Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Der tolle Hund

Ich fürchtete nichts so sehr wie die Toten und die Hunde. Wohl, auch den Teufel hätte ich fürchten sollen. Er war mit Horn und Klaue und schmierigem Schwanz schwefelgelb genug an die uralten Kapellenwände gemalt. Aber soviel man uns auch von diesem Unhold erzählte, ich hatte ihn nie gesehen. Die Toten aber und die Hunde sah und erlebte ich.

Die Toten, ward ich belehrt, können sich ja nicht mehr rühren, du Furchthans! Sie sind froh, dass man ihnen nicht mehr weh tun kann. Beiss einem in den Finger, es kommt kein Blut heraus. Sie spüren nichts. Die Lebendigen muss man fürchten, die beissen.

Aber gerade, dass die Leiche so steif dalag, auf einmal etwas ganz anderes als eine Stunde früher, etwas furchtbar Stilles, Starres, Wildfremdes, das machte mich schaudern. Mir schien es eine heimtückische Erstarrung. Ich traute dieser Unbeweglichkeit nicht recht. Es lag etwas wie gefährliche Verstellung in solcher Todesmaske. O gewiss, die Toten machen sich schon zu ihrer Zeit bemerklich, spuken um Mitternacht von den Friedhöfen her, sperren Türen auf, löschen Lichter aus, fahren mit eisigen Händen über dein Kopfkissen, stöhnen aus einem schwarzen Winkel heraus, melden Unglück, haben keine Ruhe und geben keine Ruhe. Ich glaubte an jedes Gespenst.

Drei Schulkameradinnen sah ich langsam an der Auszehrung absterben und sich dann kalkweiss und splitterdünn, in grauenhafter Entstellung ihrer einst so wohligen Gesichter, zwischen die Sargbretter strecken. Das traf mich wie ein Fauststoss vor die Stirne. Immer höher stieg meine Angst vor dem Tod. Wäre rechts eine Leiche und links der schwärzeste Satan gesessen, ich wäre mit einem Schrei der Not in die Fänge des Teufels gestürzt.

Gut, also die Toten! Aber die Hunde, das war doch eine lächerliche Sache, eine Feigheit, eine Schande.

Ich sagte es mir hundertmal und fürchtete mich hundertundeinmal. Es nützte keine Überlegung, kein Vorsatz, kein tapferes Vorbild. Sobald so ein Köter bellend daherschoss, sank mir das Herz in die Schuhe, und ich tat einen Schrei der Verzweiflung. Meine Mutter bot alle Strenge auf, um mir diese Schwäche abzugewöhnen, und meine zwei Schwestern spotteten mich reichlich aus. »Gefressen wirst du jedenfalls nicht!« sagten sie. Aber das war keine Ermutigung. Mir genügte das Knurren, das Zähnefletschen, das Knuffen in die Hosen, das war so gut wie der Tod.

Wenn ein Hund auf der Hausschwelle liegt, wo ich hinein sollte, dann bleib’ ich noch jetzt in der Strasse stehen, schaue schamlos nach Hilfe um, bitte einen Vorübergehenden, mir gütigst voranzuschreiten, und zittere doch beim Eintritt. Und die Hunde merken das. Statt meine Furcht zu ehren, hassen sie mich alle durchs Band weg. Es gibt nicht einen, der mir wohl will.

Nun lag einmal die Julisonne schwül und schwer über dem Lande, als ich auf dem Heimweg vom Gymnasium in Sarnen mit etlichen andern Studentlein einen dunkeln Hund über die staubige Landstrasse an uns vorbeischiessen sah. Er rannte mit schiefem Leib und hängendem Kopf wie im Schwindel. Es war mehr ein ruckweises Stürzen als Laufen. Nach einer Strecke liess er sich glatt in den Staub fallen, mitten in der Strasse. Dann warf er sich, wenn wir näher stampften, wie ein aufgescheuchtes Wild wieder in Sprung, um nach zwei Minuten aufs neue niederzuliegen. Unbeweglich und grau vor Staub lag er dann da, nicht wie ein Tier, sondern wie ein Kadaver liegt.

Niemand von uns kannte diesen Hund. Herrenlos? Zuletzt blieb er auf dem Fleck, obwohl wir wieder ganz nahe kamen. Der Kleinste von uns hob einen Stein auf. »Lass, lass!« sagte Josef Rohrer. »Man weiss nie ... da heisst es aufpassen.«

Rohrer fürchtete die grössten Doggen nicht. Da wurde uns allen unheimlich, als er, den Finger am Mund, uns winkte, seiner grossen Schleife am Hunde vorbei mit leisen Füssen und ohne Geschwätz zu folgen. Vor mir schritt der fette Elvezio. Ich war der hinterste, und mir wurde heiss bis unters Kopfhaar.

Doch das vermergelte, struppige Tier sah nicht auf. Es schien vor Elend zu schlafen. Aber zwischen den Rippen konnte man die hastigen Atemstösse leicht wahrnehmen.

Es hat Hunger und Durst, ist todmüde, in alle Fremde verlaufen, weiss keinen Herrn und Stall. Überall schreckt man es auf, wo es eine gute Miene, einen Brocken zum Essen, ein bisschen Heimatlichkeit sucht. Auch das Tier braucht Liebe. Krank wurde es so, konnte sich kaum vorwärts schleppen, arme Bestie. Ich fühlte Mitleid, obwohl es ein Hund war.

»Erschiessen sollte man ihn«, entschied Theodor, der Jüngste, mit trockener Stimme. »Hätte ich Vaters Revolver bei mir ... holla!« Und das Bürschchen blähte aufgeregt die Nüstern seiner zarten Stupsnase.

Ich aber kam nicht aus der Rührung für das erbärmliche Geschöpf. Warum bellen denn die Hunde und beissen zuletzt? Immer nur, weil sie aus Dummheit oder Angst glauben, man wolle ihnen böse tun. Kein Tier würde beissen, wenn es Liebe sähe, ganz deutlich, in der ersten Sekunde schon, nichts als Liebe. Kein Tiger, keine Klapperschlange! Darum hat Sankt Meinrad oben in Einsiedeln die Raben regiert wie Schulbuben, und darum hat ein zottiger Bär dem heiligen Gallus das Holz zum Zellenbau wie ein braver Schreinergeselle zugetragen. Aber Liebe muss sein. Kein Tropfen Scheu, Furcht, Misstrauen, Profit darf dazukommen. So ist es, gewiss ist es so! Ich will es morgen probieren und dem ersten besten Hund, der mich anknurrt, mit solcher Liebe begegnen. Jawohl! Aber ich verriet den Kameraden nichts davon. O wie hätten die schönen Augen Josef Müllers gespottet, wie hätte Theodor weit über den Hag gespuckt. Nur Josef Rohrer, unser mächtiger Führer, hätte vielleicht ein wenig genickt und beigefügt: »Aber immer aufpassen. Wir haben halt doch die Sprache zu den Tieren verloren, wir verstehen einander nicht mehr gut. Der heilige Franz von Assisi soll sie noch gut gewusst haben, und ich denk’, auch unser Bruderklaus im Ranft. Aber sonst ...«

»Und der Pater Vinzenz«, spöttelte der Engelwirtsohn Müller.

Wir lachten alle laut auf. Dieses kleine südtirolische Professerchen beherrschte eine Menge Sprachen. Aber seine zwei Kanarienvögel verstand er nicht, und als sie ihm unlängst aus dem Käfig entwichen und er ihnen jammernd und lockend von Baum zu Baum nachrannte, pfiffen sie ihn aus, liessen ihr schmählichstes Andenken fallen und entschwebten wie zwei riesige Goldkäfer über den See, ade für immer! O wie er ihnen nachsah, beinahe mit Tränen, und wie ein Lausbub unter unserem stürmischen Lachen zu ihm mit Hiobs Sprüchlein kam: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gebenedeit! ... Und oh, wie der Professor uns in der Italienischstunde dafür mit den unregelmässigen Presenti und Definiti drangsalierte. Da hörte überhaupt jede kluge Sprache auf.


