Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Die Namenlose

Eine Stunde vor der Dämmerung stieg ich an einem ohnehin düstern Januartag mit meinen Schlittschuhen zur stillsten Uferstelle hinunter, um ungestört und unverspottet das Eislaufen zu üben. Zu dieser Zeit pflegte niemand dort zu fahren. Schon gestern und vorgestern hatte ich probiert, aber beschämend kleine Fortschritte gemacht.

Es war neblig. Vom steif gefrorenen See sah man nur auf ein kleines Stück hinaus. In den dürren Weiden am Strand blieb der graue Rauch wie schmutzige Watte hängen. Selten pfiff ein Vogel. Kein Lüftchen huschte herum. Nirgends ein Geräusch. Der Nebel verschluckte jeden Klang. Er hatte auch das nahe Dorf mit Haut und Haar verschlungen. Eine endlose, legendenhafte Stille herrschte.

Wachsam ging ich durchs Schilf auf das offene Eis hinaus, setzte mich auf den Boden und schnallte die Lederriemen der Schlittschuhe um den Fuss. Es waren hölzerne Läufer wie damals alle unsere Knabenschlittschuhe, leicht wie Vogelschwingen, aber schwierig an die Schuhe zu schnallen.

Dann und wann schob sich ein träger Schatten durch den Dunst: Krähen. Aber auch sie hielten den Schnabel still und versanken wie Nebel im Nebel.

Neben mir gab es einen weissen, tellergrossen Fleck im grauen Eis. Ich kannte das und war froh, ein paar Zündhölzchen in der Westentasche zu wissen. Zum Schlusse wollte ich da ein Loch bohren und das entweichende Gas anzünden.

Indessen mühte ich mich am Riemen, bis er riss. Jetzt war es um den Eislauf geschehen, wenn ich nicht mit Schnüren nachhelfen konnte. Welcher Junge hat keine Schnüre in der Tasche? So knotete und flickte ich am Leder herum und schnaufte vor Eifer überlaut, bis sich mir plötzlich von hinten zwei kalte Hände vor die Augen legten. Ein leiser Schrei entschlüpfte mir.

»Rate, wer?« flüsterte es und blies mir warm in den Nacken.

»Joseph? Louis? Karl?« rätselte ich. »Ach nein, so kleine Hände, so glatte! Wär’ es möglich, dass ein Mäd ...« Mit geschämiger Hast zerrte ich die Finger vom Gesicht und warf mich wild rechtsum. Wahrhaft, da kauerte ein blaufarbener Rock mit schwarzer Schürze, einer grünen Jacke und grünen Schärpe um den Hals, und daraus wie aus einem Blätterkelch erblühte ein braunumzopftes, milchiges Gesicht wie ein Schneeglöcklein.

Ich sah das Mädchen an, wurde verlegen und flimmerte unsicher mit den Augen hin und weg.

Aber auch es, das ich nicht nenne, damit jenes reine Stündlein rein bleibe, ward unversehens scheu und blickte zur Seite. Aller Spass war verflogen. Wir kauten sozusagen an einer gemeinsamen Erinnerung. Die gab uns zu schaffen.

So blieben wir ein Weilchen und schnauften laut. Dann stotterte ich: »Der Riemen geht nicht mehr in die Schnalle; da, ein Stück ist abgerissen.«

Das Mädchen nickte.

»Ich probier’ noch einmal«, murrte ich vor Verlegenheit und knüpfte und riss aufs neue am Zeug.

Das blaffe, zarte Geschöpf nickte mechanisch wieder. Es war wie vor den Mund geschlagen.

Mir wirbelte es im Hinterkopf. Ich wollte irgendwas Harmloses sagen, vom Eis, vom Nebel, vom dummen Schlittschuh, aber fand kein einziges Wort und zerrte um so hastiger an der Schnur, bis sie plötzlich in zwei Teilen auseinanderriss. Ich sah, wie das Mädchen in die Schürzentasche griff, und mich dünkte, ein Wohlgeruch von gedörrtem Obst und Anis kräusle daraus empor. Weiss Gott, warum ich dennoch die ganze Flickerei zu Boden warf, mich steil emporreckte und mit blutrotem Gesicht fragte: »Was willst du eigentlich?«

Jetzt färbte sich auch das Schneeglöcklein, sah mich beklommen an, wand sich ein bisschen in den schmalen Hüften und sagte leise: »Nichts.«

»Dann geh’ nur wieder!« sagte ich grob. Aber es war mir nicht ernst. In mir rief es im Gegenteil: bleib, wir müssen noch allerlei verhandeln.

