Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Vor dem Fenster des Landammans

Das dritte Mal, an einem warmen Frühlingsabend, geschah es, dass mich etwas mit den andern Kindern zum Dorf hinaus und den Obkilchenhügel empor zum herrschaftlichen Hause des Landammans Hermann trieb. Wir Gofen wussten nicht, was für ein Wind das war. Aber es musste etwas Wichtiges sein, denn ein grosses Volk stand herum, die Fenster der Villa gegen die Zufahrt waren offen, der majestätische Magistrat mit dem prachtvollen Römerkopf, den wolkigen Brauen, dem violetten Kinn und dem leidenschaftlichen Mund beherrschte das Mittelfenster. Im Strässchen spielte eine Blechmusik.

War sie gut? War sie schlecht? Ich hörte nie mehr eine schönere. Mit wenigen Takten war ich berauscht. Ich konnte nicht begreifen, dass Leute daneben stehen und schwatzen mochten. Pst! machte ich unwillig, wahrhaftig pst! machte ich Knirps und wurde natürlich gar nicht beachtet. Die Musik aber rauschte weiter.

Ich dachte in jenem Augenblick an alles, was ich Grosses vom Hörensagen und Nachträumen wusste, und verschmolz es mit diesem Regierungsmann des kleinen Kantons, der so seltsam vom Gesimse ins Volk und über es hinweg ins Dorf hinunter, zum See und den bergen schaute und gar nicht lächelte. Cäsar, Napoleon, Rom, Schlacht bei Morgarten, Papstkrönung, Weltmeer und wieder Cäsar, erstochen im Rathaus, und wieder Napoleon, gefangen und nochmals Kaiser in Paris. Grosses gab und gibt es in der Welt, Wunder über Wunder. Und hier geschah auch so etwas. Wie ein Kaiser steht er dort und ist noch stärker als die Musik. Er weint nicht, er lacht nicht, ernst blickt er ins Dorf. So muss man tun, so tat Cäsar. Oh, wenn auch mir einmal eine solche Musik gälte! Aber ich würde vor Rührung zu Boden knien. Ich würde die Spielleute umarmen. Ich gäbe ihnen alles, was ich in beiden Hosensäcken hätte, und das wiegt nicht wenig, ein Messer mit drei Schneiden ist dabei – und bäte sie, mich mitzunehmen und auch so aufspielen zu lehren.

Jetzt gab es eine Pause und man hörte die prachtvolle Linde neben dem Hause im Abendwind rauschen. Jemand redete ganz allein ans Fenster hinauf. Der Landammann antwortete etwas. Er hafte eine verwöhnte, leicht krähende, nasale Stimme. Aber mich dünkte es die Stimme eines Fürsten. Von der Rede verstand ich nichts. Nun bricht wieder eine stolze, lufterschütternde Musik aus. Man rollt Fässchen über den Rasen, Mägde kommen mit Gläsern und Körben voll Brötchen. Die ersten Sterne erglimmen. Tief unten verdämmern See und Gebirge, und immer noch jauchzen diese Trompeten und Klarinetten zum Himmel auf. Es würde mich nicht wundern, wenn der Mond sogleich hervorrollte, um zuzuhören, und wenn sogar die Sonne hinter dem Pilatus aus aller Nachtruhe zurückschwämme und sagte: »Bruder Mond, erlaube, nur ein paar Minuten! Ich will dir nicht ins Licht pfuschen. Ich ziehe mein Schnupftuch übers Gesicht, aber doch so, dass ich noch etwas vom seltsamen Ereignis bemerke. Es ist auch gar zu schön.« –

Daheim, vor dem Zubettgehen, fragte uns die Mutter, ob wir auch die Frau Landammann gesehen hätten. »So trommle doch nicht so, bis die Scheibe springt!« gebot sie mir. »Tust mir fast wie ein Narr.«

»Ob ich was gesehen habe, Mutter, was?« fragte ich noch ganz verträumt.

