Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Was die Alten sungen

Welch ein langweiliges Gesicht haben doch für einen zwölfjährigen Dorfbuben die Sonntage! Die Predigt schlingt sich wie ein Spinnfaden von Säule zu Säule; beim Kapuziner ist es schon ein Seil. Das Hochamt mit den üblichen Geigen, Klarinetten und Trompeten will auch kein Ende nehmen. Die Dorfstrasse tut so sauber und anständig, keine Kapriole, kein Spiel, kein Barfuss. freilich das Essen ist reichlicher und früher, aber man musste zum Sonntagsrock unerhört Sorge tragen. Mittag schlug es vom Turm, als sagte es zwölfmal schläfrig: Amen ... Amen. Und während wir Knaben noch träge im Schatten sassen und das Unmass von Schübling, Erdäpfeln und Kabis verdauten, läutete schon mit ihrer sonderbar müden, eintönigen Stimme die Christenlehrglocke uns wieder zum Katechismus in die Kirchenstühle. Nahe dem Gotteshaus, unten am Schützenstand, knallte ebenso monoton die Schiesserei der erwachsenen. Denn die Obwaldner lieben das und bringen es weit mit ihrem Gewehr. Der Hirschenwirt besitzt sogar zwei Flinten zur Ordonnanzwaffe und eine unheimliche Pistole, und wenn er eine seiner schreckhaften Launen bekommt, knallt er zum Fenster hinaus. Das ist dann ein Sonderfall, ein Abenteuer. Aber die andere offizielle Sonntagsschiesserei, dieses regelmässige Kläck ... Klack ... Kläck ist für das Ohr etwas vom Ödesten, was es geben kann.

Doch der heutige Herbstsonntag, unser letzter Ferientag, war voll von bübischem Zeitvertreib. Die Älpler spielten die Hauptrolle. Sie hatten die Wildenen längst verlassen, hirteten wieder auf den Vorsässen, ja, waren zum Teil schon ins Tal gestiegen und bevölkerten jetzt mit ihren ovalen, geschorenen Köpfen, gemalten Tabakpfeifen und gestickten Hirtenhemden Steg und Weg. Der wunderliche Geruch von Stall, Milch, Heu und Bergwind rauchte aus ihren Bärten und gab dem Fest sein eigentümliches Parfüm.

Wohl dauerte die Predigt noch länger als sonst. Aber es hob und weitete die Arme über das Gesimse ein fremder Priester, den wir noch nie gesehen hatten, mit einer fremdartigen Betonung und einem s wie eine Federspitze. Der heilige Gei-s-t sagte er, nicht Geischt wie unsere schwere Obwaldnerlippe. Das unterhielt uns zu aller Andacht. Die Pfingsttaube über der Kanzel schien uns schmälere, spitzere Schwingen bekommen zu haben.

Sie Christenlehre fiel aus. Vom Turm riefen die Stundenschläge nicht mehr: Amen ... Amen, sondern: Pass’ auf! was gibt’s? ... pass’ auf! was gibt’s? – Dem sprangen wir nach, und nur selten im Trubel hörte man eine Schulkindstimme aufflackern, aber bald wieder erlöschen: »Und der Aufsatz, Sepp, hast du ihn fertig, weisst, der Reiter über den Bodensee?« Was Aufsatz und Reiter und Bodensee, guckt lieber hin, aus dem Hirschen hängt eine Fahne, rotweiss, mit den gewaltigen Kantonsschlüsseln, unserem stattlichen Wappen. Im Engel und im Löwen wird gekegelt, aus den Wirtsstuben klingt die Handorgel und riecht es wie aus einem Schlaraffenland von Gebratenem und Gebackenem, in der Matte hinten ist das Atzgras geschnitten und wird ein grossartiger Hosenlupf ausgeschwungen. In Hemd und Hose packen sich da sozusagen die sieben Dörfer mit ihren behendesten Armen, ringen, keuchen, wuchten aufeinander los, ringeln sich ineinander, stellen sich das ein und stossen und zerren, bis der Schwächere auf dem Rücken liegt und in den blauen Himmel und in das noch blauere Auge seines Siegers blickt. Dieser bekommt ein Schaf oder einen Käslaib, reicht dem Gegner die Hand und bittet ihn, aus seinem Glas zu trinken. Es ist der erste Most, von süssen Birnen, dick, schaumig und melodisch in den Mund rauschend. Ach, dass er’s doch auch so zeigen dürfte, toben, geifern, schimpfen, der Besiegte, wie der junge Most da! Aber er musste lachen, dem Überwinder Bescheid tun, und es galt schon fast als ungehörig, wenn er, den Schnurrbart abwischend, halblaut brummte: »’s war ein Zufall ... ich bekam den Krampf in die Waden ... das nächste Mal, hoppla!«

Während die Mädchen sich nicht leicht herzugetrauten und je und je die Augen verhielten oder aufschrien, wenn ein Muskel knackte oder ein Kämpfer wie ein Stier nach Luft schnob, schauten wir Buben mit verzehrender Teilnahme diesen uralten, rauhen Kraftspielen zu, und jeder hatte seinen Liebling, dem er den Kranz wünschte. Wir erschraken nicht, wenn es in den Knochen krachte oder ein Arm über die Achsel fast ausgedreht schien. Ja, da war der Hirschenwirtsohn Johann Kehrer, ein glatter, bleicher Schlingel, der mit grausamem Lippenzucken den verzweifelten Blick des Nazi (Ignaz) Imfeld auffing und spöttisch erwiderte. Dieser starke Kerl war Knecht im Hirschen gewesen. Es soll viel Unebenes, auch ein Pistolensolo gegeben haben. Schliesslich warf der jähzornige Wirt den Nazi ohne einen Rappen Lohn zum Haus hinaus. Fast kam’s vor Gericht. Man munkelte allerlei Dunkles, wovon ich nur verstand, dass der Knecht sich wohl in Zigarren und heimlichen Genüssen am Fass bezahlt und den Johann zum Mitschuldigen verführt habe. Nichts davon klärte sich, nichts ward bewiesen, vielleicht war alles Fabel. Nazi diente dann im Berner Oberland, aber kam gerne zu den Schwingfesten über den Brünig. Denn er galt als langsamer, aber zäher und bärenstarker Hosenlüpfler.

Doch diesmal lag über ihm und umringelte ihn schlangenhaft der viel jüngere, behende, wie Stahl so biegsame Karl von Flüe. Schon hatte er den Nazi über die linke Achsel gewälzt und das Knie auf den rechten Arm gestemmt. Nazi sah mit verlorenem Blick der erde entlang in die Reihen der Zuschauer und traf, ob er wollte oder nicht, immer die blaffe höhnische Fratze des Buben, den er gelehrt hatte, einen Stumpen ohne Ausspucken rauchen und das Glas Wein in drei Zügen geräuschlos leeren.

Dieses schadenfrohe Grinsen, diese dünnen Lippen mit den langen nagenden Zähnen, diese erbarmungslosen braunen Knabenaugen nahmen dem Knecht allen Mut. Er wehrte sich nur noch anstandshalber ein wenig, sagte er uns später, um nicht gerade wie ein Mehlsack umgestülpt zu werden. So denn doch nicht!

Ich stand ganz vorne neben dem Schulkameraden und hätte das heimliche gehässige Duett nicht bemerkt, wenn Johann Kehrer nicht beständig vor Aufregung die langen Beine geschlenkert und mich in seiner Gier am Arme gerissen hätte. Jetzt regte es auch mich heillos auf. Verzaubert wie der Vogel von der Schlange konnte ich das Auge fast nicht mehr vom hübschen Schlingel lassen.

Ein dorfbekannter Taugenichts war der Kehrer, doch in solcher Art, dass er aus einem Hosensack Schnüre, Zangen und Zwingen zum Quälen, aus dem andern eine gewaltige Pfundbirne zum Verschenken nahm. Er schien der Leichtsinn und die Laune in Person. Jetzt sah ich nur den Bub mit den Schnüren und Zwingen, teuflisch schön mit seinem blassen Lächeln, dem schwarzen Haar, den langen Augenschlitzen und den langen, wachsweissen Ohren, die er für sich allein bewegen konnte. Eine unheimliche Geschichte schwante mir, spinne sich da zwischen Knab und Knecht.

Endlich lag Nazi in voller Breite auf dem Rücken. Triumphierend kniete der von Flüe über ihm. In diesem Augenblick stand mir Johann auf den Fuss. Er musste in seiner Wohllust etwas zertreten. Ich tat einen leisen Schrei und riss ihn am Bein. Da merkte er erst, was er getan, und ehe ich vorsah, versetzte er mir noch einen Tritt und spottete mir mundnahe ins Gesicht: »Da, noch eine!« Dann schnellte er auf und weg.

Aber ich blind vor Wut schrie ihm nach: »Du bist ja besoffen, besoffen bis über die Eselsohren!« Denn ein heftiger Atem von Wein war mir aus seinem Munde in die Nase gefahren. »Wer ist besoffen?« fragte man lustig. »Ach, der da«, sagte ich. »Der sauft doch wie ein Kalb.« Und ich zeigte auf Johann und verlor auf einmal allen Schmerz im Fuss.

Doch Johann tat, als höre er nichts und schritt schlank hin und her und am Nazi vorbei, der ihn jetzt nicht mehr interessierte. Als aber ein Fratz dem Knecht ein Weilchen zugeschaut hatte, wie er sich überall betastete und sorglich rekelte und in die alte Maschine zu fügen suchte, und als nun dieser Fant ihm eine lange Nase drehte und rief: »Pfittergax, verspielt, haushoch verspielt!« da blitzte und knallte es ihm im Hui übers Gesicht. Eine klassische Ohrfeige lag krebsrot über Nase und Backe herunter. Und Johann strich seine spitze, glatte Hand an den Hüften ab und sagte gelassen: »Geht dich das etwas an, du Maulaff? Hat er etwa nicht grossartig gerungen? Pack’ dich!« –

der Knecht machte ein verdutztes, blödes Gesicht. Aber dann brachte er heiser heraus: »Halt du auch das Maul, du ... du ...« Und er würgte herum und fand doch keinen passenden Schimpf. Ja, wer hätte unserem Johann einen passenden Namen gewusst!