Am folgenden freien Nachmittag ging ich mit Elvezio baden. Schon die frische Seeluft, wie sie uns durch das viele Gebüsch entgegenkam, reizte uns so überstark, dass wir im nächsten besten Strauch die Kleider auszogen, in die Badhosen schlüpften und uns durchs Schilf ins offene schaukelnde Wasser hinaustummelten. Aus Binsen banden wir eine Garbe zusammen, lagen darauf und schwammen so bäuchlings herum. Es ging noch ungeschickt. Nach drei, vier Zügen mussten wir gehörig Seewasser ausspucken. Dennoch war es wundervoll, wie uns das lebendige Element blau und grau umspülte, welche Ruhe durch unsern Leib strömte, wie kostbar man atmete, nicht nur aus Mund und Nase, nein, aus dem ganzen beglückten Körper. Und die berge und Wolken schwammen mit uns im See, und die Pappeln zu Häupten orgelten, und das Ufer voll Schatten und Sonne streckte wie eine Mutter die Arme nach uns: Verliert euch nicht, verliert euch nicht!

Als wir uns nachher im Schatten blähten und dehnten, bis wir trocken waren, entfuhr es mir: »Schön ist das Leben, gottlos schön!«

Elvezio, der verwöhnte, reiche, fette Bursche spitzte die Lippen und pfiff niederträchtig, in der Art, wie man bedeuten will: Was schwatzest du für einen Unsinn?

Aber ich war bis in die Fingernägel voll Seligkeit und musste davon verschenken, damit es nicht überlaufe. »Wieso nicht?« fragte ich leichtherzig. »Was fehlt etwa? Gar nichts!«

»Ich habe jetzt zum Beispiel ein bisschen Bauchweh«, brummte der Italiener behaglich. »Nicht stark, das nicht! Aber doch wär’s besser ganz weg.«

»Du issest zu viel, du wirst zu dick, du hast es halt zu gut. Butter und fetten Käse zu jedem Frühstück oder Vesperbrot.«

»Was ist denn das?« fragte der Kamerad gemächlich und beinahe verdrossen. »Das kannst du doch auch haben.«

Ich bekam nicht einmal Magerkäse, wo das Pfund fünfzig Rappen kostete. Geschämig sagte ich: »Nicht so wie du.«

Fragend und faul sah mich Elvezio mit seinen wasserblauen, grossen, kurzsichtigen Augen an. Er verstand nicht.

»Ich kann nicht einfach in die Küche gehen und so grosse Schnitze, wie ich will, vom Stück hauen.«

»Ach, was ist denn da dabei?« schnarrte er träge.

Wie oft sah ich ihn von den Bäumen seiner Wiese welsche Zwetschgen aus dem Laub pflücken, schwere, tiefviolette. Ich stand in der Strasse und sah zu, wie er mit seinen kleinen, weissen Zähnen ins gelbe Fleisch biss, die Augen halb schloss und wie der süsssaure Saft ihm von der Lippe troff. Er konnte aus Hunderten erlesen. Hätte ich nur eine einzige! Aber er gab mir nicht einmal diese einzige!

War er geizig? O nein. Aber es fiel ihm gar nicht ein, dass ich nicht auch Zwetschgen habe. Und ich brachte es nicht über mich, den Arm über den Hag zu strecken: »Bitte, du, gib mir auch eine!« – freilich, wenn er mir eine gegeben hätte, würde ich sie gierig verschluckt haben. Und gäbe er fünf, so schlänge ich alle fünf unbedacht hinunter. Und nachts käme unerbittlich das Asthma mit seinem Würgen und stundenlangen Erstickungskampf. Aber wie oft habe ich Schwächling für eine Zwetschge, einen Pfirsich, einen kühlen Schluck Wein eine ganze Nacht voll Schweiss und Not riskiert! –

Aber jetzt im weichen Gebüsch und im süssen Behagen von Nacktheit, Seeluft und Vespersonnenglanz fehlte mir nichts, und ich dachte, wenn es nur noch lange so dauere. Aber es sei zu schön. Es gebe sicher eine Störung.

Und wahrhaft, als hätte meine Sorge sie geschaffen, war sie auch schon da. Ganz nahe hörten wir Mädchenstimmen. Ich erschrak. »’s ist nur Alessandrine mit ihren Gespanen«, beruhigte Elvezio. »Sie findet uns nicht.«

Aber seine schöne, kleine, gebieterische Schwester rief vielmal und beunruhigend scharf: »Elvezio! Elvezio!« Einmal klang es ferner, einmal näher. Ich griff nach dem Hemd.

»Dummer!« näselte Elvezio. Er rührte sich nicht, sondern sah bedächtig über seine wohlgebaute, weisse Figur hinunter. Wie stark und doch wie elastisch lag er da im Grün, dazu haftete etwas Italienisches, etwas von fremder, schöner Rasse an ihm.

O ja, wir waren gut gemodelt, ich zwar ein bisschen karg im Schnitt, aber ich werde schon dicker; er ein wenig zu voll in den Massen, aber er wird schon noch im Leben das Fett abstreifen. Und wir bogen uns in den Hüften, spielten mit dem Knie, zappelten mit den Füssen, wir wollten gar nicht mehr in die Kleider, und in diesem seltenen Viertelstündchen wehte eine Gesundheit aus mir und eine Naturseligkeit, als wäre ich nichts als Wasser, Luft und Licht.

»Oh, wie schön ist das Leben«, jubelte ich nochmals.

»Wo hast du das gelesen?« fragte Elvezio. »Das hast du nicht erfunden. Immer dieses dumme Lied! Es ist«, sagte er immer sicherer und hob sich ein wenig aus seiner Bequemlichkeit, »es ist auch gar nicht wahr. Man wird krank, man stirbt.«

»Aber wir nicht!« lachte ich. In dieser Minute fühlte ich mich unsterblich.

»Faules Geschwätz!« knurrte Elvezio.

Jetzt kamen die Mädchenstimmen uns wieder ganz nahe, es raschelte im Busch, die hübsche Alessandrine sprang uns fast ins Gesicht. Ich stiess einen Schrei der Scham aus und griff nach den Hosen. Elvezio lag sorglos da, mit italienischer Unverfrorenheit.

Aber auch Alessandrine mit ihren prachtvoll blitzenden italienischen Augen tat gar nicht scheu. Unsere Dorfmädchen jedoch, die sie begleiteten und jetzt die Nasen durch die Stauden steckten, schrien hochauf und schwaderten wie eine Spatzenschar davon.

»Elvezio,« sagte Alessandrine mit ihrem klingenden italienischen Akzent, »denke, der schwarze Hund ist erschlagen worden. Er hat das Enzipeterli gebissen ... So kommt doch herein, da sind doch keine Drachen«, schrie sie melodisch den Mädchen über das Gesträuch nach. – »Pfui, pfui, nein, nein ... komm du lieber auch. Jesses, bei den Badhosbuben!« tönte es von weitem.

»Wie dumm seid ihr!« sagte das schöne, zigeunerdunkle Mädchen und schürzte die Lippen spöttisch. »Jetzt schau, der Heinrich!« Sie schüttelte lustig den kurzen schweren Kopf.

Jawohl, ich war fieberhaft ins Hemd geschlüpft, mit verkehrten Ärmeln. Lachend riss sie mir das Tuch über dem Kopf empor und wiederholte: »Wie dumm seid ihr doch, ihr Sachsler! Ist denn das Sünde?«

»Er sagt immer,« spottete Elvezio, »wie das Leben so schön sei.«

»Bubenschmeckerin! Hehe, Bubenschmeckerin!« scholl es oben von der Wiese.

»Aber schau, wie er sich jetzt vor einem Mädchen fürchtet. Und die Mädchen gehören doch zum Leben, oder?«

»Und das Peterli?« schnitt ich rasch und rot vor Scham ab. Oh, ich schämte mich so halbnackt, aber ich schämte mich auch darüber, dass ich mich schämte.

»Das Peterli? Man meint, es sei toll. Der Doktor hat es binden müssen. Morgen oder übermorgen stirbt es«, leierte das Jüngferchen geschäftig daher.

»Sterben!« wiederholte Elvezio und sah mich seltsam an. Das Wort raschelte wie ein grauer Vogel durch die eben noch so sonnige Welt und überschattete alles. »Hab’ ich’s nicht gesagt, Heinrich?«

»Sterben!« wiederholte auch ich fröstelnd und zog mich rasch fertig an. »Und wie leicht hätte es uns gestern treffen können, dich, Elvezio, oder mich, Jesses Gott, als wir so hart am Tier vorbeigingen!«

»Schön ist das Leben!« spottete Elvezio dumpf.

