich Vergängliches und Unvergängliches scheiden.


Am Fenster! schrieb ich eingangs, und wenn ich diese Kapitelchen überschaue, dünkt mich wahrhaft, ich sei bei allem Geschehen der bewegten Kindheit doch weitaus die meiste Zeit in wohlig müssigem Grübeln, untätig, ins Blaue guckend, mehr Zuschauer als Mitspieler gewesen, das Leben, wie es unabweisbar mir immer näher und schärfer auf den Leib rückte, mehr mit den Augen als mit den Händen ergreifend.

Aber jetzt spürte ich doch einen kühlen Wind im Rücken. Aha, die Küre war aufgegangen, genagelte Schuhe und ein Reisestecken lagen auf der Schwelle und eine Gestalt, deren Namen und Gesicht ich nicht recht erkannte, stand draussen, streckte den Arm und rief: Heraus, Gvätterlibub, aus der Traumstube, ins Leben! Ich bin dein Schicksal. Gib mir die Hand!

Und da gab es kein Sträuben mehr. Ich band die Schuhe fest, packte den Stock und sprang – oder huschte ich nur so halbwegs? – auf die lange, laute Strasse hinaus.


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