»O du scharmanter Nazi«, hänselte der Knabe und tänzelte mit wiegenden Hüften davon.

»Warte nur ... ’s ist noch nicht Abend!« brummte Nazi unheimlich. Wie eine drohende Wolke blickte er dem Burschen nach.

Mir aber gab der Klatsch auf jene kleine Backe zu denken. Jene Ohrfeige hatte wohl mir gegolten. Die war gesalzen. Aber so mitten in den Mannsleuten wagte der Katzenschlaue sie nicht auszuzahlen. Da musste jener Knirps herhalten. Doch hält er wohl eine zweite in Vorrat. Ich will gut aufpassen.

Aber da schau, plötzlich kam Johann schlank und elastisch zurück, gerade auf mich zu. Ich hielt die Arme zur Abwehr vor. Aber er lachte nur leise und zitterte mit den Ohren und fragte: »Hast du den Aufsatz gemacht, der Reiter über den Bodensee? So dummes Zeug.«

Ich wollte ihm nicht antworten. Aber er besass ein so sicheres Drauflosgehen mit den glänzenden Augen und dem süssen Ton in der Stimme, dass ich sogleich ehrlich gestand: »Nein.«

»So machen wir ihn zusammen«, bestimmte Johann.

Ich wandte mich ärgerlich um zu andern Knaben.

»Heute abend nach der Betglocke! Wir machen ihn zusammen«, wiederholte der Bösewicht noch bestimmter und gab mir einen leichten Knuff in den Rücken. Und mit seinem seltsamen Lachen, ähnlich dem leisen Geplätscher eines Brunnens, enteilte der Heillose.


Ach, dieser Aufsatz! Vor zwei Monaten hatten wir das düstere Gedicht von jenem Reiter gelesen, der ahnungslos im Winter über den schlecht und recht zugefrorenen, hochverscheiten Bodensee ritt und vom Schlage gerührt aus dem Sattel sank, als ihm das erste Fischerweib am andern Ufer bedeutete, woher er komme.

Zuerst hatte auch uns beim Lesen gegraut. Aber dann überwog der kritische Bubengeist. Wie kann man sterben, wenn man in Sicherheit ist? Vorher, ja, auf so ungewissem Boden, mit seinen Löchern nach furchtbaren Tiefen hinunter. Aber jetzt, nachdem es geglückt ist, macht man das Kreuz, sagt Gott sei Dank, schüttelt die weissen Flocken und die schwarzen Gedanken von sich und sucht im ersten besten Wirtshaus eine dicke Suppe und eine noch viel dickere Wurst.

»Denkt euch doch in den Reiter«, belehrte der Schulmeister. »Ganz gut kann man am Schrecken hinterher sterben, wenn einem die ganze gewesene Gefahr erst jetzt auf einmal klar wird. Es ist dann, als wäre sie erst jetzt da, als steckte man noch drin und erlebte alles Entsetzliche jenes stundenlangen Abenteuers gesammelt in einer einzigen Sekunde.«

»Aber man ist eben nicht mehr drin«, betonten wir Schüler.

»Man ist auf eine gewisse Art noch drin«, widerstand Lehrer Beat. Aber er vermochte uns diese gewisse Art nicht begreiflich zu machen. Je länger er verdeutlichte, desto undeutlicher wurde es.

»Und dazu«, rief Simon Burch, »muss das doch jeder Lappi merken, wenn es auf einmal weitum topfeben wird wie auf einem Tanzboden. Gar, wenn der Tanzboden so gross ist wie der Bodensee, viele, viele Stunden lang und breit.«

So Simon. Er konnte es wissen. Sass er doch im Zollhaus oben am See, hart am Wasser, und hatte unser Seebecken oft genug zugefroren gesehen, flach wie ein Teller. Nein, so etwas konnte niemand mit Land verwechselt. So ein glatt gehobeltes Land gab es überhaupt in der ganzen buckligen Schweiz und rings um sie herum nirgends.

»Schweig doch, Simon«, schalt der Lehrer. »War etwa einer von euch am Bodensee? Keiner! Wer streckt da den Finger? Du, Johann Kehrer? Los!«

»Ich, ich, Herr Lehrer, mit dem Vater, nach Friedrichshafen, zum Vetter Götti. Sapperlot, das war ein See!«

»Und was hast du etwa gesehen?« spottete der Lehrer. »Berge wie Mönch und Jungfrau im Schwäbischen, he?«

»Ich weiss nicht mehr exakt,« versetzte der Schalk, »wie es war. Ich hatte genug auf dem Dampfschiff herumzugucken. Ja,« fuhr er lose fort, »da gab es einen Mönch, so einen fuchsbraunen Kapuziner, und einen Haufen alte Weiber. Aber die interessierten mich nicht. Hingegen die cheibeschönen Schwabenmeitschi, Herrgott ...«

Ein rauhes Bubengelächter kollerte über die Bänke. Selbst der Lehrer lachte. Blitzschnell hatte er nach dem langen, wohlgeformten, leider ungeputzten Ohr Johanns gegriffen. Aber noch flinker war der Spitzbube seitlings ausgewichen. Man vergesse nicht, es war der letzte Schultag vor den Sommerferien, Feierabendstimmung, sonst hätte der Lehrer weder solche Spässe noch dieses familiäre Hin und Her zwischen Lehrer und Schüler zugelassen.

»Nun hört,« erklärte der Magister ernstlich, »ich fuhr über den See, wo er die flachsten Ufer hat. Und da könnte niemand bei hohem Schnee herausfinden, wo das Land aufhört und die Eisdecke anfängt. Ihr müsst euch vorstellen, dass es damals meterhoch schneite und die Bise dann Buckel und Mulden geformt hatte wie ein Hügelland.«

»Aber dann wäre noch das Schilf am Ufer,« entgegnete Simon, »das verriete den See ...« Wir alle nickten.

»Schilf an sehr befahrenen Seen mit Dampfern und Segeln, mit vielen Dörfern, Landungsstegen, Eisenbahnen, Schilf da ... nein, das gibt es nicht. Das hindert, das wird ausgerissen oder geht von selbst zugrund.«

Kühn behauptete Lehrer Beat das, als wäre es buchstäblich eine Binsenwahrheit. Aber wir kannten seine Stimme, sie war zu ehrlich. Wenn er ins Ungewisse hinaus sprach, so redete er unnatürlich laut, stotterte, wiederholte sich. Oh, sicher gab es am Bodensee Schilf. Wir glaubten jetzt nicht einmal mehr, dass der Lehrer jenes grosse Wasser gesehen hatte.

Er merkte den Unrat und wollte sich nicht weiter gefährden. Wir sollten das Gedicht öfter lesen und überdenken und dann auf den ersten Schultag im Herbst darüber einen Aufsatz abgeben. Nein, nicht über den Reiter, den wir doch nicht begriffen, sondern über irgendein Ereignis aus unserem oder sonst einem bekannten Leben, wo der Schrecken hintennach folgte wie ein kalter Schatten und uns nun erst das Gruseln überlief. Etwas Ähnliches wie der Reiter über den Bodensee.

»Und als Titel mögt ihr setzen: Mein Ritt über den Bodensee«, rief uns der Lehrer unter der Türe nach. »Vier Tatzen, wer keinen Aufsatz bringt. Ihr habt jetzt zwei Monate Zeit. Das ›Mein‹ im Titel doppelt unterstreichen, aber nicht von Hand, mit dem Lineal. Doppelt unterstreichen!«

Und nun überschwoll uns die Herrlichkeit der Ferien, und jener Reiter ging nicht im Eis des Bodensees, aber im tiefsten Schnee der Vergessenheit unter.

Erst gestern beim Aufstöbern der Schulgeräte erinnerten wir uns der Aufgabe und wurden entsetzlich verdriesslich darob. Die einen sagten, sie wollen vor dem Zubettgehen daran schwitzen, andere versparten das Zeug auf die Morgenstunde, aber etliche liessen sich den Aufsatz bereits heimlich ausfertigen. Das war auch das Gescheiteste. Denn wer bringt nach zehn Wochen Wildheit bei Fels, Wasser und Geissböcken noch eine zahme Zeile fertig? Und es gibt so hilfreiche Mütter und so geschickte ältere Schwestern.


Nach Vesper lief alles gegen den Hirschen-Gasthof, wo eine seidene Fahne von der Holzlaube hinunterhing und im Wind, der vom See heraufwehte, wunderbar rauschte. Es wurden Prämien verteilt, jemand hielt eine kurze Rede und stand dazu ununterbrochen auf den Fussspitzen. Ein Musizieren von Blech und Holz begann, aber mit zunehmenden Schatten zog sich das Fest in den Wirtssaal zurück.

Jedoch eine Reihe gelassener Dörfler und Pfeifenraucher hockte draussen im verbleichenden Tag auf der Gartenmauer, dabei einige Kutscher, feiernde Knechte und wir Buben. Wir sassen da, scharrten mit den Schuhen, spuckten wie die Grossen und guckten sehnsüchtig zu den erhellten Fenstern empor. Die Alten aber redeten gemächlich von Dörrobst, Mastvieh und heurigem Spalenkäse, und indem sie über die Dorfdächer weg am nahen Sachslerberg bis zum Gipfelchen emporschauten, das jetzt genau wie ein Zündholz im letzten violettroten Licht verglomm, fühlten sie sich behaglich und grossartig. An diesem wald- und weidereichen, uralten, grossväterlich stillen Berg emporzublicken, diesem Rücken und Schild und Schatten des Dorfes, oh, das war am Feierabend, bei starkem Tabak und verdauter Abendsuppe ein Hauptvergnügen.

Auch der Johann ging da hin und her, beunruhigend nahe, und warf plötzlich und ganz ungehörig in eine Pause das Wort vom Reiter auf dem Bodensee ins Männergebrumm. – »Glaubt ihr das, he?« griff er die Tabäkler an.

Die Alten gaben ihm mit fast geschlossenen Augen einen trägen Blick und taten, als wäre die dumme Frage als dürres Blatt von der Esche im Garten zu ihren Füssen hingefallen. Sie spuckten darauf.