Die Namenlose sah mich an, als hätte sie falsch gehört, ihre Augen wurden dunkel, sie öffnete und schloss den Mund ohne einen Laut, sie huschte empor und verschwand im Schilf, rasch wie eine Wildente. Das ging in drei Sekunden. Als ich rufen, widerrufen wollte, war es lange zu spät. Aber hatte ich es vorher an diesem Platze so genussvoll gefunden, allein zu sein, so schien es mir jetzt geradezu öde und blöde. Wozu noch Feuerwerk? Ich hängte die Schlittschuhe in den Ellbogen und tappte schweren Fusses heim.

An jenem Abend löste ich keine einzige Algebrarechnung richtig und verwechselte cónditor mundi mit condítor mundi. Weltzuckerbäcker! Etwas Zuckeriges war wohl auch in meine Einbildung gefahren.

War ich verliebt? Torheit, dazu war ich zu bübisch, zu steif, zu kaltblütig. Aber was wahr ist, sei bekannt, dieses Jüngferchen Namenlos hatte ich in der Sachsler Schulzeit mit mehr Aufmerksamkeit betrachtet als alle andern Mädchen, seine Zierlichkeit bewundert und mich oft beim Schönschreiben dabei ertappt, wie ich das edelnasige Profil mit der kurzen zackigen Lippe auf einen Papierfetzen zu zeichnen versuchte. Immer entstand eine Fratze. Die Mädchen sind eben nichts für mich, sagte ich mir dann und zerknüllte das Blatt.

Dieses Namenlos war kein vorlautes, aber ein reges Mädchen aus vermöglichem Bauernhaus. Ich sah es nie in einen Zank oder in eine Ohrenbläserei verwickelt wie die andern Röcke. Immer knäuelten sich eine Reihe Schülerinnen um Namenlos und doch dünkte es mich in seiner schneeglöckleinhaften Helligkeit irgendwie einsam und für sich allein zu bestehen. Weitum blühte kein zweites solches Schneeglöcklein. Doch nach der Schule hatte ich das Mädchen sogleich vergessen und jetzt als Gymnasiast sah ich es überhaupt nur noch am Sonntag in der Kirche. Aber da gab es für mich viel Schöneres zu sehen und viel Grossartigeres zu gedenken.

Nun geschah es, dass meine ältere Schwester an einem späten Herbstsonntag nach der Vesper zu einer Freundin in einen stattlichen Bauernhof am Berg geladen war. Ein Knecht spiele dort so meisterlich Mundorgel, dass man meine, er musiziere mit einem Dutzend Instrumenten. Ich solle mitkommen.

Es war ein lustiger Abend. Einige aufgeräumte Mädchen mit unerschrockenen Augen und etliche wichtigtuende, wagemutige Burschen sassen da auf den Wandbänken der weiten, aber niedrigen Stube, alles Volk unter sechzehn Jahren, schon nicht mehr Knabe und noch nicht recht Jüngling, Aprilgeschöpfe in jeder Weise. Man jodelte, schäkerte, plagte einander, verspottete meine Studentenmütze und rückte zuletzt Stühle und Tische zusammen und begann zu tanzen. Und wirklich zauberte der Hitzpeter eine reiche und beschwingte Musik aus dem kleinen Holz. Es summten Himmel und Erde darin. Ich konnte mich nicht satt hören.

Namenlos war auch da. Sie allein hatte nicht spotten helfen, sondern mein Käppi, das von Hand zu Hand flog, aufgefangen, glatt gestreichelt und mir zugestellt. Sie tanzte nur zwei Schottisch, dann setzte sie sich zum Orgeler und sagte, es mache sie müde. Aber sie baumelte unruhig mit den kleinen Halbschuhen und zupfte unaufhörlich Fasern aus dem grünen Halstüchlein und drehte den Kopf wie ein Distelfink. Wenn ich zu ihr schielte, guckte sie fast immer nach mir. Das machte mir seltsam warm.

