Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Schnee

Die Winter meiner Kindheit waren voll Schnee. Schon lange gibt es keinen solchen Winter mehr. Er hing in schweren weissen Lasten von den bergen herunter und schüttete den Wald, die Halde und das Seegelände zu. Der See war dann schmutziggrau wie ein toter Riesenfisch. Kaum sah man die Kamine auf den Dächern, die Kreuze auf dem Friedhof, die Hagstecken in den Matten noch hervorgucken. Nach fünf Uhr abends klingelte das Oberdorf von Kinderschlitten, die durchs Steinigässchen oder vom Obkilchenweg hinuntersausten. Die Brünigpost fuhr langsam, auf breiten Schlittenkufen, durch die Strassenmitte, wo ein Strässchen gepflügt war, und Kutscher und Postillion hatten einen Turm von Schnee auf Kapuze und Achseln. Sie klopften sich ab und stürzten in den Gasthof zum Engel, damit ihnen der flinke, lustige Sohn Josef einen heissen Grog reiche. Blauer Tauch dampfte morgens und nachmittags um die Vier über die Dächer in die graue Luft und erzählte von geheizten Kachelöfen und duftig gebrautem Kaffee. Wir Buben stülpten die gestrickten Wollmützen mit den beiden Augenschlitzen wie ein Visier zum Kinn herab, rannten zum Schilf hinunter, wo die Krähen um die Pappeln flogen, und prüften grossartig, ob der bleistille und bleistarre See an einzelnen seichten Stellen zu gefrieren beginne. Eine Ruhe herrschte überm Lande, dass man die Stundenschläge von der Sarnerkirche und das Peitschenknallen von Giswil her fast wie vom eigenen Dorfe hörte.

Zu Weihnachten, ja meist schon um den Samichlaustag herum trug unser Dorf eine mächtige Schneehaube, und man konnte die tiefen Stapfen sehen, die vom grossartigen Geschenkebischof, und die feinern, die vom Eselein mit dem Christkind rührten, als es in der stillen heiligen Nacht von Haus zu Haus zog und dann in der mitternächtlichen Kirche verschwand. Knietief, nein, bis an die Hüften, behauptete mein Freund Josef Rohrer, sei das fromme Tier jedenfalls eingesunken, als es von den Bergwäldern herunterkam.

Damals stritten sich Samichlaus und Christkind in der andächtigsten Form um das Dorf. Bisher hatte der »schleikende« (schenkende) Bischof die Oberhand besessen. Wochenlang hatten ihn die Buben auf dem Dorfhügel mit den Tricheln (Kuhschellen) abends eingeläutet. Oft kam er unsichtbar und warf seine Gaben mit Geisterhänden ins Haus. Oft aber zog er als stattlicher Bischof mit Pferd und Schlitten und dem bösen Chlaus durchs Dorf und klomm alle Häuserstiegen empor. Der böse Chlaus war unheimlich wie die Nacht mit seinem Sack und Stecken und seinem drohenden Gebrumme. Aber der Bischof mit Inful und Stab leuchtete wie ein süsser Sonntag über uns, segnete, öffnete Körbe von Glanz und Duft und ging lächelnd von hinnen. Wo er gestanden, sah ich noch lange einen goldenen Schimmer schweben.

Aber nun trat das Christkind mit ihm in Konkurrenz. Es hafte den Vorteil der schönsten Festtage, des Weihnachtsbaumes, der Krippe und der wunderbarsten Kindheitsgeschichte. Der bärtige Chlaus musste nach und nach vor seinem göttlichen Zauber zurücktreten. Indessen, in vielen hablichen Häusern liess man die Majestät des Bischofs und das bethlehemitische Kind in die Stube, und zweimal deckte sich der Tisch mit Geschenken.

Und immer hüllte reichlicher Schnee diese geliebten Tage in seine kühlen, sauberen, wohligen Arme. Ach, was waren das für herrliche Winter!

Wir Geschwister besassen leider nur einen Schlitten, und was für einen! Er fiel ganz aus dem Stil der hiesigen Schlitten, war zu niedrig, rotbemalt, aus solidem Eisen, aber plump und viel langsamer als die leichten hölzernen Sachslerschlitten. Es war eine Schmach mit diesem Unhold. Und so sah ich mich von der Grossmut meiner Kameraden abhängig, ob mich einer auf seinen Zweiplätzer nehmen wolle oder nicht. Natürlich konnte ich so nie selbst lenken. Ich musste vorn sitzen und mich gehorsam zurückducken, dass der hinten sitzende herrschende Knabe das Gefährt leiten konnte. Mit ihm musste ich das Schicksal teilen, einmal prachtvoll um die scharfe Kurve zu schiessen, einmal noch prächtiger an den Hag hinaus zu fliegen. Schon damals fing es an, dass ich nie regieren durfte, immer regiert wurde, wenigstens im groben, äusseren Schlittengang des Lebens.

Übrigens litt ich im Winter schwer an meinem Asthma und konnte nicht oft an diesen schlittelnden Vergnügen teilnehmen. Zum grössten Teil verliefen meine Wintermonate auf dem alten Sofa, am grossen, breitsimsigen Stubenfenster, das ins Dorf und an die Kernserberge sah. Da freilich schlittelten meine Gedanken über die steilsten Pfade hinunter und nahmen die schärfsten Kurven.

Aber wie liebte ich den Schnee, wie jubelte ich beim ersten grauen Geflock aus den Lüften herunter, diesem warmen Gebrodel, als würfen die Himmlischen die Brosamen von ihren überreichen Tischen. Und wie entzückte mich und entzückt mich noch heute im Alter der salzigherbe Geruch eines klaren, stillen, im Schnee starrenden Januartages!

Und wenn ich wieder lange krank lag und dann etwa ein Bub zu mir hereinkam und ans Bett trat, wie griff ich nach seinen Ärmeln, seiner Mütze und sog den wunderbar starken, erfrischenden Wintergeruch in meine Nase. Mir war, es dufte die ganze Luft und Kraft des Winters, die Tapferkeit des Lebens, Männlichkeit und ewige Gesundheit aus diesem Knabenkittel. Nie erlebte ich ein süsseres Aroma!


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