Aber nun nahm ein hoher ernster Bursche, der schon die Studentenmütze trug und vielleicht Doktor wurde, mit seiner gemessenen, milden Stimme den Fall auf. Mit bescheidenen Sätzlein, in sanfter Manier, erklärte er, dass wirklich so ein Reiter über den See geritten und hintennach vor Ergrausen jählings zusammengebrochen sei. Das sei ein Faktum, schloss er und wurde blassrot wie eine Heiderose über den zu grossartigen Ausdruck. Es sei, verbesserte er, eine ausgemachte Sache, man habe Papiere dafür.

»Sakkerdiä! Papiere hat man anfangs für alles«, meinte der stets widersprechende Durrermariä. Er sog an einem Löwenzahnstengel. Aber er, das gefürchtete Oppositionsmaul des Dorfes, ja, des Kantons, sagte dies mit einer gewissen Höflichkeit gegen den Studenten.

»Kann man denn erschrecken? so erschrecken? wenn alle Gefahr ja doch vorbei ist!« fragte Johann und wandte mir seinen schmalen glatten Kopf mit bedeutungsvollem Zwinkern zu. – Aha, ich begriff, diese Männer sollten uns wohl den Aufsatz kochen und zurüsten.

»Der Lehrer sagt ja«, betonte ein Pius Schäli.

»In jedem Leben gebe es so etwas«, fügte ich verschämt bei.

»Wir müssen sogar einen Aufsatz darüber zusammenschmieren«, klagte der Baptist Müller. »Aber ich versteh’ nichts. Das Gefährliche, ich erschrecke, wenn’s da ist, und nicht, wenn’s vorbei ist.«

»Hoho«, machte jetzt der Feldpeter, ein guter Geiger, aber nun vor Alter mit beiden Händen zitternd. »Du lügst einmal faustdick. Wenn es donnert, so heillos überm Kopf, als fall’ der Himmel in sieben Scherben auf dich herab, sag’ mal, wer bückt da etwa nicht den Kopf und zieht das Fell zusammen? Und doch ist der Bodensee schon hinter euch.«

Einige nickten. »Ja, ja, der Feldpeter weiss immer Bescheid«, gestand der Durrermariä. »Da hast einen Stumpen.«

»Der Klapf,« fuhr der Gelobte fort und schob die Zigarre ohne Dank in den Brustschlitz, »der verdammte Klapf kann dir doch jetzt nichts mehr anhaben. Das ist ja nichts als der Lärm vom Blitz. Aber der Blitz ist schon lange verpufft.«

Wieder nickten viele Köpfe.

»Wenn’s über dir auf zusammentrifft, Strahl und Schuss auf eins, dann hat’s dich, dann bist tot und hast keine Zeit mehr zum Erschrecken. Aber wenn’s nicht zusammentrifft, wie fast immer, und der Donner hintennach kegelt und du machst doch ein Kreuz und sagst: »Jesses Mariä und Joseph!‹ dann bist halt exakt wie der Reiter über den Bodensee und fällst herunter, wo du noch besser könntest im Sattel sitzen bleiben. – Jetzt zahlt mir einen Liter, wenn ich recht habe, und du, Nazi, zünd’ mir den Stumpen an!«

»Recht hast, dreimal recht!«

»Sapperlot, das ist ein Fall«, rief Johann. Und alle nickten und mussten lächeln über den grossmauligen Burschen und darüber, dass sie sich beim Donnern immer zu spät bücken, sie alle ohne Ausnahme, und dass sie es wieder tun werden in alle Ewigkeit. Wir Buben aber schrieben uns diesen Spass hinter die Ohren. Dieses vom Blitz und Donner war famos. Das war schon der halbe Aufsatz.

»Merk dir das«, kommandierte mir Johann leise.

Die Abendglocke war schon am Verläuten. Man hatte es überhört. Einige zogen jetzt noch beschwerlich den Hut ab. Zwei, drei beteten im Stillen den Englischen Gruss, wie’s alter Volksgebrauch ist. Die meisten schwiegen, bis die Gut Nacht! Gut Nacht! rufende Glocke den letzten Klang in die Dämmerung hinausgeworfen hatte.

Nun rief man die Kinder unter den Haustüren heim. »Allämarsch«, bekräftigte man. Den grossen Buben wurde vom Vater wohl auch durch die Fingerknöchel gepfiffen. Das war unwiderstehlich. Der stärkste Bengel folgte wie ein Hund. Auch ich stürzte die Suppe hinunter, nahm Brot und sprang mit kauendem Mund wieder zur Küche hinaus.

»Halt«, sagte die Mutter. »Jetzt sitzest du da an den Tisch und schreibst den Aufsatz für morgen. Hast es wieder auf die letzte Minute verspart. Immer der gleiche! Und ich hätt’s bald auch vergessen.«

Strafend sah ich meine ältere Schwester an. Die Hexe, sie hatte wieder einmal geklatscht. Warte, du Zopf, bis wir allein sind!

»Mutter,« bat ich, »gerade wird vorm Hirschen die Aufgabe verhandelt. ’s ist schwerer als du meist. Der Konstantin, der Feldpeter, der Durrermariä helfen uns. Denk’, der Hirschenjohann frägt sie millionenschlau aus. Den halben Aufsatz haben wir schon.«

»’s ist ja noch nicht dunkel,« drängte ich, als die Mutter, ihre lieben roten Geranien vor Nacht begiessend, unschlüssig schwieg. »Und ’s ist doch Festtag. Auch der Mattlisepp ist noch draussen und der kleine Britschgi, denk’!«

»So geh! Aber um neun Uhr bist da, punktum.« Verena wies streng zur Uhr an der Wand. Oh, diese magere, straffe, liebe, kleine Hand, was war sie selbst für ein unerbittlicher Stundenzeiger, der keine Minute vergeudete!

»Und dem Johann sag’, dass ich also morgen um sieben Uhr auf die Stör komme. Das Tuch für die Hemden sei schon zugeschnitten.«

»Auf die Stör!« wiederholte ich schwächlich. »Oh!«

»Was oh?«

»Nichts, nichts. Ich geh und sag’s sofort.«

Warum quälte es mich, dass die Mutter in den Hirschen auf die Stör ging? gerade diesem Johann Hemden nähte und vielleicht seine Strümpfe flickte? Warum bog ich den Kopf wie ein Knecht?

Als ich bei der Hirschenmauer ankam, war man mitten in neuem Erzählen. Johann fasste mich am Ellbogen: »Jetzt bleibst du!« – Und er pochte an seine Rocktasche: »Da hab’ ich das beste vom Nachtessen aufgespart, auch für dich.« – er schleckte die letzten Suppenreste aus den Mundwinkeln. »Aber zum Teufel, jetzt pass’ auf. Hast schon vieles verpasst.«

Einer, ich glaub’, es war der Bunzlichlaus, der in der Jugend an der grenze hirtete, wo die Berneralpen an die Obwaldnerischen stossen, läppelte sein Abenteuer heraus. Läppelte, jawohl, er hatte keine Zähne mehr, und es lutschte und latschte, wenn er sprach, ohne rechtes s und r, wie ein Kind beim Milchtrinken. Eintönig klang’s und doch kurzweilig.

»So ist’s, ich war nun todmüd’ vom Nebel und Regen und vom Ins-Irre-Laufen. Hab’ keine Uhr im Sack. Weiss nicht, wo ich bin. ’s könnt die Gloggenweid sein ob den Wasserfällen, die schönste Vorsäss dort, sonderheitlich für Zuchtvieh. Mit fielen die Augendeckel beim Laufen zu. Glaubt nur, geradenwegs hätt’ ich mich ins Gras gelegt, wenn’s nicht so gestürmt hätt’. Und da stoss’ ich an besagten Stall, taste zur Tür, sie steht offen. Also leer, denk’ ich. Schade, ’s wär’ wärmer zwischen zwei lebendigen Kuhbälgen. Ich stochere zuhinterst ins Eck. Herrgott, das ist so eng wie ein Hühnergaden. Schon schlag’ ich die Nase am Balken an. Und da lass’ ich mich einfach zusammenfallen wie ein Haufen Sand und weiss nichts mehr.

Aber ich träume wildes Zeug, es breche ein Felsklotz vom Berg und rumple auf mich los. Es stampft und brummt daher und fährt mir wie eine grobe nasse Schnauze ins Gesicht. Und dann wird mir warm. Ich erwach’ halb. Beim Cheib, ein Kalb oder Rind liegt neben mir. Oder träum’ ich’s nur? Ich wollt’ streicheln, rufen: ›schägg, Schägg! ...‹ Aber ich kann kein Glied rühren und alles ist wieder dunkel. Manchmal drückt mich was, manchmal schreit etwas von weitem, einmal tönt es wie ein Schuss. Aber wo ich erwach’, ist’s Tag, der Stall leer, ein frischer Kuhfladen liegt da, die Tür noch offen, draussen Regen, und jetzt merk’ ich, dass ich auf dem Kapfli, hinter der Gloggenweid bin.«

»Herrgott Teufel noch einmal!« ruft man dumpf.

»Ja, da schreit ihr jetzt, aber mir kam nichts Schlimmes in den Sinn. Ich putz’ den Dreck ab, bin trocken, hab’ Hunger, lauf’ ein paar Minuten bergab zum Weg. Es regnet katzengrau, und da hör’ ich vom Strässchen unten rufen und schreien wie verrückt. Was gibt’s dort? Ich hinunter. Ja sind Knechte, Oberländer, stark wie Satane, und haben den Gloggenstier auf, den berühmten Zuchtstier, einen Riesen, und können’s nicht zu dritt. Da liegt er wie ein Berg, ist noch halb warm am Bauch, aber die Beine streckt er schon steif wie Hölzer in die Luft.

Da half ich haben. ›Aber warum erschiessen?‹ frag’ ich. ›Wo kommst denn her?‹ fragen sie.

›Vom Hochstollen.‹

›Ja so, dann kannst ja nichts wissen.‹

›Und hab’ hier oben im Kapfli geschlafen, die volle Nacht. Ihr habt ja den Stall offen lassen.‹ Indem kraute ich lustig am Stierhals.