Auch ich tanzte nicht, aber nur wegen dem Asthma. Oh, sonst hätte ich mich heftig genug in diese hinreissenden Takte geworfen. Meine Knie, mein ganzes Wesen hopste im Geiste mit jedem Paare mit. Ich wusste nichts von Sinnlichkeit, ich hätte auch allein getanzt. Es ist das himmlische Gefühl des Rhythmus, der melodischen Bewegung, der ergreifenden Sprache des Körpers, das so alt ist wie die Menschheit, so alt wie das Weltall, fast möchte ich sagen, so alt wie die Gottheit, dieser ewige Takt und Rhythmus alles Seins, ein Gefühl, das, wenn es nicht fleischlich entweiht wird, wahrhaft selig und, je nach der Anlage des Einzelnen, das heisst, wie behend oder schleppend er in der Harmonie des Alls mitschwingt, ihn mehr oder weniger zum Teilnehmer, ja Mitspieler an der grossen Musik des Ewigen und Göttlichen macht.

Man lache nicht. Gewiss, das war eine gewöhnliche Bergbauernstube, es könnte auch eine rauchige Dorfspelunke, eine Alphütte sein, und es war nur eine Mundorgel, aber es könnte auch eine Sarasate-Geige, Bachs Orgel, Toscaninis Skalaorchester sein, was verschlägt das, der Geist, auch der apollinische, weht, wo er will.

Jüngferchen Namenlos füllte dann jedem eine grosse, geblumte Ohrlappentasse zum Überlaufen mit schwarzem Kaffee, goss ein Stiefelchen Zwetschgenwasser dazu und reichte Schnitten von Lebkuchen, Bauernbrot und Käse herum. Mir gab sie die kleinste, aber hübscheste Tasse. Zwei Hände, die sich sehr fest hielten, waren darauf gemalt und darunter war weitschweifig geschnörkelt: Unlösbar! Ich bekam auch zuerst eingeschenkt und abgeschnitten. Das kitzelte mein Herz sonderbar, aber verschüchterte mich zugleich. Doch rasch stieg der duftige Schnaps mir in den Kopf und knöpfte mein Gehaben auf.

Ich blinzelte glücklich herum, lachte grundlos, plauderte verwegen, schlug mit der Ferse den Takt zur Musik, und als Namenlos mir ein zweites Mal überreichlich einschenkte, fragte ich sie geradewegs ins Gesicht hinein: »Warum bist du so gut mit mir, ›Jungfer hübsch und zart?« Diese Anrede hatte ich aus einer Ballade. Mir brannten und flackerten die Augen wie zwei Sturmlaternen.

Da lachte sie nicht etwa, sondern rupfte wieder eine franse ab und gab mir nur einen Blick, so ernst und kindlich, dass ich erbebte. Und ganz klar kam es zwischen ihren kleinen, regelmässigen Zähnen hervor: »Weil du von allen der ... der Brävste bist, der Artigste, der ... der ...«

»Und was noch?« versuchte ich zu spotten. Aber ich war aufs tiefste betroffen. Etwas Ungekanntes pochte an meine Seele. Eine Musik klang mir durchs Blut, die so unerhört war, als käme sie von einem soeben erfundenen, ganz neuen Instrument. Und doch war es etwas Uraltes, tagtäglich Gespieltes seit Weltbeginn. O ich grüner Junge!

Während meine Gesellen immer lärmender wurden, ward ich immer stiller. Aber dann trieben wir alte, abgeleierte, langweilige Spiele, die Musik schwieg und meine frühere ruhige Gleichgültigkeit gewann die Oberhand. Ich sehnte mich aus dem Staub und Rummel heim zu Cäsars trockenen, aber stolzen Kapiteln vom Gallischen Krieg und sann auf Flucht. Da traf es sich beim Lösen der Pfänder, dass Namenlos und ich in die gemeinsame Busse fielen. Wir sollten uns, entschied der boshafte Franz, mit verbundenen Augen küssen.