Uns schien auf einmal alles Lichtlos und kalt. Während Alessandrine vor uns her hüpfte und plapperte, gingen wir wortlos hintereinander den schmalen Feldweg zum Dorf empor.

Ich kannte das Peterli gut, so ein bewegliches achtjähriges Gesellchen, immer pfeifend, eine Gerte schwingend, lachend, galoppierend, das lustigste Quecksilber. In jener knabenhaften Mischung von Mitleid und Neugier, die nicht mehr ganz sauber ist, klomm ich tags darauf mit zwei Kameraden die Holzstiege des Häuschens hinauf, um den Unglücklichen zu sehen.

Das sterbende Bürschchen war allein. So sind wir auf dem Bergland. Helfen kann man ihm nicht mehr, verstehen kann er nichts mehr, da ging der Vater, um im Gärtchen zu pickeln, und die Mutter wäscht Bettzeug in der Küche. Von Zeit zu Zeit sieht man herein. Armes Büebli, bald holt dich der schön’ Engel. Dann wäscht und pickelt man weiter.

Nach dem frühen Tode meiner Mutter habe auch ich mich daran gewöhnt, lange Asthmanächte im Dunkeln allein zuzubringen, wehrlos sitzend, keuchend und hundertmal nach dem Halse greifend, als müsste ich da einen eisernen Ring zerbrechen, der mich fast zu Tode würgte. Später konnte ich es kaum mehr ertragen, wenn jemand ein Licht anzündete und bei mir wachte.

Als wir Buben vors Bett traten, wurde uns dunkel vor den Augen. Das war doch nicht der Peterli, das war überhaupt kein Mensch, mit dieser Farbe bald fahl wie Blei, bald glühend wie Kupfer, mit diesen Geschwulsten und Verrenkungen. So konnte doch kein Mensch sich drehen und winden. Das sah wie eine kleine, explodierende, schreckliche Maschine aus. Gerade so bog und streckte es sich und krachte im Mechanismus und würde gleich bersten. Und wieder dachte ich, dass genau so nun Elvezio oder ich daliegen könnten, in solchem Todeskampf. Was wäre es dann mit den schönen, frischen Knabengliedern, die wir gestern so prahlerisch gerühmt und gehätschelt hatten. Ein Hundezahn ... und fertig!

Der Vater trat herein, ein kleiner, nervöser Mann, den Pickel im Ellbogen. »tretet nicht zu nahe. Er beisst. Aber betet ein Vaterunser!« Er zog am Hut und lispelte leise mit. »Amen«, sagte er und zeigte mit auflebenden Augen auf die zwei Zinken des Gartenpickels. »Mit dem hab’ ich den Hund gestraft. Ein Schlag ins Genick, da lag er.«

»Bravo!« sagten wir.

»Dünkt es dich schlimm?« fragte der Mann mich. Ich schüttelte schwächlich den Kopf.

»Und dich, Leo?«

»Gar nicht!« schwor dieser frech. »Das geht vorbei.«

Der Vater seufzte. Er glaubte es nicht. Aber er fragte doch auch noch den kleinen Theodor, den Knaben, der ein Herz hatte wie Kiesel.

Der heuchelte nicht, sondern sagte ehrlich: »Er wird wohl daran glauben müssen.«

»Nein, das wird er nicht«, fuhr da der Enzipeter jählings auf. »Was weisst du mehr als wir? Er kann noch die Tabakpfeife auf deinem Grabstein ausklopfen, das kann er.« Dabei zuckte das Gesicht des Vaters hundertfältig, er wollte schreien, aber es kam alles nur wie ein Flüstern heraus, als wäre seine Kehle geschnürt.

»Ja, ja, Vater Enzeler,« tröstete Leo grossartig, »er kann uns um hundert Jahre überleben.«

Aber jetzt schnellte Peterli den Leib empor wie einen Bogen, das Gesicht wurde violett, der Atem stockte, der Kopf warf sich hintenüber. Dann ein Röcheln, ein Zittern und Zerren, ein ungeheures Geheul, Schaum auf den Lippen, er atmete wieder.

Da liefen wir wie gepeitscht hinaus und hatten noch lange kalt an der Sonne.

Am Abend wollte Elvezio baden. Ich machte nicht mit, sondern blieb am Ufer liegen. Als der Freund sich trocknete und auf seine Schenkel und festen Waden klatschte und den Armmuskel spielen liess, sah ich nur immer den gemarterten Körper Peterlis.

Elvezio zog eine Semmel aus der Tasche und ein Würstchen. »Nimm auch!«

Ich konnte nicht, alles ekelte mich an.

»Ich sagte dir doch, geh’ nicht das Peterli anschauen. Das nimmt einem den Appetit.«

Dann ass Elvezio mit seinen kleinen, etwas bläulichen Zähnen alles in vorsichtigen Bissen auf. »Schön ist das Leben«, foppte er und tippte die Brosamen von den Hosen.

Ich schwieg.

»Tut dir was weh?«

Ich schüttelte den Kopf und doch tat mir der ganze Mensch mit Leib und Seele weh.

Am Morgen läutete die Kinderglocke das Sterbezeichen.


Der Herbst blätterte und der Winter flockte über das Ereignis hinweg. Unser vierzehnjähriger Leichtsinn hatte es längst in Obst und Schnee vergraben, und mehr denn je dünkte mich das Leben schön, als wir Buben in der weissen Aprilsonne hinter dem Sachsler Harsch zur Landsgemeinde auf den historischen Sarnerhügel trotteten, um der Volkstagung über Wohl und Weh des Landes beizuwohnen, ohne Stimme zwar, im Hintergrund, die Hände in die Hosen vergraben, aber doch schon ein leises Geschmäcklein von Politik auf der Zunge. Da lagen ja die Trümmer einer Tyrannenburg, da war vor sechshundert Jahren jener listigkühne Neujahrsmorgen zuerst mit Eierwecken und Hühnerbraten, dann aber mit Axt und Brandfackel über den Platz gegangen. Da hatten sechzig Säkula geraten und regiert, über Frieden und Ferne, gefährliche Auslandszüge entschieden und am Kanton recht und schlecht, oft zornig und öfter schneckengeduldig geflickt. Wie sollte uns da nicht ein Hauch von Historie und Politik ins junge Haar wehen!

Die heimgekehrten Schwalben schossen wie dunkle Pfeile durch die Luft. Der See glänzte von frischen Schneewassern. Die Ufer um das grosse Becken grünten hellauf, die Kapellen läuteten von den Hügeln und von unsern Zweitausendern schäumten die Lenzbäche aus dem obersten Schnee durch die Alpweiden nieder wie geschwungene Buttermilch, und verloren sich in den tiefern Waldschluchten. Schon flogen gelbe und weisse Schmetterlinge über unsern Köpfen. Ein paar Tapfere oder Sonderlinge trugen bereits Strohhüte. Das Herrenzelt, im Angesicht des Volkes aufgestellt und vom Magistrat und Klerus gefüllt, das Banner und Richtschwert, die Weibel in ihren weissroten Mänteln, die Blechmusik und dazu das starke Gefühl eines jeden Mannes, in dieser Stunde eine stimmende, gewaltige Hand zu besitzen, die am vaterländischen Wagen mitwirkt, jetzt vorwärtsschiebt, jetzt sperrt und zurückzerrt, nach Wissen und gewissen und Hosensack, oh, das alles gab der Tagung ein grosses Gesicht.

So standen wir Knaben denn ausserhalb des Volksringes auf dem alten Gemäuer und rissen Augen und Ohren auf. Etwas wie voreilige Mannbarkeit knospete wunderlich aus der Tiefe unseres Wesens und machte unsere Blicke gewalttätig und unsere Lippen trotzig. Und wirklich, während der Tagung oft und mehr noch, wenn die Erwachsenen in den Wirtshäusern ihre patriotische Tat hernach mit Bier oder Wein begossen, entstand unter den Jungen der verschiedenen Dörfer eine ordentliche Schlägerei. Alles Kindliche schien abgestreift. Wer hätte da noch an das arme Peterli denken mögen?

Und dennoch, jenes unbekannte achtjährige Büblein sollte heute sozusagen aus dem Sarge steigen und den Kanton regieren.

Zuerst hielt Landammann Theodor Wirz seine klassische Abschiedsrede. Es darf einer nur ein Jahr auf dem höchsten Sessel sitzen, aber übers andere Jahr darf er’s wieder probieren. Das macht den Abschied süss.