Da liessen alle vom Stier los, so erschraken sie.

Und einer überschreit den andern: ›Dann kannst von Wunder sagen.‹ So lärmen sie, und sind doch alle reformiert. Aber ein Katholischer ist dabei und ruft: ›Und darfst Sankt Wendel ein Dutzend Kerzen stiften. Donnerwetter, im Kapfli, beim Gloggenstier ...‹

›Ja, da hör’ ich, dass das Gewaltstier sollte talab nach Meiringen. Aber es war wilder Laune, hat sich vom Strick gerissen, den einen Knecht niedergeboxt, alles stob auseinander, klettert’ auf die Bäume, so furchtbar hat es getobt. Das war gestern abend ums Kapfli herum. Man liess den Statt offen, dass es hineingehe, verlor den Stier im Nebel aus dem Auge, wachte hier herum, ging beim Tagen auf die Suche, zum Stall, lockte. ›Da schoss er heraus wie ein Donner, jagt’ uns bergab, bekam den Toni in den Rücken, nahm ihn auf und warf ihn wie einen Brotteig an die Tannen. Dann kam’s über uns, da wir abwehren wollten, bis der Bertold endlich schoss. O ungern! So ein grossartiges Tier! Aber ein Toter und ein Halbtoter, das tut es für einmal ... Wir wollten noch leben ...‹

Jetzt schoss auch ich mit den Fingern vom Fell weg, das mich nachts so brav gewärmt hatte. Mir wurde schwarz vor den Augen, ich zappelte ein wenig und fiel wie ein Sack auf den Stier.«

»Sackerlott!«

»Jetzt lacht mich aus, soviel ihr wollt, weil ich hinterdrein erschrocken bin, erst beim Donner, wie der Feldpeter sagt. Meinetwegen! Wenn ich daran denk’, dass der leibhafte Tod neben mir lag und ich schlief und würde beim ersten Mucks auf schauderhafte Art umkommen, ich sag’ euch, da könnten mir gerade wieder die Sinne schwinden.«

»Gebt ihm flink einen Schoppen Veltliner, sonst ...« spasste eine hohe Stimme. Aber niemand lachte, man war zu ergriffen und brummte und spuckte hin und her vor Verlegenheit. Doch sieh, da schwenkt schon der schmale Johann ein Bierglas voll Wein zur Küchentür heraus. »Da, putz’ den Kuss vom Stier ab«, näselt er und reicht das Glas dem Bunzlichlaus mit hübscher Kredenzgeste. Wie er den Körper weich wiegt, Arme und Beine schlenkert, das Knie biegt, das alles ist unbewusste Musik.

Wo hat er den Wein her? Sicher ungefragt vom Fass abgezapft, der Lümmel. Und um den Mund, wo schon ein leiser Flaum beginnt, klebt ihm noch rötlicher Schaum. Der hat vom offenen Spund gesoffen. Er tut leise, aber wild, hüpft vom rechten aufs links Bein, stützt sich auf meine Achsel und riecht wie ein alter Zecher.

»Wer noch so ein Stück weiss« lässt er sich munter hören, »dem hol’ ich wieder ein Glas voll. He, Leute, was gab’s noch auf der Welt?«

»Dummer Hagel,« dankte der Erzähler, »meinst, wir spielen dir Theater, wegen deinem Gesöff da!« Aber er sog den letzten Tropfen aus.

»Noch etwas,« baten wir Buben, »erzählt noch etwas. Von solchem hat der Lehrer keinen Hochschein. Damit hauen wir ihn zusammen.«

»So ein grüner Tintenschlucker, so ein Papierversudler, so ein rostiges Bürstlein aus der Seminarfabrik, was hat der erlebt«, neckte der Saublumendurrer. »Ja, haut ihn zusammen!«

»Lehrer!« Die Graubärtigen grinsten. So einer, der schon für kleine Buben den Haselstecken braucht, sonst bodigen sie ihn, so ein Geschöpf aus Papier und Schiefer, der soll mal Aug’ und Ohr aufsperren, dem wollen sie einen Aufsatz liefern ... Herrgott ...

»So hört, Buben!«

Das ist der Haldenmeirad, der Heimlichtuer, aber auch ein stiller, witziger Nörgeler. Er könnte prachtvoll spassen, wenn er nicht eine so unnütze Vorsicht nach rechts und links gehabt hätte. er gibt nicht gern was heraus, weder Batzen noch gute Worte, aber missgönnt es dem andern, wenn er solches springen lässt. Wir staunen, dass er reden will. Er hat sich eben heut’ schwer vergessen, Schnaps auf Schnaps gestürzt. Denn der Schwingerkönig ist sein Göttibub und hat grossartig bezahlt.

Der Meirad hatte einst noble Herrschaften durch die halbe Schweiz kutschiert. Denn in seinen jungen Tagen gab es erst drei, vier Schienen durchs Vaterland. Der Kutscher auf dem Bock regierte.

»Und einmal,« begann er vorsichtig um sich blickend, »hatte ich frei und eine Handvoll Fünfliber. Und da fuhr ich mit Schwager Ludi auf eigenes Vergnügen über den Pass. Ihr wisst, welchen. Und am See, wo die zwei Hotels liegen, ich sag’ nicht, welche, da kehrten wir ein wie grosse Herren und wollten es einmal so haben wie die Engelländer. Und mein Schwager ...«

»Der Lachheiri, der?«

»Ratet nicht! Er war nie hierzuland. Übrigens war er nicht genau mein Schwager, nur Vetter in einem späten Grad. Aber wir Kutscher sagten jedem Verwandten und Nichtverwandten Schwager.«

»Ja, ja, schon gut«, schimpfte Theodor. »Zur Sache, Meirad!«

»Also, mein Kamerad hat es hoch im Kopf und schlägt auf den Tisch und befiehlt einen gebratenen Aal.«

Wir staunten. Ein Aal, kann das schmecken?

»Das ist ein besonderer Fall. Man gibt’s nur den allerhöchsten Herrschaften. Selbst hab’ ich’s gehört, als der Küchenchef im ... im ... also im Gasthof zu den Köchen schrie: Der König will einen Aal, macht vorwärts! Der König von Italien ... das heisst, es kann auch der württembergische gewesen sein oder ein Herzog oder ein Graf ... ich klag’ niemand an.«

»Und wenn es der Kaiser von Russland gewesen ist, was macht das?« rief einer.

»Er ist jetzt nicht da, er hört dich nicht ... sag’ nur der Kaiser von Russland«, foppte man.

»Vom Aal, vom Aal«, forderten wir Buben! »Weiter!«

»Ja so, ja«, machte der Meirad beruhigt. »Mein Vetter war ein grosser schöner voller Mann, mit einem schwedischen Regenmantel. Den zog er auch am Tisch nicht ab. Und ich sagte dem Oberkellner: Er ist ein berühmter Dichter aus Berlin, kann sieben Sprachen und schreibt jede Nacht im Bett ein halbes Heft voll Notizen von der Reise. Nun serviert ihm einen recht feinen Aal, das ist sein Liebstes. Und setzet das Konto etwas tief und achtet es nicht, wenn er die Finger am Bart abputzt. Das machen nun halt die deutschen Dichter. Auch essen sie im Regenmantel. Aber der Aal kommt ins Buch, und euer Hotel und das billige Konto. In sieben Sprachen und siebentausend Büchern schwimmt dann euer Aal durch die Welt, bis nach China und Kanada, denkt!‹

Im Bären ... ach, was sag’ ich, im Ochsen, nein, nein, ganz anders hiess das Haus, da kannten sie mich, und glaubten mir aufs Wort. Hatt’ ich ihnen doch schon grosse und sonderbare Reisende gebracht.

Nun war es ja schon Oktober, wo die Aale hier oben fast nicht mehr aufzutreiben sind. Aber welche hat et doch immer im Reservoir, wie sie dort sagen, gar für einen Dichter von sieben Sprachen.

Nach langem Warten bekommen wir endlich den Aal. Wisset, der hat ein zähes Leben. Oft springt er noch halb gebraten aus der Pfanne. Den Kopf haut man nicht gerne ab. Aber wenn alles nichts hilft, muss man das Tier ohne Kopf servieren, sonst zappelt es noch als arme Seele an der Gabel.«

Ein Polterndes Gelächter.

»Und dem unsrigen war richtig der Kopf auch abgeschnitten. Aber der Kellner fragte vor dem Auftischen, ob wir ihn mithaben wollen, er sei sehr niedlich, nur von den Messerstössen etwas zerfetzt und die Augen ausgequetscht. Aber wenn der grosse Dichter wolle ...

Nein, nein, den Kopf esse er doch nicht. Er habe selber genug Kopf. Nur mal her mit dem kopflosen Aal.

Und ich sag’ euch, das war ein Frass. Fett, mild, voll Saft, etwas zwischen Forelle und Fröschenbein. Und die sauren Kartoffeln dazu und die Brühe mit Zitrone und zinkgelber Wein! Wir assen und tranken und redeten nicht mehr und öffneten die untern Westenknöpfe. Aber endlich ging nichts mehr hinein. Als darum gerade niemand im Saale stand, nahm der Dichter eine Zeitung und wickelte den Schwanz hinein. Das Päcklein schob er in den Regenmantel.

Die Rechnung war zahm. Wir fuhren weiter. Der Schmaus hat uns noch lange wohlgetan.

Aber jetzt passet auf! Nach und nach wollte man im Hotel nicht mehr recht an den Dichter und an die sieben Sprachen glauben. ›Wann erscheint denn das Buch?‹ fragten sie, wenn ich mit meinen Herschaffen vorfuhr. ›Oh, jetzt halb,‹ sagte ich, ›zuerst auf russisch, da können wir’s noch nicht lesen, was ihr uns für einen Edelaal serviert habt.‹

›Jetzt ist es schon auf spanisch gedruckt,‹ vertröstete ich ein andermal. Was heisst wohl der Aal auf spanisch?

Sie lachten auf eine Art, die Schläulinge im Schwalbenschwanz, die mir nicht recht behagte. So viel war mir klar, sie glaubten kein Wort mehr. Aber böse waren sie nicht. ’s ist eben ein närrisch Volk, was willst. Da steckt eine Falle verborgen, sachte ich und passte bei jedem Suppenteller auf wie ein Häftlimacher. Seid ihr Füchse, so bin ich ein Meisterfuchs.