Nun muss ich sogleich bemerken, dass damals in unserer einfachen, unverdorbenen, herben Volksame das Küssen in der Familie und überhaupt vor den Jahren der eigentlichen Liebschaft etwas Ungebräuchliches, schier Lächerliches war. Wohl schoss einem Frühreifen da und dort das heisse Blut über. Aber eine gewisse rauhe Keuschheit schützte unser Alter doch vor den weichlichen Zärtlichkeiten der Stadtmenschen. Ich selber aber litt ausserdem in jenen merkwürdigen Jahren unter einer krankhaften Scheu vor Liebkosungen und habe mich von den Schwestern fast nie, von der Mutter nur selten küssen lassen. Nachher wischte ich mir mit dem Ärmel den Mund ab.

Ganz ungeheuerlich traf mich daher die Zumutung des Pfandrichters. Ich sperrte und spreizte mich verzweifelt. Namenlos hörte ich freundlich sagen: »So lasst ihn doch!« Die Buben hielten mir die Arme hinter den Rücken, aber die Augen zu verbinden, gelang ihnen nicht. »Gut, dann küsse deine Schwester«, befahl man. »Zeig’ wenigstens, dass du küssen kannst!« Auch davor sträubte ich mich heillos. Aber schliesslich, als dem minder Beschämenden, fügte ich mich.

So wurden mir denn die Augen verbunden. Ich ward in die Mitte des Estrichs geführt. Ein Mädchen rief: »Bruder und Schwester, das hat keinen Reiz.« Dann ein »Pst!« und Kichern, während man das Gespons zu mir geleitete. »Vorwärts!« gebot Franz. »Auf den Mund, sonst gilt es nicht!«

Aber ich stand wie eine starre Kerze da und wagte nicht die leiseste Bewegung mit dem Kopf. In diesem Augenblick wurde es mir schwül vor dem Gesicht, jemand bog mir den Kopf vornüber, ich fühlte einen Mund an meinen Lippen. Etwas Warmes geschah, ich wusste nicht, ob ich küsse oder geküsst werde, aber schrie auf, denn das war nicht meine Schwester.

Die Binde fiel, ich stand vor Namenlos, die seltsam lächelte, den Mund ein bisschen leckte und sich geschämig unter die Mädchen versteckte. Sie hatte keine Augenbinde getragen.

»War es bitter? War es süss? Wie Brombeeren oder wie Hagebutten?« fragte man mich. »Ja, werd’ du nur ein Pfaff. Wir sehen schon, das ist keine Kost für dich."

Dann erblickte ich Namenlos nicht mehr. So eine freche! dachte ich. Oder? Wer kennt diese Geschöpfe? Beim nächsten Rummel machte ich mich unbemerkt aus dem Staube. Ich war zornig auf alle Gespielen, besonders auf Namenlos, aber am meisten auf mich.

Doch in Cäsars grosser antiker Welt, bei seinen Feldzügen durch Gallien, den reden der Häuptlinge, der Kühle und Eile seiner Antwort, der Kasuistik und Wichtigtuerei so grosser Köpfe, ha, wie verschwand da mein kleines Ereignis. Eine Kinderei, nichts weiter, prahlte ich. Hier aber das männliche Rom, tödlicher Ernst, Weltgeschick.

Viele Wochen später, im noch schneelosen Christmonat, stiess ich eines Sonntagabends ausserhalb des Dorfs im Gehölz der gebuckelten Allmende auf Simon, einen stillen Knaben, der jetzt aber hell und grell wie eine Trompete sang. Drei Mädchen sassen bei ihm. Sie guckten vom Rande des Wäldchens sorglos über die fahlen Weideplätze und die leeren Äcker hinunter gegen den See und das tiefliegende Dorf und sangen das »Niene geits so schön und lustig«, dessen uralte erste Takte fast fünfzig Jahre später ein neugebackenes Faschistenlied Italiens Note für Note gestohlen hat, sangen es in prächtiger Herbheit übers Land hinaus in den stillen Winter ringsum. Sie kehrten mir den Rücken. Ich wollte sie erschrecken, aber musste zu früh husten. Da wandten sie sich um. Die eine war Simons Bäschen Namenlos, wieder mit grüner Jacke und grünem Halstuch, woraus wie aus einem Blattkelch das blanke Schneeglöcklein schoss.