Das Volk verstand gewiss nicht die Hälfte der feierlichschönen Rede mit ihren zahllosen Fremdwörtern. Aber es blieb mäuschenstill und ward sichtlich erbaut wie von einem grossen Orgelstück. Jedoch die Gymnasiallehrer nickten uns Studenten etwa zu: Aus Cicero! seht ihr! ... oder: Obacht, Mikrokosmos hat er eben gesagt und Kakophonie der Parteipolitik. Da habt ihr’s. Was ist ein rechter Mensch ohne griechisch?

Aber die Berge schauten so herb germanisch drein und der See trug ein so sauberes alemannisches Gesicht, und ein Wind von urdeutscher Melodie zog über die Köpfe ... Makrokosmos ... Mikrokosmos; ah bah, sagt Welt, sagt Dorf oder Herzwinkel, das ist das Rechte.

Nun sang die Geistlichkeit, intoniert vom bischöflichen Kommissar, das uralte Heiliggeistlied: Veni creator spiritus, damit, was nun geratschlagt und gefertigt würde, vom Fittich der Pfingsttaube begleitet sei. Alle Männer zogen die Hüte ab.

Dann kamen die Wahlen. Ach, was für Komplimente gab es damals oft unter den Herren! ... »Ich schlage Regierungsrat X zum Landammann vor. Das ist ein gescheiter, erfahrener, exzellenter Mann! ...« Und dieser: »Ich nehm’ das Amt absoluti nicht an. Wählt einen Würdigern! Der Y ist dem neuen Zug der Zeit hundertmal besser gewachsen.« Und so hin und her, immer mehr Zucker rechts, immer mehr Gegenzucker links, alles in allem kein erhabenes Spiel der Götter, und doch vortreffliche und hilfreiche Männer des Staates!

Ah, wenn sie das Volk darüber hätten spotten hören, wie wir Buben, vielleicht hätte der alte Durrer schneller ja gesagt und seine Helfer ein paar Adjektive weniger in den Siruplöffel genommen. Aber das Volk spottete gutmütig, es lachte dazu: Lasst ihnen die Komödie, ’s tut ihnen halt wohl, und nachher sind sie ja wahrhaft die besten Arbeiter fürs Land und opfern sich getrost. Und wer weiss, ’s ist auch nicht bare Butter, Landammann zu sein. Ich wenigstens wollt’ lieber Hagstecken verschlucken, als dort vom Zelt eine Rede halten ...

In meiner Gruppe stand ein kleiner Junge voll Laubflecken über der langen Nase, mit grünen Augen und schwerer Lippe. Ihn umschmeichelten die Kameraden fast, wie man oben im Herrenzelt seinen Grossonkel, den Landammann X, bekomplimentierte.

Aber da sagte doch ein Schalk: »Du, Emil, dein Götti (Pate) spielt Theater. Gern genug will er wieder Landammann werden.«

Es war ein magerer, überheblicher Bursche der Residenz Sarnen. Emil lachte unheimlich an den langen Zähnen hinunter. Er schielte mit vieldeutigem grünem Blick zu seinen Verehrern hinüber. Aber der Sarner schlenkerte die Beine und fuhr fort: »So tun doch sonst nur die Kinder. Hört, schon wieder lügt er! ...« Und der Kerl ahmte die Stimme jenes Regierungsrats Z meisterlich nach, die beim S und R mit der Zunge sonderbar anstiess. »Hört: absloluti nehm’ er nicht an, abs ... lol ... uti! Und ich sag’: Absloluti nimmst an!«

Emil wurde dunkel vor Wut, seine Lippen schwollen. Doch war er mehr Katze als Hund und duckte sich. Aber ich merkte wohl, dass es zu einem schlimmen Ende gehe.

»Ihr habt alle eine zu lange Zunge,« höhnte der Magere wie besessen; »du kannst auch nicht sagen absoluti! He, probier doch, ob du das ordentlich herausbringst: mein Glossvatel möcht’ absloluti Dlandammann werden, Dlandammann! he, he!«

Wie ein Wolf fletschte Emil jetzt die langen Zähne, er nickte und im selben Moment bekam der Spötter von hinten fünf, sechs Stösse und fiel über die Mauer in die Grasmulde hinunter. Nochmals nickte der Kleine, und fünf, sechs Kerlchen sprangen über den Zappelnden, knieten ihm auf Arme und Beine, walkten ihn durch und warteten, bis der kleine Landammann vom Mäuerchen sage: genug! Der glitzerte hartherzig mit seinen grünen Blicken hinunter, spie dann aufs Geratewohl über den Feind und sagte: »Da, putz dir das dreckige Maul!« Dann wandte er sich weg und überliess den Buben das Weitere.

Eine heillose Aufregung befiel mich. Da sagte eine leise, zischende, böse Stimme plötzlich: »Da sieht man! Die Herren! die Reichen! die Frechen! So machen sie’s.« Es war der Enzipeter. Und er zeigte mit dem Finger gegen das Herrenzelt, als ob von dort vielleicht in einer feinern, anständigern Art doch das gleiche Unrecht am widerhaarigen Volke verübt werde. Eine stille Wildheit lag in seinen Augen, er würgte mit der Zunge im Munde herum, und irgendein heisses Projekt arbeitete sich durch die Knoten und Adern seiner Schläfen. War ihm Unrecht widerfahren wie dem Bengel im Gras? Aber der hatte doch sein Unglück geradezu herausgefordert!

Indessen waren die Wahlen präzis so erfolgt, wie man von allem Anfang an gewusst hatte. Aber das Volk wurde jedesmal ordentlich angefragt, es konnte Nein sagen, es konnte andere Namen rufen, es war frei. Aber es schwieg. Später, o ja, da reklamieren dann und schlagen die Faust auf den Wirtstisch gerade diejenigen, die am schüchternsten schwiegen. Aber reden vor tausend Gesichtern, ist das möglich?

Der Landschreiber, jener einst so geschmähte Extheologe, verlas dann, ein schwarzes Schnürchen am Nasenkneifer, im schönsten Deutsch allerlei Langweiliges. Ab und zu hörte ich einen Ratsherrn rufen: »Ich stimme zum Antrag ... Ich auch! ... Dito! ...« Einigemal hob das Volk die Arme hoch. Dann rauschte es Vögel wie auf hohem Gras heraus. Etliche Männer plauderten, andere behielten die Hand im Sack, auf den meisten Gesichtern lagerte Langeweile. Aber hinter dieser Langeweile fieberte eine versteckte Ungeduld. Auf was wartete man denn?

Endlich waren die laufenden Geschäfte bereinigt, die Rechnungen genehmigt, die Vorschläge entschieden, die Protokolle gutgeheissen, und es hatte dem Bürger dies alles keinen neuen roten Rappen gekostet. Man hatte besonnen getagt, mit Ernst und Würde und hätte jetzt voll Genugtuung den Landenberg hinunterziehen können. Aber da war noch ein Papier, ein Gesetzesvorschlag, ein Hundesteuerentwurf, und jetzt blies der Sturm und schüttelte diesen lebendigen Menschenwald zum Ende noch böse durcheinander.

Hallo, eine Hundesteuer, das war ein Eingriff ins Bauernhaus, das ging an den Beutel. Wo bellte nicht ein Köter unter der Haustüre oder zerrte ein Schäferhund an der Stallkette? Grosse Hunde, kleine Hunde, Mopse, Dachse, Pudel, Doggen, Bernhardiner, das Ländchen war voll davon.

Sachlich erläuterte ein Redner vom Zelt her, dass der Staatshaushalt in Gottes Namen Geld brauche, Geld für Strassen, öffentliche Bauten, Wildbäche, Besoldungen, Armenkassen, Geld hinten, Geld vorne. Aber die Steuern bringen wenig ein, sie sind gar zahm. Wenn man sie etwa mit Luzern oder gar mit Zürich vergleiche, Donnerwetter, da möchte man vor Verwunderung auf den Kopf stehen ...

»Probier’s einmal«, rief der Durrermariä, der geborne Witzbold und Widerpart der Regierung. »Wenn du’s kannst, so nehmen wir an. Aber du und ihr alle im Zelt könnt es nicht, weil ihr schon immer auf dem Kopfe standet.«

Lachen kollerte durch die schwarze, dichte Landsgemeinde.