Und einmal, als ich nachmittags unter den Angestellten hockte, indem mein Herr sein Mittagsschläfchen hielt, da sagten die Kellner: ›Wir wollen dir was Seltenes zeigen.‹

Jetzt kommt’s, Meirad, sei auf der Hut!

›Was ist’s denn?‹

›Ein Aal!‹

›Ein Aal!‹ ruf’ ich, und gleich kommt der alte Appetit. ›Und schon gebraten? Bekomme ich davon?‹

Das ist nicht geheuer, denk’ ich. Aber nur zu! Der Meirad ist noch hell. Und der Ober winkt zur Küche, und alle grinsen mich an, während der Spüljunge einen Wasserkübel hereinträgt und den Deckel abnimmt. Der Ober sagt: ›Da guck’ deinen Aal an! so einen hast gegessen. Das ist nun ein Aal auf Narrendeutsch.‹

Ich versteh’ ihn nicht recht, starre ins Wasser, sehe lange nichts ... oh, Herrgott ... da liegt etwas auf dem Boden, krümmt sich langsam herauf, ein dicker Wurm, eine Seeschlange, nur am Bauch etwas heller, so wie die Kröten, und streckt den Kopf zum Schnaufen übers Wasser, äch, Teufel, scht! ...«

Wir Buben schreien auf, die Alten ziehen den Brustschlitz ihres Überhemds zusammen. Alle schaudert es. Der Meirad hat einen Wurm gegessen!

»Ich schau’ und schau’ das wüste Tier an. Es ringelt sich zusammen. Mir dreht sich der Magen um.

›Wir hatten damals keine Aale, hörte ich den Kellner sagen. ›Wollt ihr uns grob anschwindeln, so schwindeln wir euch noch gröber an. Den Aal in sieben Sprachen, ha, den wollen wir euch einbrocken.‹

Pfui Teufel, wie sie alle lachten!

’seeottern gibt es immer, ohne Kopf, gehäutet, sieht das für Euersgleichen exakt wie Aal aus. Der Sohn vom Haus, der Student, hat solche im Aquarium. Er macht Experimente mit ihnen. Der gab uns eine her, die fast am Verrecken war. Und ihr habt sie gefressen, bravo, ihr genarrten Narren, und habt noch den Schlangenschwanz in die Tasche gesteckt!«

Wir Zuhörer spuckten aus und strichen die Zunge ab, als hätten wir etwas Greuliches in den Mund bekommen.

Aber der Haldenmeirad, ganz in die Aufregung des Erlebten gerissen, fährt fort: «Das sagt der Halunke, während es mir vor Ekel den Schlund aufreisst und mich fast erwürgt. Und dann muss ich mich erbrechen, bei leerem Magen, vor dem Essen ... so etwas habt ihr noch nie gesehen. Zunge, Magen, alles Gedärm sollte heraus. Mir war, die Schlange lebe in meinem Leib und kriech’ mir zur Kehle heraus und strecke den Grind heraus, den dreieckigen ... Blut hab’ ich erbrochen, Leberfetzen, weiss ich was. Mir war’s zum Sterben. Und am End’ hab’ ich wie du, Chlaus, die Sinne verloren und bin wie ein gestochenes Kalb zu Boden gefallen.«

Mir Knaben rieselte es kalt über den Rücken, ich zog den Kragen herauf. Aber schon stand der glatte Johann schmaläugig, farblos und die Lippen nagend wieder mit einem vollen Becher da. Der Haldenmeirad trank eine Weile, setzte ab und sagte mit komischer Hilflosigkeit: «Und so was, wo der Blitz schon ein halbes Jahr vorüber war! Da fällt man erst um!«

Das erlöste. Ein Lachen brach los, dass die Hosen krachten und was darinnen sass. Nur der Nazi, der verunglückte Schwinger, blieb stumpf auf seinem Hock und äugte unruhig bald nach Johann, bald zum Gasthof empor. Was hat er? Ihm tut gewiss noch Arm und Bein weh. Ich strich ihm leise über die Achsel. Da gab er mir einen Puff, dass ich fast vom Mäuerchen fiel.

Aus den vielen kleinen Fenstern des Hirschen strömte das fröhliche Gebrumm der Gäste, der Dampf von Hasenbraten und Zwiebelsauce und das Auf- und Abrauschen einer vielgriffigen Handorgel.

Neben mir sass Johann schon ein Weilchen, und ich sah, wie er auf eine sonderbare Art durch Gesten und Grimassen mit dem Nazi verkehrte. Er zappelte und hastete munter, und eine köstliche Wärme ging von ihm zu mir über, der ich beinahe fröstelte. Aber der Knecht Nazi verfinsterte sein Gesicht zusehends.

Jetzt trat der breite Hirschenwirt auf die Laube und rief kurz und hart: «Johann!«

Aber der Knabe kehrte sich nicht daran. Erst als der Knecht nun halblaut rief: «Also, du weisst!« ... da sprang er vom Mäuerchen, nickte und schoss wie ein Wiesel ins Haus.

«Der macht Beine! Gibt’s Leckerli auf den Hintern?« hänselten sie ihm nach.

«Und dein Schwager, was sagte er dazu? Meirad, he!«

«Der Kamerad,« erwiderte Meirad rasch und mit einem tückischen Blick, «ja, dem hätt’ ich’s gönnen mögen. Der hat ja so grossartig den Aal befohlen.«

«Und den hast ruhig verdauen lassen?« neckte man.

Misstrauisch blickte Meirad von unten herauf in unsere Gesichter. Ein wüster Zug spielte um seinen Mund.

«Dem hätt’ ich’s eingetränkt!«

«Seinetwegen bist ja halb verreckt.«

Der Haldenmeirad trank das Glas hastig aus und eine Art Wut überkam ihn: «Mich hat’s schier geputzt, ja. Aber ihn, den Schwandenkarli, könnt’ ...«

«Aha, der Schwandenkarli, der!« schrie man. «Jetzt hast dich verschnappt.«

»Oder Karlisepp oder Karlimichel ... ’s war gar kein Karli. Und wär’ er siebenmal Karli und Karli Borrome,« stiess er böse heraus, als ginge es gegen uns, «und Karli du da und Karli du dort, was soll ich den Magen zerreissen und ihr streichelt den Bauch? Nein, nein, der Besagte soll auch merken, was Aal auf Schweizerdeutsch heisst. Donnerwetter, den übernimmt es noch ganz anders, gebt acht!«

»Recht hast, Meirad, ganz recht. So was schenkt man doch nicht. Hat er den Braten gehabt, so soll er auch das Bauchweh haben.«

»Das soll er! Und ich dacht’ es ihm recht saftig zu erzählen«, spann Meirad fort, mit versteckten, kleinlichen Tücken in den Augen. »Das lupft ihn vielleicht schon. Aber nein, er muss eine Schlange sehen wie ich. So hat’s erst den rechten Spitz. Aber wo nehme ich eine Otter?«

Ganz nahe stand ich herzu und sog seine Worte. Oh, wie ungut sah er jetzt aus! Das glaub’ ich, der hätte seinen eigenen Bruder nicht geschont, und wenn er darob zugrunde gegangen wäre. Aber mir war, der Unheimliche habe es jetzt mit seinem Schwatz weniger auf den Schwandenkarli – das lag hinter ihm, da war nichts mehr zu verderben –, sondern auf uns abgesehen. Uns wolle er einen Streich spielen. So schadenfroh, wie es jetzt aus seinem verkrempelten Gesicht ab und zu blitzte. Oh, ein Kind sieht tief!

Und wahrhaft, der Baptist vom Engel, Johanns Rivale, tupfte mich und sagte: »Trau’ dem nicht, der hält uns alle zum Narren.«

Nebenan sass der Nazi Imfeld, der dunkelbrütende, unheimlich wie ein schweres Gewölke. Auch von daher drohte Gefahr. Wenn nur der lose Johann zurückkäme, dieser meisterlose Bursche, der nichts fürchtet auf Himmel und Erde!

»Sagt, wo nehm’ ich den Wurm?«

»Wir hätten dir schon einen gebracht«, rief ihm da sehr zur Unzeit ein Unterdörfler zu. »’s gibt deren genug ums Galgenbächli.«

»Weg!« rief der Meired, »weg! ich kann keine mehr anrühren. Aber ich weiss was, das zieht anders.«

Wie der Plauderer uns reizte. Man rutschte so nahe als möglich.

»In Luzern haben sie einen Saal mit ausgestopften Tieren, Marder, Wolf, sogar einen Luchs und allerhand Vögel, dann Krebse und Schlangen im Spiritus. Wenn wir uns dort zur Lichtmess am Markt treffen, da richt’ ich’s.

Höllisch sah der Erzähler aus. Hass und Schabernack gloste aus seinen Augen. Sapperlot, dacht’ ich, dem ist’s missglückt!

»Oh, der Vetter soll eine Schlange bekommen, dass es ihm die Gedärme verknüllt, so eine gefleckte, gelbe am Bauch, giftige. Jetzt passt mir auf, es gibt einen Mordsklapf.«

Nein, jetzt wusst’ ich’s ganz genau, der hänselt uns, ’s gibt keinen Klapf.

»Wir hocken selbigen Tags in den Pfistern an der Reuss. Und ich sag›: Kar ... du Alter, kommst mit? Ich geh’ die Tier’ anschauen. Es soll ein Gorilla in der Sammlung sein.‹

›Ist’s weit?‹ fragt er faul übers Bier. Ihn reut jeder Schritt vom Glas.

›Hundert Schritt.‹

Er bedenkt sich.

›Bleib nur, in einer halben Stunde bin ich wieder da und erzähl’ dir, wie der Riesenaffe aussieht.‹

›Nein‹, da steht er auf. ’s ist ein Gratistag. Wir sehen das Zebra und den Tiger und den Lämmergeier. Und jedesmal macht der Kamerad: ›Famos! Ganz wie damals beim Aalbraten.‹

Jetzt geh’ ich zu den Fischen und Fröschen. Dann kommen hohe Gläser mit Schlangen im Sprit.