Wäre nicht der Gesang gewesen, ich hätte mich hurtig davongemacht. Denn ich trug im Rockfutter ein mit Kupfern belebtes, schmales, köstliches Büchlein über den alten Barbarossa.

So aber, vom Lied berückt, setzte ich mich herzu und vergass Barbarossa und Schnapskaffee und Mädchenkuss, als die vier nun zu jodeln begannen.

Was ist aller Kunstgesang gegen dieses urmenschliche Jauchzen der Bergvölker? Da gibt es keine Worte. Die Seele ertrinkt im puren Klang. Ihr Fühlen und Denken, ihre unendliche Geschwätzigkeit, alles löst sich in melodische Schreie auf. So sang die Menschheit, als sie noch Kind war, so singt das Wasser, der Wind, der Wald, diese steten Kinder, so möchte einst der letzte Mensch, wenn er an der Kultur erstickt, in einem begreiflichen Wiegen-Heimweh wieder, ach viel zu spät, singen lernen. So singt einst die aller Lasten ledige, von aller Endlichkeit erlöste Seele, wenn sie Gott grüsst.

Die vier Kinder jodelten, geführt vom vorsingenden Simon, hie und da im Akkord schwankend, aber sich treulich wiederfindend, oh, sie jodelten nicht mit der Kehle allein, auch mit den Augen, die von Seligkeit troffen, mit den Hüften, die sie rhythmisch wiegten, mit dem Kopf, der hin und her nickte, mit ihrer ganzen unbewussten Geschöflichkeit. Ohne es zu merken, fassten wir uns an den Händen zu einer heissen klingenden Kette, und Simon, der sonst das sanfte Agnus Dei vor den Altären sang, war nicht mehr zu erkennen, wie er wild gen Himmel tobte und die singende Menschenkette schüttelte. Etwas Barbarisches wehte durch dieses wie jedes echte Gejodel, aber die linde Abendluft, der fromme Himmel ob uns, die stille Landschaft ringsum und die Kindlichkeit der Sänger goss Milch in diesen brausenden Trank.

Nachher sassen mir ein Vaterunser lang wortlos nebeneinander und liessen den Sturm verebben. Dass es hoch zu Thron einen Kaiser mit rotem Bart und zu Füssen ein zerstörtes Mailand gab, war mir spurlos entschwunden.

Dann standen wir auf und wie nach einem starken Wein fuhren wir uns übers warme Gesicht und fühlten uns gereizt und gestachelt und zu irgendeinem Unsinn geladen. Simon, die Zahmheit in Person, versuchte Kopfsprünge, und Namenlos setzte sich mein Käppi in die Zöpfe, sang Pax tecum! und gab mir dabei einen Klaps auf die Nase. Denn im verwichenen Herbst hatte der Bischof Constantin von Chur voll römischer Hoheit das Sakrament der Firmung gespendet. Seitdem war es gang und gäbe, die Zeremonie in ihrem populären Schluss, dem rituellen Backenstreich und dem Friedenswort Pax tecum! in jener jugendlichen Harmlosigkeit nachzuahmen, der nichts heilig, noch unheilig ist.

Halb belustigt, halb erbost jagte ich dem Mädchen zwischen den Buchen auf dem glitschigen Laubboden nach. Aber es schoss behend wie ein Wiesel herum, lockte, lachte, liess mich heran und entwischte vor meinen Fingern mit einer Unverschämtheit ohnegleichen. Schliesslich blieb ich mit keuchenden Lungen stehen. In diesem Moment strauchelte Namenlos über einer Wurzel. Ich stürzte mit letztem Atem herzu. Aber noch ehe ich meine Studentenmütze erwischte, flog sie im Bogen der Liese in die Hände. »Gib’s dem Simon,« schrie Namenlos, rot vor Neckerei, »aber schnell! schnell!« Dann liess sie sich lachend von mir packen.

Oh, wie packte ich das glatte, mich dünkte, wie ein Goldfisch so schlüpfrige und zuckende Mädchen. Wie grob und böse griff ich zu und schnob ihr den ganzen Grimm und Krampf meiner Lunge ins Gesicht. Ich riss ihr das grüne Tuch vom Hals und schob es in die Tasche. »So!« sagte ich nur. »So!« wiederholte ich mit blutigem Ernst.