Anderswo, fuhr der Redner mit unerschütterlicher Trockenheit fort, anderswo müsse man das Wasser, das Feuer, die Luft bald versteuern und hier fast nichts. Die Hundesteuer zum Beispiel sei fast überall eingeführt und zwar mit einer hohen Taxe. Die tue niemand weh. Wer sie nicht zahlen wolle, brauche ja keinen Hund im Schoss. Der Hund sei ein Luxus, habe Friedrich der Grosse gesagt. Übrigens fordere man nur vier Franken pro Jahr. Das sei eine versöhnliche Zahl.

Sobald gesagt wurde: vier Franken ... Zahlen ... Geld, da war es vielen, als greife der unberufene schwere Finger des Staates schon in alle Taschen. Ein leises, böses Brummen wogte durch die Massen.

»Der Hund ein Luxus!« unterbrach der Durrermariä mit einem Sonnenblumenstiel im Mundwinkel. »Dann seid ihr Regierungsräte mitsamt Friedrich dem Grossen und dem Kleinen erst recht ein Luxus. Was tut ihr denn? reden, reden und befehlen. Aber unsere Schäferhunde und die Wachthunde auf den Berggütern, sind die wirklich Luxus? Die halten Haus und Stall in Hut, beim Eid, das tun sie. Die reden nicht Larifari, aber wenn es not tut, beissen sie.«

Irgendwo hinter mir, der ich mich unwillkürlich vorgedrängt hatte, klang es wie Ächzen.

Jedoch das ganze Herrenzelt lächelte vornehm und schonend. Sie, ein Luxus? Zum Lachen! Wer besorgte dann das vielwinklige, schwierige Kantonshaus? Wer opferte ihm Tage und Nächte, und alles um zwei-, dreihundert Fränklein Ehrensold!? Ach, den drolligen, dürren Oppositionsmann da unten kannte man längst. Ein grober Spassvogel, dem der Witz und das rauschende Lachen die Hauptsache ist. Schonet ihn, er ist ja der Nächstverwandte des Staatsmannes im Zelt, der das S und R und L so kindlich schlürft.

»Für die notwendigen Hunde,« gab der Redner phlegmatisch zurück, »hat unser Entwurf eine billige Ausnahme vorgesehen.«

»Keine, keine Ausnahme!« keuchte es leise in meinem Rücken.

»Und was ist das für ein Ding, der notwendige, und was für ein anderes Ding, der nicht notwendige und?" fragte mit lustiger Grimasse ein kecker, hellhaariger von Flüe. »Wer entscheidet da?«

»Vielleicht,« griff rasch der Saublumendurrer ein, »vielleicht der Schwändener Kaplan zusammen mit seinem Bell ... o ... li!« – Das letzte Wort sang er gedehnt, wie die Kaplanenköchin es mütterlich auf die Strasse hinausrufen mochte.

Volk und Herren schüttelten sich vor Heiterkeit. Der Landammann guckte in den hintersten Winkel des Zeltes, ob besagter Kaplan da sei. Gottlob, nein!

»Es kommt da«, referierte der Regierungsrat schwunglos weiter, »auf die Grösse des Viehbestandes und auf die besondere Lage des Bauerngutes an.«

Jetzt flüsterte es deutlich hinter mir: »Aufs Kind kommt’s an und sonst auf nichts!« Es war nur ein Lispeln, aber so bitter und so rauh, dass man erschrak. Ich musste die Stimme kennen. »Ach, Ihr, Enzipeter«, entfuhr es mir ganz verblüfft. Breit, klein, steif stand er da, aber sein Gesicht war rot wie ein überheizter Ofen und aus seinen Augen sprühten harte, grüne, unerbittliche Funken. Er reichte bei weitem nicht an die Achsel der umstehenden Männer, erschien fast wie ein Zwerg unter den Erwachsenen und hatte in diesem Moment doch etwas Grosses, Wichtiges an sich. Oh, jetzt verstand ich. Er verlangte Genugtuung für sein getötetes Kind. Er verlangt es mit tödlicher Strenge. Er ist der rücksichtslose Gläubiger der Landsgemeinde. Keine Hunde mehr! Und wo es deren noch gibt, da sollen Herr und Hund es mit hartem Gelde büssen. Zehntausend, zwanzigtausend Franken, das ist nicht zu viel für sein rothaariges, lustiges Knäblein. Hunderttausend wären nicht zu viel. Stein Geld ist zu gross dafür.

Da steht er, spreizt die Beine, reckt den Hals, glüht wie ein Fuchs zum Zelt hinauf, ein Einziger, Stiller, Kleiner, unter hundert Köpfen Versteckter, und dennoch eine ungeheure Macht. Wenn ich im spätern Leben harte Gläubigergesichter sah, musste ich immer an dieses zehnmal härtere in der Landsgemeinde denken, das mit jedem Blick sozusagen einen Schuldschein von Himmel und Erde einforderte.

Das sah ich, aber was hat ein Bube für vogelschnelle Sinne! Gleichzeitig hörte ich den Durrermariä spotten: »Also, wenn du vier Kühe hast, kein Hund. Aber fünf Kühe, dann ein Hund so gross wie ein Kalb. So spricht Salomon!«

Von allen Seiten wogte ihm eine grimmig lachende Zustimmung entgegen. Doch dem Enzeler schwollen vor Hass die Adern an den Schläfen. Er hob sich unaufhörlich auf die Zehenspitzen und fluchte etwas Leises gegen den Durrermariä. Beide Hände hielt er im Sack aber zu knotigen Fäusten geballt.

»Lasst doch den Redner fertigmachen«, baten einige.

»So wird ja nur zu Paris referiert«, schalt einer. »So eine Sauordnung.«

»Und dreihundert Schritte vom Dorf«, griff der Durrer rücksichtslos ein, »kein Hund, auch wenn dort nur ein Jüngferchen zart haust. Aber dreihundertzwanzig Schritte, ein Hund, und wenn Vater und Sohn dort, stark wie Bären, den Bengel führen. Oh, heilige Geometrie der Herren!«

Jetzt lachte niemand mehr. Das war zu stark. Die Herren runzelten die Stirnen, und das Volk fing leise, aber bedenklich an, den Kopf zu wiegen, genau wie ein Stier, bevor er die Hörner senkt.

»Überhaupt, wo ist da noch Freiheit«, schrie der Volksmann und spuckte empört den zerpressten Löwenzahn aus. »Alles wird kontrolliert, wie viel deine Kuh Milch gibt, wie viel Schnaps du brennst, wie viel Äpfelschnitze du dörrst; bald fragt man noch, wie viele Junge die Katze wirft, und hat für jedes eine Blechnummer parad. Pfui, ist das noch Urschweiz, ist das noch eine Demokratie? Da geh’ ich doch lieber morgen schon nach Amerika.«

»Recht hast! Nieder mit dem Hundegesetz!« scholl es immer lauter.

Der offizielle Sprecher legte noch eine Weile seine Sache auseinander, aber ton- und farblos, wie alles klang, verschlimmerte er mit jedem Satze die Lage. »Ich geb’s verloren«, sagte Landammann Wirz zum Landammann Durrer, als er in das störrische, unheimliche Kopfschütteln des demokratischen Stiers blickte. »In Gottes Namen«, fügte ein Ratsherr ergeben hinzu. er hatte selbst zwei unnötige Seidenpudel daheim.

Doch der Enzipeter schnaufte furchtbar und drängelte wie ein Erstickender am Kragen herum.

»Gebt’s auf, bachab, bachab schicken!« hiess es von vielen Seiten.

»Keineswegs!« donnerte da eine volle herrliche Bassstimme aus dem Zelt ins Volk hinaus. Ein leiser Jauchzer schoss dem Enzipeter die Gurgel herauf. Ich nickte ebenso glücklich. »Der Doktor Ming, pass’ auf!« – Stillschweigend sahen wir uns an, der Enzeler und ich, als Bundesgenossen gegen die Hunde.

»Keineswegs«, donnerte es noch majestätischer. Wohl, wenn der Himmel erstickend tief und voll von Giften und Gasen herniederhängt, und es dann plötzlich aus allen Höhen kracht und das Gewölke auseinandertreibt, gerade so erlösend wirkte dieses »Keineswegs« auf mich.