»Unsere Frau Landammann! So pass’ doch auf! Schau’ mir ins Gesicht!«

»Die Frau Landammann? Nein!« stotterte ich. Wie hätte ich in dieser wahrhaft männlichen, grossmännlichen Begeisterung ein Mädchen, eine Frau, selbst eine Landammansfrau bemerken können!

»Dann hast du ja nichts gesehen«, erwiderte die Mutter strafend. Ihr war diese greise, engelhafte Patin und Wohltäterin weitaus das Wichtigste an der ganzen Feier.

»Aber ich, aber ich!« frohlockten meine Schwestern. »Sie stand zuerst versteckt hinter dem Landammann im Vorhang. Ich glaub’, sie rief ihm etwas ins Ohr und dann hat er sogleich zu den Leuten hinaus genickt. Schau’, so etwa!«

»Ach was«, spottete ich.

»Und nachher hat sie ihm wieder etwas gesagt und ihn gestupft, ich sah, sie trug weisse Handschuhe. Er solle doch etwas reden, meinte sie. Die Frau neben mir, die Frunz, sah es noch besser und hat es so erklärt. Und richtig, da hat er allem Volk in der Wiese und der Musik noch besonders gedankt.«

»Wie du fabelst, Pauline«, stotterte und staunte ich unsicher.

»Und noch einmal stupfte sie ihn, und da sah ich deutlich ihren Löffel im Haar glänzen, so weit hat sie sich vorgebogen. Da sagte sie ihm, er solle jetzt den Leuten etwas geben. Er rief dann auch sofort, man solle mit ihm aufs Wohl von Obwalden trinken. Dann sahen wir die Frau nur noch an den Küchenfenstern bei den Mägden. Ohne sie, sagte die Frunz, wäre es viel weniger schön gewesen.«

Verena neigte froh ihren glatten, rabenschwarzen Scheitel. Sie hörte nichts lieber, als ihre verehrte Gönnerin rühmen. Meine Schwester musste ihr alles nochmals erzählen. Ich aber war wie vor den Mund geschlagen. Dieses Mädchen da, das nichts von Cäsar und Napoleon weiss , hat ja wirklich viel mehr gesehen als ich. Es roch alles so natürlich und wahr, was es berichtete. Wenn ich nun auskramte! Dusel, Nebel, Schwindel würde es heissen, und beinahe müsste ich es selbst glauben. Wo war ich denn gewesen? Hatte ich meine Sinne? Rom! ach was Rom! Sachseln, nicht als Sachseln!

Aber, erklärte Verena, die Hauptsache wüssten wir nun noch immer nicht. Der Landammann Hermann habe vor einiger Zeit in Bern oben anders gestimmt, als die Obwaldner wollten. Da hätten sie ihn zum Trotz aus allen Ämtern geworfen. So undankbar gingen sie vor, wo er es doch immer so gut mit Dorf und Kanton gemeint hatte und den Armen so viel Gutes tat. Schon der Frau zulieb hätten sie es niemals tun dürfen. Nikolaus Hermann habe sich tief gegrämt. Nun endlich sei das Volk in sich gegangen und habe ihn wohl wieder nach Bern bestellt und zum regierenden Landammann erwählt. Darum dieses Fest. Es sei eine Art Genugtuung.

»Ah, darum hat der Landammann nicht gelächelt«, sagte ich.

»Es hat ihm damals furchtbar weh getan«, wiederholte die Mutter. »Wenn die gute Frau nicht gewesen wäre, wer weiss ...«

»O du!« widersprach ich stolz. »Er hat doch nicht einmal nasse Augen gehabt.«

»Kind, solche Männer weinen nicht. Sie wären oft froh, sie könnten noch weinen wie du ...«

»Aber hast du mir nicht vorgelesen, wie sogar Jesus einmal, nein zweimal vor allen Leuten geweint hat? Das war doch der grösste Mann«, disputierte ich.

»Jesus ... geweint ... schon, schon! Aber das ist etwas ganz anderes«, versetzte Verena verlegen.