Wir rücken von einer zur andern. Kscht! Was für greuliche Tiere. Mir geht es ans Schlucken und Würgen. Aber ich überwinde mich. Und bei jedem wüsten Tier – Reptil sagen sie dem – denk’ ich: dieses da! ... Nein, ’s kommt gewiss noch ein wüsteres. Der Kerl aber hat eine Mordsfreud’ an allem, tupft an die Gläser und sagt immer: ›Famos!‹ und: ›das ist schöner als jedes Bilderbuch.‹

Wart’ nur, ich will dir für das Bilderbuch!

Und da gibt es nun einen schwarzen, viermal um ein Stecklein geringelten Wurm, am Bauch giftig grün, und er zückt die Zunge aus dem Rachen, wisset, eine gespaltene Zunge, ziegelrot, und zeigt die zwei Giftzähne. Alles im Spiritus. Am Boden ist Schlamm. Mir ward fast übel.

›so-o-o!‹ sag’ ich jetzt langsam, ... ›passet auf, Leute, jetzt erlebt ihr einen Erzspektakel ... so, Schwager, schau’ das gut an und halt den Bauch fest!‹

›Warum?‹ fragt er gemütlich. ›sag’ mal, darf man da nicht einmal eine Zigarre anzünden?‹

›Ich zünd’ dir jetzt eine an!‹ – Aber passet mir auf, Leute, ’s gibt eine Leiche!« –

Und unter atemloser Spannung der Zuhörer, mit einem verbrecherischen Vorgenuss unserer heillosen Enttäuschung, fährt er hurtig fort:

›Weisst du noch, wie wir vor einem Jahr im selbigen Gasthof, am selbigen See, bei selbiger Kutschenfahrt einen Aal zu Mittag assen. Da hast den Aal, so ein Gewürm hast gefressen.‹

Und jetzt«, hastet der Haldenmeirad gierig vorwärts, »meint ihr wohl, der Bursche sei kreidebleich geworden und mir wie ein Holz in den Arm gefallen. Da, das meint ihr, darauf habt ihr gewartet wie Hühner aufs Korn und den Hintern vor Eifer gerieben. Das hätt’ euch gefreut. O ihr Narren! ... Der Mensch guckt die Schlange etwas näher an und sagt in aller Biergemütlichkeit:

›Und wenn auch!‹

›Eine Schlange, denk’!‹

›Es war doch verdammt gut.‹

›Aber eine solche Bestie ...‹

›In Gottes Namen, das ist doch längst verschwitzt. Ich nähm’ gerade wieder.‹«

Ein ungeheures Lachen, ein wahres Gewitterlachen bricht los. Das war ja die feinste Überraschung. Also nicht umgefallen, nein, der Kerl schnalzt mit der Zunge, er will wieder. Das Koldern und Holdern überschüttet den Meirad wie ein Platzregen. »Bravo,« schreien wir, »das ist ein ganzer Kerl.« Keine Spur von Enttäuschung. Im Nu war Meirads dumme Schadenfreude Stübis und Rübis getötet. Ihn schauen jetzt alle voll Humor an. Er ist der Genarrte, der Abgetrumpfte. Recht geschieht einem solchen verdrückten, sauren Eigenbrötler. Zu schlecht wollt’ er es angattigen. Da ist ihm die ganze Schlauheit wie eine Seifenblase verspritzt, gerade wo sie sich am schönsten aufblähte. Wir lachen ihm geradewegs ins Gesicht.

»Ja, was lacht ihr jetzt?« murrte er. »Hat der andere nicht so gut wie ich solch Teufelsvieh gegessen? Was hat er denn mehr als ich?«

»Einen guten Magen!« schrie der witzige Joseph Müller. Ein neuer Sprudel von Lachen. Es rauscht wie aus hundert Brunnenröhren.

Als die grösste Lustigkeit verplätschert war, sagte plötzlich einer, der bisher unspassig geschwiegen und nach der Buchspyramide an der Gartenecke wie eine Katze geäugt hatte, mit erzwungener, schreckhafter Ruhe: »Und wollt ihr noch etwas hören, da habt ihr’s! Auch mit der Schlange ist’s ein Schwindel. Einen wirklichen Aal hast gefressen und nichts anderes, Meirad. Ich war doch damals, im August 1877, Rossknecht im Bären am Brienzer See. Hans Wildi hiess der Koch und Albert Schneiter der Oberkellner. Er sitzt jetzt im Adler zu Interlaken. Den könnt ihr fragen. Noch lange hat man im ganzen Brienz gelacht, wie du armer Tropf zweimal genarrt worden bist in einem einzigen Schwung.«

Totenstille. Diese Überraschung schlägt alles Vorherige tot. Wir glotzen nicht übel den Knecht an und lassen die Mäuler hängen. Der Meirad scheint zu platzen.

»Aber du,« murrt der unheimliche Knecht, »du bist so ein Heimlifeiss (ein versteckter Egoist), so ein Unvertrauter, ein Giftiger, missgönnst einem alles, hast mir damals immer das Trinkgeld abgeknipst, hast mich heut’ noch angegrinst, als ich auf dem Rücken lag, und hättest am liebsten auch noch den andern auf dem Rücken gesehen. So einer! Da liess ich dir halt den Wurm im Bauch, wennschon die vom Bären mir auftrugen, dir gelegentlich zu sagen, dass sie keine Ottern kochen, dass man die überhaupt nicht geniessen kann und dass du einen echten, rechten Seeaal gegessen hast. Aber ein Weilchen liessen auch sie dich gerne in der Angst. Der Glaube macht ja selig ... und der Appetit ...«

Genug, genug, jetzt ging’s zum zweiten Mal los. Nichts ist zu vergleichen mit diesem Riesenspass. Man wieherte und johlte förmlich vor Lachen, überschlug sich mit der Stimme, die Augen verschwammen, einige mussten aufspringen und den Boden stampfen, sonst hätten sie den Lachkrampf nicht gemeistert. Der kleine, verhutzelte Meirad sprang gegen den Schwinger los. Man hatte ihm alles genommen, das Recht zu schimpfen und das Recht zu jubeln, es ging ihm ans Leben. Aber der Imfeld nachte eine einzige Bewegung mit dem nackten braunen Arm, und verdutzt sass der Angreifer wieder auf seinem warmen Platz, wortlos, noch um einige Zoll kleiner, völlig vernichtet. Nur aus seinen Augenschlitzen glomm grau und grün noch etwas, was nicht getötet werden konnte: die Bosheit.

Den Knecht Nazi sah man jetzt mit einem wohlwollenden Respekt an. Seine Niederlage vor ein paar Stunden war vergessen. Sapperment, zehn Jahre hat er mit dem famosen Geheimnis gewartet. Der kann schweigen. Und wie hat er’s im besten Moment und wie flott gesagt, ein Teufelskerl. Schade um ihn, dass er so ein ... ein ... ach was, wer weiss etwas Sicheres. Schwamm darüber!

Aber jetzt macht der Nazi eine ungeheure Handbewegung ins Dunkel hinaus. Sieh, sieh, vom Taxusschatten löst sich eine zierliche Gestalt. Dort stand der Johann. er tänzelte daher, zwei Banknoten zwischen Daumen und Zeigefinger schwenkend und sie uns prahlend vors Gesicht haltend. »Zweihundert Franken«, erklärt er und gelangt an der Männerreihe entlang zum Eckstein, wo der Nazi wartet. Er legt sie ihm mit einem Klatsch der Hand aufs rechte und linke Knie. »Bist jetzt zufrieden, Nazi? Hast deine Sach’?«

»Vielleicht«, presst der Knecht aus den Zähnen.

»So gib jetzt die Pistole«, begehrt Johann viel leiser.

Nazi greift unter das Hirtenhemd und reicht ihm unter Knurren und Brummen die alte, plumpe Waffe.

Einige Männer fragen mit den Augen: warum? Aber die meisten blinzeln sich zweiflerisch an.

»Zweihundert Franken,« frägt Baptist, »so teuer?«

Man lachte vielsagend. »Ja, so teuer!« kerbte der Knecht hervor, »und gar nicht zu teuer für euch«, maulte er den Johann an.

»Ist sie geladen?« möchte dieser wissen.

»Ja, vielleicht vom Stammvater Adam.«

Alles lachte.

»Solche Patronen gibt’s doch keine mehr«, fuhr Nazi ruhiger fort. Er hatte das Geld ins Westenfutter gesteckt, und das machte ihn etwas aufgeräumter.

Die Pistole ging im Halbdunkel von Hand zu Hand, ein altes, eingerostetes, komisches Schiesszeug, mit einem Verschluss, den niemand losmachen konnte und von dem man nicht erkannte, ob er jetzt offen oder geschlossen sei. Aber die Holzverkleidung war eine alte, gediegene Arbeit aus bestem Material, und an der Stutzplatte war das Kehrer-Wappen deutlich eingraviert.

Johann warf die Waffe in die Höhe, dieser, jener, auch ich, wir fingen sie auf und schleuderten sie zurück, hin und her. Es war nicht leicht, aber um so aufreizender, durch Nachtschatten und karges Laternenlicht so zu spielen. Grollend folgte Nazi jedem Wurfe.

»Hört doch auf!« rief jemand.

»Nein, werft das alte Eisen in den Bach«, riet der Knecht. »Das ist das Gescheiteste für dich und mich und andere Narren!« Damit sprang er von der Mauer und ging mit etlichen andern über die Strasse zum Engel hinüber. Jetzt war seine Stunde gekommen, auf den Wirtstisch zu schlagen, zu trinken und für ein halbes Dutzend Kameraden zu bezahlen.


»Komm jetzt!« flüsterte Johannes mir verlockend zu. Seine Augen lachten trunken wie dunkler Wein. Wahrhaft, ich weiss nicht wieso, ob vom alkoholischen Dunst dieses Abends, von den krassen Histörchen, von der Musik oben in den Gaststuben oder vom Zauber meines Freundes-Feindes angesteckt, jedenfalls schwoll mir der Kopf von Abenteuerlust, und ich wäre in diesem Augenblick dem funkeläugigen Kerl bis ans Höllentor gefolgt.