»Herr Landammann, ich verlange das Wort.«

Peter Ming, der Arzt und Regierungsrat, ein unversöhnlicher Kämpfer gegen Schnaps, Wein, Bier und sogar gegen das liebe goldige Mostglas, daher beim Grossteil des mannbaren Volkes damals ganz herzhaft unbeliebt, schwang sich mit fuchsrotem Bart und breiten Hüften aus den Herren zur Rampe hervor.

»So versucht Ihr es noch«, bat der präsidierende Landammann fast unwillig. »Aber ich halt’ jedes Wort für eitel in den Wind gesprochen.«

Doktor Mings schwere Figur schob sich ohne ein Gegenwort ganz nach vorne. Aus seinen wuchtigen Schultern wuchs ein mächtiger Kopf mit geschlitzten, gescheiten Augen. Der lockere Bart floss ihm in die weisse Hemdbrust, während ein reicher Haarwuchs sich über den Scheitel wirbelte. Studium, Klarheit, Zähigkeit sprach aus dem Gehaben dieses zukünftigen Leiters Obwaldens.

Kaum war er an den Zeltrand hinausgetreten, so verfinsterte sich das gesamte Volksgesicht. Der republikanische Stier fing jetzt an gefährlich zu schnaufen. Mir aber stiess der Enzeler den Ellbogen in die Seite und sagte fieberheiss: »Steh’ auf die Zehen, jetzt wird’s gut!«

Und er selbst streckte den Hals in unwahrscheinlicher Weise in die Höhe, bis er zwischen zwei Haarschöpfen wirklich den Doktor sah, der auch Peter hiess, der damals sein Büblein besucht und dessen Ärmchen gebunden hatte und der eben den roten Bart strich mit der üblichen Anrede: »Liebi triwi Landslit (Liebe getreue Landsleute)!«

Er hatte nicht sobald diese ersten Worte in der Obwaldner Mundart ausgesprochen, als der Stier zum Stoss vorging, indem er mit den Hufen stampfte, die Mähne schüttelte, Dampf aus den Nüstern blies und brüllte: »Abä, abä mit dem Gütterlidoktor! Genug geschwätzt! Abstimmen, abstimmen, sofort abstimmen!«

»Lasst ihn reden!« wütete der Enzipeter in Todesangst. Aber sein Schreien quoll heiser und tonlos heraus, niemand achtete es im Getöse ringsum.

Doktor Peter Ming blickte eine geduldige Weile schweigend über das Gestürm von Kahlköpfen, Haarschöpfen und Filzhüten. Seine schmalen Augen spazierten mit einem erlaubten schönen Anflug von Bosheit und List über die Menge und als er auf den Enzipeter traf, der sich eine Böschung erkämpft und aus vollen Lungen wieder wirkungslos geschrien hatte: »Jesses Gott, so lasset doch den Doktor reden!« da erkannte der Redner aus aller demokratischen Finsternis heraus dieses eine brennende, bejahende Gesicht, und er nickte ernst hinunter.

»Abstimmen, fertig, bachab schicken!«

Jetzt auf einmal riss der Doktor das brausende Volk mit dem Schrei auseinander: »Gut, abstimmen! In fünf Minuten! Aber ich hab’ das Wort verlangt, bevor man Schluss begehrte. Ich bin ein freier Obwaldner und darf das Maul auftun so gut wie der Hans und der Heiri. Und ich will meine Meinung ausschütten und wenn ich bis Mitternacht dastehen muss. Auch ich hab’ meinen Obwaldnerschädel. Oder dann pfeif’ ich auf alle Landsgemeinde, wenn man den einen brüllen lässt und dem andern das Maul stopft. reden will ich, verstanden!«

Das folgte Satz auf Satz wie Donnerschläge. Ein halb grollendes, halb schamvolles Schweigen begann. Dem Enzipeter entschlüpften unbewusst unartikulierte dünne Schreie, ähnlich wie einem fassungslos begeisterten, heisern Hunde.

Der Redner sagte nun völlig das gleiche wie der Vorgänger. Aber wie pulsierte und blutete alles von Leben, wie wurde das Geringe gross, die Hundesteuer wuchs zur Bedeutung der Schlacht von Morgarten empor.

Ob man denn überhaupt keine Steuern wolle? Gut, dann laufe man in die Wildnis zurück und lasse sich Rücken und Bauch behaaren. Dann braucht ihr keine Steuer. Aber jeder von euch will doch nicht frieren, nicht hungern, nicht krank im Distelbusch liegen, jeder will ein Dach über dem Kopf und ein Bett unter dem Kopf und Wasser, Licht und Ordnung um sich herum und Weg und Steg und Schirm und Beistand haben, wo er allein sich nicht mehr durchhaut. Aber das alles kostet, das will Steuer. Und wie mit euerm Haus, ist’s mit dem Ländchen hier. Ihr und niemand anders, ihr seid der Kanton, seid das Staatshaus Obwalden.

Nun, so ein grosses vielzimmeriges, dicht bewohntes Haus braucht auch ein mächtiges Dach, hundert Fenster und Türen, eine weite Küche, einen riesigen Tisch, viel Geschirr und Werkzeug und manche Hand hier und dort, bis alles klappt. Das kostet, hoppla! Und weil ihr immer mehr aus dieser Staatsküche holen wollt und aus der Staatsstube und dem Staatsbeutel, darum kostet es je länger, je mehr. Sagt mir jetzt, womit bezahlen? Gold hat es um den Sarner See noch nie geregnet und nicht einmal Zweifränkler wachsen an unsern Hägen. Da hilft nichts als Steuern.«

»Schwatz, was du willst,« schrie ein Trotzkopf, »ich glaub’ dir nicht.«

»Du brauchst mir nicht zu glauben. Aber komm mit mir ins Rathaus und schau’ die Bücher an!«

»Papier nimmt alles an.«

»Nein und tausendmal nein, ehrliches, sauberes Vaterlandspapier nimmt nur die Wahrheit an. Keine Zahl steht zu viel. Es ist eine Sparsamkeit fast wie Geiz.«

Ein schwaches Brummen im Volke.

»Wo holen wir nun das Geld, wir der Staat, wir das Volk? frag’ ich zum ersten.

Natürlich in unsern tausend und tausend Hosensäcken. Da habt ihr’s. Und das ist das Lustige an der Steuer, sie kommt aus unserer Tasche und fliesst in unsere Tasche zurück bis zum letzten Rappen, hier als Brunnenwasser, dort als Feuerwehr, da als Schutz gegen die Wildbäche, jetzt für einen Alpenweg, für billiges Holz, für Spital und Armenhaus, für die Waisenkinder, für gute Schulen und sogar, weil ihr, ja ihr es so wollt, für Schwinget und Schützenfest. Auf den letzten Rappen kommt alles zurück«, wiederholte Doktor Ming und betrachtete die Wirkung, wie er als Arzt etwa tat, nachdem er dem Patienten eine Medizin eingeflösst hatte.

Ein unbelehrbares düsteres Schweigen.

»Wo holen wir nun das Geld, wir der Staat, wir das Volk, frag’ ich zum zweiten. Antwort: wo’s am wenigsten weh tut. Aber in Frankreich müssen sie die Fenster versteuern. Das tut doch ordentlich weh. Sozusagen den Blick ins Grün, in die braunen Berge, in die süsse blaue Gottesluft erkaufen. In Zürich wird jedes tellergross Land schwer besteuert. Davon wisset ihr gar nichts. In Wien muss man Steuer zahlen für mehr als vier Zimmer, in Russland jeden Armvoll Gerste, den man vom eigenen Acker trägt, jeden Wagen Viehfutter. In Italien kleben die Steuerzettel sozusagen an jedem Stein und Baum. Was wisset ihr davon mit euerm Wald von Obstbäumen und euern Bergtannen? Wenn der Staat sagte, für jedes Haupt Kleinvieh, für Schaf und Ziege und eierlegendes Huhn zahlst du eine Quote, da könntet ihr mit recht murren, obwohl an vielen Orten solche Quoten schon lange existieren. Ihr dürftet wirklich murren. Denn das sind unentbehrliche Tiere. Aber wenn nun der Staat die Hunde besteuert, so solltet ihr ihm noch danken, dass er so höflich und klug ist, etwas zu besteuern, was die allermeisten entbehren können, ja, was gerade die Hablichen, die Reichen als eine Art Luxus trifft.«

Totenstille.

»Überall in der Schweiz und ausserhalb hat man diese Steuer eingeführt. Sind denn alle so viel dümmer als wir?