»Heiri,« fragte sie, »was hast du? wie du schnaufst!«

»Asthma«, kerbte ich schwierig aus den Zähnen und musste husten. »Asth ...« Wieder Husten, Husten, Husten. Mir wurde purpurn und schwarz vor dem Gesicht, das Augenwasser floss mir über die Wangen, ich tastete mich an einen Stamm um Halt. Mein Atem rasselte wie ein Sechsspänner. Entsetzlich war mir, dass gerade dieses Mädchen jetzt mein Elend sehen sollte. Nun kam auch Liese mit dem Käppi, Simon und die kleine Berta. Sie standen schweigend da und gafften mich mit neugieriger Teilnahme an.

Ich konnte kein Wort reden, gab nur Zeichen, sie sollten gehen, und mühte mich, den Krampf niederzuzwingen.

»So schnauft der Orgeltreter manchmal,« sagte Simon leise, »fast so laut wie der Blasbalg.«

»St« machte Namenlos und legte mir ganz sachte die Mütze ins feuchte Haar. »Red’ nicht!«

»’s ... ist ... scho... n vorbei«, bröckelte ich hervor und wischte mir den Schweiss aus dem Gesicht. »Ich hatte mich wohl verschluckt und hätt’ dann nicht rennen sollen. Das war dumm.« –

»Kommt es dir oft so?« fragte Namenlos, und ein wirklich namenlos süsser Ton lebte in ihrer Stimme.

»Nein, gar nicht!« log ich, vom Husten erleichtert. »’s ist keine Krankheit. Es kommt und geht, etwa wie wenn dir schwindlig wird.«

»Aber du bist ganz blau im Gesicht geworden.«

»Ja, das meinst du. Schaut, jetzt sind wir alle grün im Gesicht von der Tanne da. Es würgt ja schon zuerst ... ah bah ... der Doktor sagt, ich wachse das bald aus.«

»Aber«, meinte Simon kopfschüttelnd, »zum Geistlichwerden ... hm ... du musst doch laut predigen, musst heillos singen ... wenn dann so ein Husten ...«

»Keine Sorge,« winkte ich grossartig ab, »dann hab’ ich das Zeug da längst abgehustet.«

Ich war in dieser milden saubern Winterluft, von nichts als Flur, Wald und Himmel umgeben, wieder ordentlich zu Atem gekommen.

»Vielleicht wird er gar nicht geistlich«, bemerkte Namenlos etwas vorsichtig. »Mein Vater sagt, das könne niemand so früh wissen. Denk an den Gerold!«

»Doch, das werd’ ich, beim Eid! Das werdet ihr alle erleben.«

»Schwör’ nicht zu früh«, bat Namenlos und sah mich dunkel an, obwohl es ganz helle gelbe Augen hatte. Für eine Sekunde fielen unsere Blicke zusammen, und sogleich setzte ich mit seltsamer Hast hinzu: »Nein, das soll nicht geschworen sein. Du hast recht. Man weiss nie ...«

Warum, warum doch sagte ich das? Hatte dieses Gesichtlein solche Macht über mich? Weiss war die Stirne, dringend leuchteten die Augen, ein vorwitziges wachsweisses Näschen und die Lippen fein gezackt und von blasser, sauberer Heckenrosenröte, und die Zunge, die kleine Zunge, klang wie die Schelle des Christkinds.

»Übrigens«, fuhr ich fort, da mich alle anglotzten und verwirrten, »hab’ ich da ein Büchlein im Kittel, seht, der Kaiser Friedrich Rotbart. Ist das etwa ein Pfarrer gewesen? Mit seinem wilden Bart um die Zähne? Ja, schön. Immer hat er Streit gehabt mit den Geistlichen, hat den Papst geküsst und handkehrum wieder gebissen. So heisst es da.«

»Und so was liest du?« tadelte Simon.

»Warum nicht?« entgegnete ich keck. »Meint ihr, ich lese nur Bruderklausengeschichten?«

Sofort blickten wir alle von unserem Hügel in die Höhen, wo die Flüelikapelle auf einem Felsen steht und wo der Kernser- und Sachslerberg dunkel zusammengehen und die Melchaaschlucht des berühmten Gottesweisen bilden. Man sah sie nicht, man konnte sie von hier nur ahnen. Aber wenn man vom Bruderklaus so nahe seiner Wiege und seinem Sarge sprach, dachte man, der Obwaldnerheilige müsse es hören.