Wir huschten durch Gänge, kleine Stiegen auf und nieder, an trüben Blechlampen vorbei, und immer machte Johann »Pst!«, und immer staunte ich, wie er lautlos in seinen ebenso groben Schuhen über den unebenen Boden eilte, während ich beständig Lärm machte. Irgendwo zog Johann im Vorbeigehen hinter einem Brett eine halbvolle Flasche Wein hervor, und so gelangten wir in einen Raum, wo Säcke und Kisten an den Wänden lehnten, halb Schuppen, halb Keller, ohne Fenster, mit einem verriegelten Flügeltor gegen die Wiesen hinaus. Wir befanden uns am Ende der Gebäulichkeiten, auf der Hinterseite, an einem verlorenen Platz, wo und kein Mensch hören konnte.

Johann legte Flasche und Pistole auf den Boden und wischte ein paarmal mit den flachen Händen an den Hosenbeinen hinunter. So tat er vor jeder Unternehmung. O wie deutlich seh’ ich’s noch.

»Und jetzt?« fragte ich bange. Alle Grillen waren verflogen. »Ich muss heim.«

»Jetzt,« lachte Johann, »jetzt machen wir den Aufsatz. Da ist Papier und Bleistift.« Er zog wahrhaft ein Sudelheft heraus und einen gut gespitzten Faber.

»Den Stoff haben wir jetzt«, kommandierte Johann. »Der eine diktiert, der andere schreibt. Du diktierst.«

»Oder du«, versteifte ich mich.

»Dann müssen wir hosenlüpfeln«, entschied Johann. »Wer auf den Rücken kommt, diktiert.«

Er schleifte einen breiten Sack Streue her und packte mich an den Hosentaschen.

»Ich will nicht. Ich muss heim.«

Aber Johann knurrte vor Spass und begann mich schwingermässig anzugreifen. Da musste ich wohl. Die Angst gab mir Kraft. Ich musste heim. »Wie spät hast du?« fragte ich im Ringen. »Ist’s schon neun?« keuchte ich und suchte aus dem Bein zu kommen, das er mir um den Schenkel gehakt hatte.

»Bist nicht schlau«, höhnte er und bog mir mit dem rechten Ellbogen den Kopf immer tiefer vornüber. Ich dampfte vor Schweiss. er blieb kühl, bleich und atmete kaum hörbar.

»Lass los, ich ersticke!«

»Hihihi!«

Ein Ruck schräg ums Knie, ein Stoss aufs Brustbein, ich taumelte und fiel auf den Sack. Im Nu lag ich fromm auf dem Rücken und Johannes über mir.

»So!« sagte er mit einem tiefen, zufriedenen Kehlton und setzte sich auf mir zurecht. Ich war völlig zunichte.

Plötzlich sprang er wieder ab. »Bleib so!« herrschte er mich an. »Ehrenwort! sonst ...«

Oh, ich blieb schon, ich war zu müd’, um auch nur ein Glied zu bewegen.

Ruhig holte Johann Flasche, Pistole, Schreibzeug, und setzte sich wieder gemächlich auf mich. Ich muss hier beifügen, dass dieses Unterjochen des Besiegten unter den Sieger ein durchaus üblicher, ehrenhaft gebilligter Brauch des Triumphes bei uns Schulbuben war.

»Lass mich heim!« versuchte ich noch einmal.

»Jetzt wollen wir zuerst essen. Aber du schwitzest ja wie eine Sau.« – Er zog sein unsauberes Nastuch hervor und wischte mir das Gesicht ab. Keiner fühlte Ekel. So sind wir.

Dann sackte er Käse und Brot hervor, brach davon und bot auch mir. Ich schüttelte eigensinnig den Kopf.

»Dann lass!«

Das war ein Zuschauen, wie er die weisse Semmel zwischen den langen Zähnen abbiss, dazu aus der Flasche trank, dass es nur so gurgelte, und mir den buttergelben Spalenkäse jedesmal, bevor er den Schnitz in den Mund steckte, vor die Nase hielt, diesen Käse, woran sich ein römischer Kaiser in den hiesigen Pässen soll zu Tode gegessen haben. Und diese Herren bekämen doch Pfauenzungen und Rebhuhn und Milkepasteten.

Nein, wie dieser kleine, schmale Kaiser hier ass und trank und mir guten Appetit zuschrie und den Atem ins Gesicht blies und immer härter auf mir lastete. Als er mir nochmals eine Schnitte Käse vor die Nase hielt, hielt ich’s nicht mehr aus, schnappte zu und biss einen Brocken ab.

Nun bekam ich auch Brot und durfte mich halb aufstützen, um aus der Flasche zu trinken, und dachte im Zurücksinken, dass Johann eigentlich ein Teufel sei, aber doch von erträglicher Art. Jedoch, als er nun das Essen abbrach und gebot: »Fang jetzt an!« da ward ich wieder ganz verhärtet und antwortete: »Nie!«

Er nahm die Pistole.

»Damit ist schon einmal einer bei einem Haar erschossen worden«, drohte Johann böse. »Hier im Haus. Verstehst?«

Etwa der Knecht? dachte ich. Oder der Hirschenwirt selbst, Johannes’ Vater, wenn er aus dem Häuschen geriet? Und ich dachte an die stille geheimnisvolle Wut des Nazi gegen Johann und an die Banknoten.

»Nein, ich verstehe nicht.«

»’s geht auch niemand was an. Aber das verstehst! Ich schiess auf drei.« Und er hob den Hahn und legte mir den Lauf vors Auge.

»’s ist ja nicht geladen«, spottete ich, diesmal ohne Bangen. »Hol’ erst Patronen beim Stammvater.«

Wir lachten beide hellauf.

Johann nahm einen Bissen Brot und Käse und sagte im Kauen halb spassig, halb drohend:

»Eins ...«

Ich zappelte nun doch ein wenig. er stemmte sich fester auf den lebendigen Sattel und setzte die Knie in meine Ellbogenhöhlen: »Zwei ...«

»Hör’ auf!«

»So fang’ an!«

» Nein!« Ich schloss die Augen.

»D ... r ... ei!«

Der Hahn klappte mit eisernem Klang vor meinem rechten Augapfel zu. Ich schaute auf und lachte. Alles war wie zuvor. Johann sass schwer auf mir und schmiss die Pistole an die Mauer, dass es knirschte im Eisen.

»Zum letzten Mal, fang an!« Er klob mich rechts und links in die Seite, rückte mir langsam auf die Brust, packte mich am Hals, und seine schmalen schwarzen Augen bekamen etwas Wirres und Irres, wie von einem Betrunkenen. Das Tier erwachte in ihm.

Ich schrie wild auf, durchdringend, so laut ich konnte.

»Ich spucke dir ins Maul, wenn du nicht still bist! Pass’ auf!« drohte er heiser und geiferte aus den langen Zähnen. »Und ich drehe dir den Arm aus, wenn ... Was hast du heute Mittag von mir gesagt? He? Ich saufe wie ein Kalb ... Das dafür! ... und das! ... und das!« – Jedesmal versetzte er mir unter leisem Knurren einen Box. Dabei verzerrte sich sein ebenes, blasses Gesicht immer mehr, wurde hässlich, die Augen bekamen einen stieren Glanz, Geifer quoll aus den Mundwinkeln, mir war, ich sei in der Gewalt eines Verrückten. Ein nie verspürter Schrecken fuhr mir durch den Leib.

»So schreib, schreib doch!« rief ich. »Ich diktiere ja. Ich weiss noch alles.« Und ich begann. Die Aufregung gab mir die Worte wie von selbst.

»Langsamer, ich komme nicht nach,« befahl er, und siehe, sogleich fiel alles Grauenerregende von ihm, und seine Stimme war wieder süss und leise wie ein Zuckerfaden.

Gewiss, es waren nur die Schattenrisse vom Donner, Stier und Aal. Die Feder der Buben hat das Genie der Kürze. Mit ein paar Sätzen gibt sie die längsten Geschichten. Sie kennt nur Tatsachen, keine Betrachtungen. Und während solchen Diktierens wurde ich froher und Johann zahmer.

Nur das Atmen und Sprechen in dieser heillosen Lage wurde mir immer mühsamer.

»Lass mich jetzt aufsitzen«, bat ich.

»Nichts da, unterm Sattel bleibst.«

»So sag’ wenigstens, wie spät es ist.«

Johann zog die silberne Uhr aus der Weste, sah aufs Zifferblatt und schob sie wieder ein.

»Ist’s schon neune?«

»Diktiere!«

Manchmal rief der Tyrann: bravo, das sagst fein! Manchmal: nein, nicht so! oder: ein wilderes Wort! Dazwischen trank er die Flasche fertig. Aber plötzlich sprang er ab. »So, das ist genug!« Er griff in die Tasche. »Was willst jetzt, mein Messer? Drei Schneiden ... Säge! ... oder willst ...«

»Nichts will ich, nein, nein! Aber ein Schlusssatz muss doch sein. Hilf mir auf!«

Wahrhaft, ich war wie gerädert, jeder Knochen tat mir weh. Aber ich schrieb doch noch den Satz hin: Da gäbe es noch vieles zu erzählen, aber wer kann alles schreiben, was man von unsern Alten hört?

»Bravo, so flappt es fein. Du ... schau ... nimm die Uhr da!«

Wahrhaft, er streckte sie mir hin, es war ihm ernst.

»Du hast einen Rausch«, sagte ich und war von diesem kleinen, funkelnden, herzklopfenden Ding selbst wie berauscht ... »Was würde dein Vater sagen!«

»Jaso, der Vater«, machte er mit lahmem Tone. »Sonst, beim Eid, gerade so gäbe ich sie dir.«

Das hätte er getan, so ist er. Freilich, übermorgen hätte er sie mir wieder abgekloben.