Da überm Brünig die starken Berner oder dort unten am See die Luzerner? O wir gescheiten Obwaldner. Zuletzt besteuern wir aus lauter Weisheit die Leute, die keinen Hund haben!«

Ein winziger Schimmer von selbstverspottender Fröhlichkeit huschte über die Gesichter. Das muss man dem Peter Ming lassen, kurzweilig redet er.

»Wenn es noch ein Goldstück wäre, da könnt’ ich das Brummen verstehen«, wogte der wundervolle satte Bass des Redners weiter. »Da würde auch ich brummen, ich hab’ auch einen mops. Aber ganze vier Franken! So viel wie der Durrermariä dort unten am Sonntagabend verspielt, weil er so miserabel jasst und den König gewöhnlich mit dem Bauer verwechselt, ganz wie an der Landsgemeinde!«

Alles sah mit Kichern auf den kleinen frechen Mann. Er jasste durchaus nicht schlecht. Aber dieser Witz schlug ihm so überraschend auf den Mund, dass er kein Gegenwort fand, aufschnaufte, leicht mitlachte und zu Boden schaute.

»Himmel und Hölle, wenn man nicht mehr vier Franken an den Staat vermag, dann soll man auch nicht mit einem Hunde in diesem Staat herumstolzieren. Jeder anständige Hund würde aus Scham vor einem solchen Herrn den Schwanz zwischen die Beine klemmen und Hals über Kopf zu den Türken desertieren.«

Wieder ein Geriesel von Lachen. O heiliges Wachs der Volksseele!

Nun wurden auch die Herren im Zelt munterer.

»Übrigens«, strömte der dunkelmelodische Bass des Doktors fort, »ist es auf der ganzen Welt so: was man gerne hat, für das opfert man auch gerne etwas. Was werdet ihr Mannen nur diesen Abend für Bier und Wein und anderes Gift blechen! Da seid ihr denn euern braven Spitz oder Barry gar nichts wert, wenn euch die vier Fränklein für ihn reuen.«

»Unterstützt, unterstützt!« rief eine helle Jünglingsstimme.

»Ihr könnt mir’s glauben, niemand steuert gern, ich auch nicht. Aber wenn der Durrermariä dort endlich seinen versiegelten Mund öffnen und mit seinem magern Ziegenbärtlein eine Bartsteuer vorschlagen würde, sofort sagte ich Ja, obwohl ich sechsmal mehr zahlen müsste. Vergleicht nur unsere Bärte! Ja, ich zahlte das Sechsfache, denn mein roter Bart ist mir lieb.«

Lachen, lachen, Lachen, indes Doktor Ming über seinen Bart wohlgefällig hinunterfuhr. Wieder sah alles auf den angerempelten Witzbold und Oppositionsmann, ob er denn keinen Gegenpfeil im Köcher führe. Aber der Durrermariä versagte völlig. Da strichen auch die vielen bärtigen Männer über ihr Kinnhaar. In diesem Augenblick hatte die Gegnerschaft gewaltig an Widerstand verloren.

»Aber ich sag’ euch, es ist ein wahres Glück, wenn die Steuer bei uns gehörig mit den Hunden aufräumt. Was haben wir nur schon in Sarnen für eine Meute von Kötern. Kein fremder kann über unsern Dorfplatz gehen, dass ihm nicht ein Dutzend dreckige Hundeschnauzen in die Beine fahren. Das macht sich gut für eine Residenz. Und dann schreit und winselt und pfeift es aus Tür und Tor: ›Kum schön, Bello, häb di still, Ami, nid, nid, guets Mopsli, wottist eppe, Spitzli, schwig, Barry!‹ ... Und zwischenhinein: ›Geht nur ruhig weiter, Herr, er tut Euch nichts!‹ ›Ja, schön tut er mir nichts.‹ Der Herr zeigt wütend auf ein Loch im Hosenbein, und später kann man in den Luzerner Zeitungen lesen: ›Konstantinopel und Obwalden sind berühmt durch ihre vielen Hunde. Aber in Konstantinopel fallen sie über das Aas, in Sarnen, armer Wanderer, über Lebendware!‹ ... Ihr lacht! Lacht nur. Das war auch ein Lacher, der einst an unser Rathaus gross mit Kohle schrieb: ›Hütet eure Waden! Der Obwaldnermops.‹"

In Gottes Namen, es war ein schäbiges Lachen, aber man konnt’ es nicht verhalten. Nur der Enzeler blieb wie gefroren. Die Rede ... schon recht. Aber diese Spassigkeit passte ihm nicht. Vorwurfsvoll sah er dem Redner auf den Mund.

»Was für ein Menschenschlag, meint ihr, hält die meisten Hunde?« fragte Doktor Ming. »Ihr denkt die Bauern am Berg. Fehlgeschossen. Oder die sogenannten Herren? Ganz falsch, wenn auch der berühmte Bell ... o ... li beim Schwändener Herr!« Peter Ming knipste nachsichtig mit den Fingern. »Nein, nein, alte Weiber, närrische Jungfern! Ja, ich kenne solche, die gehen Monat ihren Beitrag aus der Armenkasse holen, passet auf, aus der Armenkasse, die wir zusammensteuern müssen. Und dann gehen sie und kaufen Zucker für ihr Hundli und küssen und herzen es. Eine unten in Alpnach wiegt sogar einen Miggi auf dem rechten und einen Peterli auf dem linken Knie und streicht den Bestien Butter aufs Brot! ... Was sagt ihr dazu?«

»Ach, so lasset doch den Alten auch noch das bisschen Freud’!«

Ei, ei, der Durrermariä. Endlich hat er die Sprache gefunden. Aber er lächelt seltsam schief dazu. Niemand wird angesteckt. Dagegen sperrt man die Augen weit auf, da nun der Doktor die Arme hoch schwingt und mit der ganzen Wucht seines Basses ins Volk ruft:

»Wenn das die ganze Freude meines Alters sein sollte, von einem Zottelhund geschleckt zu werden, dann wollt’ ich lieber jung sterben.«

Und wie der Vierziger das mit fröhlicher, aber erbarmungsloser Frische hinausschrie, sich breit und stark in den Hüften reckte und in gesunder Röte mit seinem mächtigen Haupt und den lautern Spitzbubenäuglein in die schwarze Volksmasse hineintrotzte, ein Mann wie gesunder, reifender Sommer, auch so von Hitzen und Wettern überschattet: da befiel alle ein unwiderstehliches Gefühl von Männlichkeit und Selbstachtung. Dieser herrliche Anstand des Redners steckte an. Eine Lust nach Würdigkeit, ein Respekt vor Ehre und Opfer packte die Männer. Alles Kleinliche zerfloss. Viele noch etwas leise Bravo flogen empor.

»Das Blatt hat sich gewendet«, sagte ein Ratsherr zum Landschreiber Gerold. Dieser rieb professoral die Hände, ganz wie sein Bruder, Lehrer Anton, und es knisterte auch bei ihm wie Papier. Wenn der Mann nur schriftdeutsch spräche, kritisierte er im stillen.

Der Durrermariä raffte sich nochmals mit behender Lippe auf. »In Gottes heiligem Namen,« witzelte er gegen das Zelt hinauf, »so sende denn Herodes seine Henker aus zum unschuldigen Kindleinmor ... exküsi! ... Hündleinmord. Wir aber werden jetzt tagtäglich Hundebraten essen ...«

Das zog. Eine helle Lache rumpelte wie ein Kegelspiel über die zahllosen Köpfe hinweg.

»Oh, ich will euch das Lachen schon vertreiben«, rief der Redner! »Passet auf!