»Vom Bruderklaus les’ ich gerne. Ich glaub’, ich hab’ alles in der Bibliothek gelesen. Aber der Mann hier war auch ein Held. Ist siebzigjährig noch nach Jerusalem gezogen, um das Heilige Grab zu erlösen, aber in einem erbärmlichen Fluss ertrunken. Und jetzt schwören viele, er sitze im Berg Kyffhäuser, dort unten im Deutschen, und schlafe nur und komme, wenn’s einmal nötig sei, wieder heraus. Unterdessen, seht das Bild da, wächst sein Bart um den ganzen Marmortisch herum wie der Efeu um euer Haus, Simon ...«

»Hat er denn keine Schere, kein Rasiermesser?« fragte Simon.

»O du!« rief ich empört.

Jetzt verstanden wir uns nicht mehr. Ich hörte auf zu erzählen. Aber vor ihrem Hause sagte mir Namenlos ans Ohr: »Ich möchte gerne noch mehr wissen vom ... vom ... nämlich vom roten Kaiser Fridolin ... mit dem Bart um die Zähne ... zum Beissen und zum Küssen ...«

Da wurde ich frech. »Und ich, Jungfer Gspus,« kollerte es mir von der Zunge, »ich möchte einmal wissen, wie man ohne Schnauz’ und Bart so schnell küssen mag ... so schlecken wie eine Katz’, he!«

Da sagte das schöne Kind, die Schürze auf und nieder fächelnd, in scheuer Verschmitztheit: »Bin ich denn eine Klosterfrau? Und du, bist du etwa ein Kapuziner?«

Ganz starr stand ich still, während es ins Haus huschte.


Diese zwei für mich merkwürdigen Szenen waren der dritten Begegnung auf dem Eis vorausgegangen.

War es nun verwunderlich, dass ich am nächsten Abend beim Schnüren der Schlittschuhe auf jedes Rascheln im Schilf horchte, mit komischer Absichtlichkeit den Rücken gegen das Ufer kehrte und mehr und mehr verstimmt wurde, weil keine grüne Jacke und kein grünes Halstuch aus dem Röhricht schimmerte, wie ich auch rückwärts schielen mochte?

Ich übte mich her und hin durch den Nebel, fiel um, stand auf, fiel wieder. Das Eis war feucht und ab und zu weinte der See. So nennt man es hier, wenn die Decke sich beim Wetterwechsel bläht und im Druck der Gase lange Risse zieht. Es geht dann der ganzen Druckrichtung ein melancholischer Schrei nach, als wimmere ein Riesenkind zwischen Wasser und Eis. Besonders nachts tönt das recht unheimlich.

Obwohl mir die Schleife linksum jetzt zum ersten Mal und fast schon die Achterschlinge gelang, – meine freunde konnten das längst und mit Glanz – verleidete mir doch das Übungsspiel merkwürdig rasch. Zum ersten Mal langweilte ich mich allein. Mürrisch setzte ich mich an jenen Fleck, wo das Gas eingeschlossen war, schnallte die Schuhe ab und harrte mit den gespitzten Ohren eines Hundes auf irgendein Zeichen. Könnte ich doch dem guten Mädchen für die gestrige Grobheit eine Ehre erweisen, eine kleine dienstbare Freude bereiten, zum Beispiel das Feuerwerk hier vorspielen! Das würde ihm imponieren. Und wie zauberisch würde das Schneeglöckleingesicht bei der blauen, bei der roten Flamme aufleuchten! Ich zählte auf hundert, noch auf fünfzig, noch auf zwanzig, zuletzt ungeheuer langsam. Umsonst. Jetzt hatte ich genug, stach die Eiskruste zornig durch, hielt das brennende Zündholz daran und streute flugs in die fast farblos aufschiessende Flamme zwei Prisen meines bengalischen Pulvers. Schneller als ich’s fast denken kann, loderte es violett, dann rot empor. Im Augenblick war’s vorbei und die Dämmerung um mich herum grauer als je. Ich fühlte mich beinahe ein bisschen unglücklich.