»Aber nimm sie doch! Kannst sie drei Tage behalten. Jedesmal am Morgen mit dem Schlüsselchen aufziehen. Da!«

Ich reckte die Hand, ich zauderte, liess sie wieder fallen. »Meine Mutter, Johann, nein ...«

»Jaso, weisst du was! Sie kommt morgen auf die Stör. Da frag’ ich sie.«

»Frag’ lieber nicht! Aber wie spät ist es denn. Zehn Minuten vor neun. Ist’s möglich? Ich meinte, die halbe Nacht sei vorbei: Also ja, Mutter kommt um halb acht Uhr, das Tuch sei schon geschnitten. Schöne Hemden für dich«, sagte ich und war nun fast stolz darauf, dass meine Mutter für diesen Prinzen nähen durfte.

»Zwölf weisse Hemden brauch’ ich. Sie wollen mich ja fort tun, in eine Anstalt.«

»Oje«, wehrte ich bedauernd ab.

»Oh, wenn’s mir zu bunt wird, halihopp!« Er machte einen Bogen mit dem Arm, so wie einer über eine Mauer fortspringt. Sein ganzer Körper federte von Spitzbubenhaftigkeit.

»Ja, mach’ das nur!«

Er bog die Knie wundersam. »Jetzt heisst es,« lispelte er, »wie Indianer da herausschleichen. Wir tun das Gatter auf und schlüpfen durchs Gras zur Strasse hinunter.«

Aber das Gatter im Tor liess sich mit keiner Kraft noch List heben. Und noch weniger war das Tor selbst aus den Querpflöcken und Riegeln loszurammen.

Johann nagte sich die Lippen blutig und sah mich wütend an. Dann hob er die Pistole vom Boden und zischte: »Dann einen andern Schleichweg! Komm!«

er lief zur Gangtüre. Unbewusst fingerte er am Pistolenlauf herum, spannte den Hahn, blickte zurück, sah die Flasche neben der Stallaterne, schloss ein Auge und rief: »Verdammt, dass wir keine Patr ...«

Krackarakack ... rrackack!

Ein ungeheurer Krach donnerte durch die Wölbung. Wie eine Rakete spritzte die Flasche in hundert Splittern auseinander. Ein scheusslicher Geruch umdampfte uns.

Wie wir in dieser Sekunde dastanden und uns betäubt und blöd anstarrten, ich weiss es nicht mehr. Aber wie ich dann sofort bis ins Haar hinauf fror und wie ich doch nicht schreien konnte, sondern zuletzt nur die Hand ans Auge legte, an das wunderbar gerettete Auge, und dann auf die Scherben zeigte und stotterte: »Die ... da ... die Flasche ... oh«, das weiss ich noch sehr gut.

»Jesses, Jesses, o Jesses Gott«, brach es endlich aus Johann heraus. Er war wie gefroren, seine Lippen ganz weiss.

Kein Wort fiel mehr. Wir stiegen durch einen Wirrwarr von Treppchen, Kellern und Gänglein zum hintern Garten hinaus, ob durch ein Fenster oder eine Pforte, ich weiss es nicht mehr. Der Himmel blitzte in einer unendlichen Sternengeschwätzigkeit über uns armseligen Tröpfen. Wir versteckten uns davor im Gesträuch. Endlich strich Johann über das Rohr und sagte: »Der Lauf ist noch ganz warm.«

Damit war die Zunge gelöst. Wir jammerten und jubelten übereinander und grübelten, ob der Nazi das gewusst habe, ob er leidwerken wollte. »Gott, nein, das nicht«, schwor Johann, »ein Mörder ist er nicht. Aber warum ging’s denn nicht eher los? Vielleicht erst durchs Rütteln und Schütteln und an die Mauer Schmeissen kam’s ins Blei.«

Es war kein Sicherungsverschluss da. Was die Männer dafür ansahen, war nur ein seltsames Ornament. Sie verstanden ihr Mausergewehr, aber keine komplizierte alte Pistole.

»Ist die Pistole«, flüsterte ich, »früher wohl immer losgegangen? Johann, ist sie deinem Vater losgegangen? Hat er sie einmal abgedrückt? Etwa gegen den Nazi? Und der hat sie ihm entwunden und als böses Zeugnis mitgenommen. – Ach, sei es, wie es wolle, aber du lieber Gott, wenn’s getroffen hätt’, ins Auge, blind, tot, Polizei, Handschellen, Gitter, Beil ... Jesses, Jesses!«

Unser Stirnhaar war nass, mir schauderte.

Aber da flackerte schon wieder der alte Mutwille in Johann auf: »Du, Heiri! Vorhin haben wir den Aufsatz geschrieben vom Reiter über den Bodensee. Und jetzt ... jetzt ... haben wir noch die Illustration dazu gemacht, tät mein Vater sagen.« – Dieser Wirtshausjunge, wie geschliffen er redete!

»Jetzt weisst du, wie’s dem Bunzlichlaus war«, hänselte er.

»Und du, wie’s dem Haldenmeirad war.«

Da brachen wir in ein plötzliches, volles, warmes Lachen aus, in ein Lachen des wiedergewonnenen Lebens, knufften uns freundschaftlich in die Seiten, rieben die Nasenspitzen aneinander und fühlten uns, Arm in Arm, beinahe wie Brüder. etwas Gewaltiges hatte uns zusammengekittet, wir konnten fast nicht auseinander ...

Am Montag legten wir unsere Aufsätze aufs Lehrerpult, wir alle. Nur Johann gab keinen. Er war zu faul gewesen, ihn abzuschreiben. Den Sudel habe er wohl, aber ...

»Zeig’ her!« gebot Lehrer Beat.

Johann zog das mir wohlbekannte Papier aus der Schulmappe. Der Lehrer las, rümpfte die Stirne und sagte zuletzt gnädig: »Kann passieren. Nach der Schule bleibst du hier und schreibst das ins Reine!«

Dann nahm der Lehrer die übrigen Hefte vor. »Was ist das?« fragte er nach dem vierten Heft und wischte ärgerlich die Brille. »Immer vom Donner, vom Stier und vom Aal. Habt ihr den Schund einander abgeschrieben?«

Den Schund! Oh, Lehrer Beat! Wir schüttelten ernsthaft unsere Haarschöpfe.

»Hat’s euch denn allen der heilige Geist so auf den Buchstaben genau angegeben? Zum Beispiel, dass ihr samt und sonders schreibt: Der Stier streckte die Beine wie Hölzer zum Himmel. So ein Unsinn! Beine wie Hölzer! Und natürlich Hölzer er mit s geschrieben. He, ihr!«

Wir nickten noch ernsthafter. »Jawohl, der gleiche Geist, gestern auf der Hirschenmauer.«

Jetzt wurde der Lehrer unruhig und langte nach dem Stecken.

Da streckte Johann Kehrer den Finger und rettete die Situation mit eigener Lebensgefahr. Oft war er ein Feigling, oft auch so eine Art Winkelried.

»Also?« fragte Beat.

Johann erhob sich, nage seine Lippen mit der Zunge und begann mit einer gewissen Tollheit: »Solches haben gestern die Mannsleut’ vor unserm Hause verzapft. Wir standen fast alle dabei und merkten es uns. Aber ich weiss noch etwas anderes, viel Grausigeres. Soll ich ...?«

Mir entfuhr ein leiser Schrei. Er wird doch nicht ...!

»Schiess los!«

»Justement ging’s nicht los, Herr Lehrer. Das war der Witz. Eine alte, kleine, rostige Oxfordpistole.«

Ich hustete zu Johann hinüber. Aber der fuhr verwegen fort:

»Altes Eisen, nicht geladen ... drum zum Spass dem ... dem ... dem liebsten Freund so, seht, so ins Aug’ gezielt.«

»Johann!« schrie ich.

»Furchthans«, zischelte der fette Fransioli mir zu.

»Hab’ ich euch nicht hundertmal gesagt,« predigte der Lehrer, »ihr sollet nie und nimmer eine Schiesswaffe untersuchungslos ...«

»Das ist ja nur eine Geschichte, Herr Lehrer, nur Aufsatz«, foppte der Spitzbub. »Und eben das wollt’ ich noch ins Heft schreiben ... dafür erzähl’ ich’s jetzt.«

»So mach’ fertig, hopp!«

»Also eins ... zwei ... drei ... abgedrückt!« rief Johann. Mir war, es krache diesmal wirklich und jage mir Blei in den Kopf. Ich musste das Auge mit der Hand schirmen.

»Natürlich,« fuhr Johann im flotten Wirtsstubenstil fort, »kein Knall, kein Rauch, keine Kugel ... und will’s Gott, war doch geladen.«

»Hör’ auf«, unterbrach Lehrer Beat böse. »Das ist alles Quatsch! Nicht geladen und doch geladen ... sitz ab!« Doch jetzt war der Bursche im Gang wie jene Pistole: »Und das zweite Mal, Herr Lehrer, ohne zu denken, nur so ins Blaue abgedrückt, o Jerem, o Jerem, blitzt und kracht es, und die Flasche in Scherben und der Freund greift ans Aug’ und weint vor nachhinkendem Schreck, weint und weint sich beim Eid die Augen aus und ist blind, als wär’ ihm die Kugel durch die Augen gefahren, faktisch durch beide Augen!«

»Komm, Bürschchen,« rief der Lehrer grimmig lächelnd, »ich will dir faktisch. Das fängt ja schon hübsch mit Narrenzeug am ersten Tage an! ...« Und er fuhr mit seinem Handballen über den neuen Haselstecken hinunter wie der Geiger über den Bogen, damit es heller klinge. – »Die rechte Hand! ... Die linke!«

Zwei Hiebe klatschten auf die schmalen, blanken Hände Johanns. Er zuckte zweimal und fuhr rasch mit der Rechten und Linken in die Hosensäcke. Denn wie alle Quäler war er selbst am empfindlichsten gegen die Qual. Auch ich war wehleidig. Aber diesmal hätte ich ihm gerne eine der zwei Tatzen abgenommen, faktisch!

Mit langweiliger, ach, so überdrüssig wohlbekannter Stimme gebot nun Lehrer Beat, das Buch zu öffnen und das Gedicht nochmals durchzunehmen. Er sehe, dass wir es noch immer nicht begriffen hätten.

Und die Langeweile, wie so oft, stieg uns gross wie der Bodensee bis ans Halszäpfchen und wir wären darin ertrunken, wenn wir nicht so junge, grobe, unverwüstliche Schlingen gewesen wären.


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