»Aber dann, wenn sogar Jesus ...«

»Geh du jetzt schleunigst ins Bett, eins, zwei, drei! ’s ist fast zehn Uhr. Und greine du mir wenigstens ein bisschen minder«, befahl die Mutter ärgerlich. Schadenfroh lachten die drei Schwestern mich aus.

»Aber Mutter, so hör’ doch! wenn sogar Jesus ...«

Da streckte Verena den Arm, den schmalen, leichten Arm mit den grossen Ärmeln, ohne ein Wort, und zeigte zur Kammertür. Das war unwiderstehlich.

Uneins und unzufrieden legte ich mich ins Bett und nagte an meinem Rätsel herum. Gewiss war es fein, dass der herrliche Mann nicht weinte. Aber unwidersprechlich schön war es doch auch, dass Jesus über seine goldene Stadt Jerusalem geweint hat, weil er sie so liebte und weil sie so falsch zu ihm war. ’s ist am Ende beides recht. Aber horch, horch ... noch immer Musik?

Jawohl, das war ferne Musik, was vom Hügel her durch die stille Finsternis bis zu meinem offenen Fenster tönte, fast wie süsses Bienengesumm und einige brummige Hummeln dabei, die melancholisch Bass auf Bass abspielten. Zwischen Wachen und Schlafen sah ich wieder den Landammann am mittleren Gesimse, rosenrot das Gesicht, schwarz der Frack, grau wie Eisen das Haar, wie er über die Köpfe zu den jenseitigen Bergen blickte und nicht lächelte, obwohl die Musik doch immerfort rief: Wir wollen dich lustig machen, lache doch! – Und wie er auch nicht weinte, wo die Musik doch dann immer wieder bat: So weine ein bisschen! – Ich sah, wie er unbewegt dastand und nur nickte und näselte: Ich danke euch, ich danke! – Ist er denn so stark? fragte ich; stärker selbst als die ungeheure Linde beim Haus, die doch vor Aufregung nicht aufhörte, zu zittern und zu wispern und die Krone so demütig zu senken? Oh, dachte ich bei den verschwimmenden Klängen, eine Weile hat er es so steif ausgehalten. Aber dann übernahm es auch ihn, und er bog sich herab und sitzt jetzt gewiss mit den Musikanten unter dem Baum und stösst mit jedem, der ihm naht, das Glas an und weint ein wenig und lächelt ein wenig vor Glück. Und jetzt sieht er mich von weitem und winkt und ruft durch die Nase: »Komm, Heinrich, wenn dir das denn doch so gefällt ... so komm doch! ... da trink! und da nimm das Trompetlein. Es ist eigens für dich so klein. Nur frisch angesetzt, es geht schier von selbst! ...

Und nun beginnt ein neues Stück. Ich probiere voll Zweifel mitzumusizieren. Ei doch, es läuft wie Wasser. Kaum leg’ ich die Lippen ans Mundstück, so fängt es an zu klingen, hinauf und hinunter genau die Melodie. Ja, ich sehe wahrhaft die Noten, die ich spiele, wie goldene Kreisel aus dem Blech fliegen, prachtvolle goldene Kreisel. Rings um mich wird alles Gold und Klang. Ich sehe und höre nichts anderes mehr. Wo ist der Landammann, die Linde, wo ... Wo ist mein Trompetlein?

Halt, wo ist mein Trompetlein? Ein süssgelber Nebel verschluckt alles. Das Trompetlein, o Gott!

»Was, Trompetlein, dummer Heinzel!« sagt eine ernste Stimme über meinem Bett, und herber, heller Morgen füllt die Kammer. »Da sind Hemd und Hosen. Flink, die Mädchen sitzen schon beim Frühstück.«

Ich kann es nicht fassen, noch eben hielt ich doch das Trompetlein am Munde, und grabe noch hitzig unter den Kissen herum, bis ich völlig erwache. Aber ich bin nicht traurig. In meinem Innern singt und schallt es immer noch deutlich. Ja, ja, da drin trage ich das Trompetlein, trag’s überall mit mir!


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