Mit der Steuer haben wir endlich eine scharfe Kontrolle. Fremdes, räudiges Hundepack erkennen wir sogleich und schiessen es nieder, bevor es unsere Tiere verseucht. Aber verwerft ihr die kleine Steuer, so habt ihr den alten reck, und es passiert dann wieder, dass krankes Gelichter in unsere Gegend einbricht und so eine tolle Bestie unter die Hausstiege kauert, wie letzten Sommer, und ein liebes Kind, das ihr unschuldig am Hals kraut, beisst und vergiftet und tötet ...«

Was ist mit dem Enzipeter? Er verlängert sich unbändig, nickt nach allen Seiten, keucht heiser: »Das ist ... o jetzt das ... hört ihr ... o ja, das da ...« Mit einer unheimlichen Fröhlichkeit schaut er die Leute an. Jetzt erst fängt für ihn die Landsgemeinde an, seine und seines Peterlis Landsgemeinde ... »Hört ihr ... das ist jetzt ... «

»Seid still,« bedeutet man ihm, »geht weg! Euch ist nicht wohl.«

»Mir ist wohl ... o mir! Aber ihr, hört jetzt lieber ...« er zitterte, lachte und schluchzte sonderbar. Ich zitterte mit. Denn vom Zelt herunter rief Doktor Ming:

»Ihr habt jenes zarte Büblein nicht gesehen. Wäret ihr mit mir an der Bettstatt gestanden, ihr hättet längst mit fliegenden Händen für die Hundesteuer gestimmt. Ihr habt ja auch so hilflose Büblein daheim und möchtet kein Weh an sie kommen lassen.«

Jetzt ward es so still, als ständen nicht tausend engverkeilte, grobschuhige Männer da, sondern das Schweigen selber, der Tod, die Ewigkeit. Und alle überrieselte es kalt davon.

»Was da zuging auf der Matratze des Enzipeterli?« schrie der Redner. »Ich kann’s euch nicht besser erklären, als wie zwei Schwinger auf Tod und Leben ineinander verkrampf sind, sich krümmen und verdrehen und die Muskeln schier zerspringen und die Augen bluten und alles Gebein kracht und sie fast nur noch eine einzige zuckende Masse sind: so sah das aus mit dem Bübli. Er war der Schwächere, ach, ein verlorenes Schwingerlein! Die Tollwut presste und knetete und richtete ihn erbärmlich zu.

Ich habe mächtige Männer an den Tisch schnallen müssen, wenn es galt, ein Bein abzusägen oder den Bauch zu öffnen; und ich habe das Herzklopfen dabei verlernt. Aber als ich diesem Bürschchen die magern Arme an das Bettgestell band, dass es nicht hinausspringe und wie ein Hund um sich herum beisse, da ist mir der Schweiss über das Gesicht geronnen. Wusste ich doch, dass ich diese Schnüre erst wieder löse, wenn das Peterli ausgelitten hatte und was für eine Hölle dazwischen liege. Wenn ich euch schildern wollte, was das für ein Todesspiel war, würdet ihr heute vor Grausen kein Glas Most mehr schmecken können. Aber statt des Peterli konnte es doch ebenso gut euer Hans oder Jakob oder ’s Theresli oder Rosi sein.

Nie wieder so etwas, schwor ich in jener Stunde. Kontrolle her, Hundesteuer her, wohlgeschrimt unsere lieben, gesunden Obwaldnerkinder. Zuerst der Mensch, dann der Hund. Jetzt stimmt, wie ihr wollt. Wem das Hundli lieber ist als das Kindli, der sage nein. Ich habe gesprochen.«

Nach diesem schweren Satz war alles wie betäubt. Niemand wollte laut werden. Irgendwo hörte man nur noch eine amtliche Stimme rufen: »Wer für die Hundesteuer ist, bezeug’ es mit seiner Hand.« Dann aber schoss ein Wald von Armen hoch und blieb tausendwipflig in der feierlichen Luft steile stehen. Ein grandioses Mehr!

Der Enzeler war verstummt. Aber er wurde blass vor Genugtuung. Er stimmte nicht. Er allein durfte sich diesen Luxus leisten und versuchen, die unzählbaren braunen Hände im Himmelsblau zu zählen. »Hundert ... zweihundert ... vierhundert!« ... lispelte er in ekstatischer Befriedigung. »Peterli, vierhundert ... hör’, Peterli, sechshundert ... tausend ...«

Dann wurde er plötzlich wieder still und klein und klappte zusammen wie ein hochgespannter Bogen, wenn der Schuss geschehen ist. Er hat getroffen, ins Schwarze! Jetzt darf er wieder still an der Wand hängen. Sein Werk ist getan. Niemand, auch ich nicht, der ich doch extra aufpasste, sah den Mann fortgehen. Er war wie ein erlöster Geist entschwunden.

Unter den Klängen der Musik, dem Glockengeläute von der Dorfkapelle herauf und dem Sausen eines plötzlichen, von letztem Schnee und ersten Blumen duftenden Südwindes ordnete sich der Zug zur Beeidigung im Gotteshause und zum Bankett. Ich schloss mich wieder an die Buben. Was muss man nicht erleben! Jener gezüchtigte Spötter ging gemütlich neben dem Herrensohn, der über sein Gesicht weg gespien hatte. Und als der Grossohm des Jungen als strahlender Landammann zwischen den rotweissen Weibeln vorbeimarschierte, zog er den Hut viel tiefer als wir alle. Aber es kam noch besser. An der ersten Kehre des Strässchens fuhr der Wind so harsch und barsch in den Zug, dass die Zylinder wackelten und der grosse neue Hut des Herrenbuben die Halde hinabflog. Drei, vier Knaben sprangen gleich hinterdrein. Aber allen voran mit seinen magern Beinen rannte der Sarner und packte den Filz und reichte ihn dem Emil, als wäre es eine Krone. Mit hochmütig geblähter Oberlippe hatte dieser dem Wetteifer zugesehen. »Putz’ ihn ein wenig ab«, befahl er jetzt, und gehorsam wischte der frühere Rebell mit dem Ärmel seines Kittels den Staub weg. »So!« sagte Emil, ohne zu danken, und setzte den Hut gebieterisch auf, als wäre es wirklich eine Kaiserkrone. Und man umgab das sommersprossige Bürschchen, als wäre kein Staatsmann Wirz, kein Doktor Ming da, als wäre er und nicht sein Grossohm Landammann des Kantons, der höchste und gewaltigste Obwaldner geworden.

Dieses Gehaben, besonders des langen Kerls, vorhin so, jetzt so, konnte ich nicht zusammenreimen. Wie ganz anders täten sie, wenn der alte Herr dort vom Volke niedergestimmt, verworfen worden wäre! Respektlos sah ich den langen, feilen Kerl an, der doch mit so schönen, gescheiten, mutwilligen Augen um sich blitzte. Sind wir denn noch immer Untertanen von Vögten? dachte ich. Hier hat man doch den Vogt Landenberg aufs Knie gerungen und verjagt.

Aber ich musste sagen, der grüne Hut stand dem reichen Emil prachtvoll an, und es war grossartig, wie er sagte: »So, genug!« und sich die Krone aufsetzte. Und wahrhaft, in seinen eisblauen Augen sass Sicherheit und Herrschaft. Jetzt winkte er grossmütig uns zu und lispelte: »Kommt, ich zahl’ euch ein Glas Bier!« Und wir alle wurden rot vor Freude. Ach, dieser unsterbliche schweizerische Gesindeblutstropfen zu allem Tellen- und Winkelriedsaft!

Wir liefen eine Abkürzung hinunter, um den Regierungszug nochmals nahe zu sehen. Da kamen die schwarzen Fräcke, die bärtigen Kapuziner, da wackelte der ungeheuerlich witzige Kommissar von Ah daher, da schwankte hoch das goldbezwickerte Haupt des Landschreibers über alle wie eine Pappel über die Weiden. Da schritten die Brüder Wirz, der eine mit magistraler, schwerer, bleicher Würde, der andere leichter, eleganter, lebensfroher, beides hochverdiente und weitberühmte Diener des Landes, von denen man durch die ganze Schweiz und weit darüber hinaus sprach. Meist standen sie in der Mitte der grossen Bewegungen. Aber mein Bubenauge sah heute nur den Doktor Ming, wie er mit Gesicht und Bart sommerlich rot, sommerlich gütig, sommerlich froh aus den dunkeln Röcken herausleuchtete. Seine weisen Spitzbubenaugen lachten. Von ihm ging eine wunderbare Frische aus. Ich sah nur noch ihn. Er war heute mein Mann, der Sieger, der Helfer, der Schutzengel des Landes. Und als sie nun alle hart an uns vorbeischritten, eine Gruppe voll Menschlichkeit, aber auch voll Liebe, Opferfreude, Arbeitslust und Ehre, und als wir nun wieder Hut und Mütze zogen, da tat ich es noch viel tiefer als der Sarner Schlingel, bis hinunter ans Knie, aber nicht vor dem alten oder neuen Landammann und nicht vor dem berühmten, redegewaltigen bischöflichen Kommissar, sondern allein vor ihm, dem allmächtigen Freund des toten Peterli.


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