»Ach, was will ich denn? Das ist doch alles ein Unsinn«, munterte ich mich auf und schritt durchs Schilf zurück. Plötzlich hielt ich an. Da sind ja ganz frische Fusstritte im aufgeweichten Sand. Nicht die meinigen, ich bin von links hereingekommen. Mein Schuh ist viel breiter. Schau, schau, da hebt sich noch ein halb geknickter Halm, und da, an der Staude, stehen die Stapfen kreuz und quer. Hier ist jemand stehengeblieben und hat unschlüssig den Stand gewechselt.

Ich schlich geräuschlos vorwärts, mit geschärftem Ohr und Blicken wie Stecknadeln. Da, da ... ich heb’ es auf, eine grüne Franse, noch eine. Das Persönchen war aufgeregt, es zupfte am Halstuch, hier, drei, vier Fäden. Alles ward mir klar. Wie schnell wird man ein Jäger!

Namenlos war dagewesen.

Aber seltsam, kaum wusste ich das, so zerrann mein Eifer. Was wollte das Mädchen eigentlich mit all dem? Und was will ich eigentlich? Was ist das für ein fadenscheiniges, zopfiges Zeug. Der Karl läuft schon dem Teresli Rohrer nach. Was hat er davon? Alle lachen hinter seinem Rücken, das falsche Teresli am meisten. Und der Seppfranz, der hübsche Kerl, der zur reichen Agnes ging, jeden Samstag- und Sonntagabend! Ist die Agnes nicht immer magerer und der Seppfranz immer bleicher und launischer geworden, hat eine Schlägerei angefangen und hinkt jetzt für Sein Lebtag. Und der Schwinger Balz, haben ihn etwa die Nachtbuben nicht getunkt? – Und ich gehe doch ins Kollegi. Da hab’ ich den Stockmann, der mir den Hannibal grossartig zeichnet, den Salez, der den Ball über zehn Birnbäume wirft, den Wannier, mit dem ich Schach spiele, den Baumgartner, der mir Mozart und Beethoven vormusiziert. Was sollen da die Meitschi? Gibt es für die noch Platz? Im ganzen Sallust schwätzt kein einziges Mädchen, wohl aber gibt es Feldherren, Staatsmänner, Redner die Fülle. Eine Tasse Kaffee, ein Spritzer Zwetschgenwasser, ein paar Walzer, Mundorgel, zuckeriges Näschen, hübsch ... ein ... ein ... ja schon ... ein Kuss ... Aber hätte etwa Cicero seine Rede an einen Kuss gegeben? oder Cato seine Predigt? oder Catilina seinen Verschwörerplan? Dumm, das nur zu denken! Und erst Cäsar ...

Jetzt gerade, am Sonntag abend, üben sie dort unten im Kollegium den Julius Cäsar von Shakespeare. Der Egid Salez muss den Oktavian geben vor der Schlacht bei Philippi. Im Herrengewand stolziert der Herrliche aus dem Zelt und kanzelt den Antonius ab und droht mit glühharten Augen und lobt und regiert die Schlacht. Das ist einer, o Gott. Zöpfe, Röcke, Halstücher, Pfandspiele, pfui!

Ich wischte die grünen Wollenfasern von der Hand.

Halt, hat es nicht gehüstelt? dort drüben? Schon wieder? Eine wahre Angst und Erbitterung überkam mich. Lauert sie mir gar auf. Kaiser Fridolin ... so etwas! Schnell, schnell davon!

Ich wand mich, so leise ich konnte, in der entgegengesetzten Richtung durch das Strauchwerk in die Schneewiese hinauf, von Zeit zu Zeit aufhorchend, mich duckend, dann wieder wie ein verfolgter Hase dorfauf rennend. Wie von einer Gefahr erlöst, warf ich die Haustüre hinter mir zu. Wie schnell wird man ein Wild!

Auf dem Tische lag mein Sallustius offen, gerade auf der Seite, wo über das Los der gefangenen Verschwörer entschieden wird. Lass sehen, der Egid Salez lässt sie sicher am hellen Mittag vor seinen Augen kreuzigen. Ach nein, das ist ja der furchtsame Cicero. Heimlich, im Kerker, werden sie nachts stranguliert.


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