Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Mädchen und Buben

War es meine immer häufigere Krankheit, war es eine geistige Schwäche, einerlei, ich fürchtete und floh in jenen jungen Tagen die Knaben. Diese Urschweizer waren gesund und stark, rumpelten mit den Holzschuhen und hatten rauhe Hände. Sie fürchteten weder Hund, noch Stier, noch die grimmigste Fastnachtsfratze. Sie gingen aufrecht über hohe Nussbaumäste hinaus und sprangen viele Ellen hoch über Felschen hinunter. Sie rannten mit pfeifenden Lippen und schwerem Rucksack den steilen Berg hinauf und blähten dabei kaum die Nasenlöcher ein bisschen auf, und sie pfiffen zwischen zwei Fingerknöcheln so grausam schrill, dass es kein Falke und kein Murmeltier besser konnte. Auf keine Weise konnte ich mich mit ihnen messen.

So lief ich denn immer hinter meiner ältern, umgriffigen Schwester einher, die ihrerseits weder Hunde, noch Buben fürchtete. Bei ihren Gespielinnen blieb ich stehen, liess mich nicht abschütteln, sosehr Pauline sich schämte und mich schalt, und war glücklich, wenn ich schliesslich unter den Röcken geduldet, und selig, wenn ich gar mit ins Spiel einbezogen wurde. Der Duft dieser saubern Schürzen und leichten Blusen, das Schlängeln und Glänzen der Zöpfe, der Klang ihrer viel weichern Stimmen, dieses Lispeln und Summen und süsse Klatschen, und alle, wie mir schien, gar alle Gesichter voll reiner Güte, während die Buben so drohend und dunkel dreinblicken, dann ihre Puppen mit den unsäglich schönen Zuschneidestoffen und den köstlichsten Besorgungen, Puppen, die man kämmen konnte, deren lange Unterhosen gespitzelt waren, die das Auge schlossen und sogar bei einem Druck auf die Brust einen feinen Schrei taten, endlich die Spiele der Mädchen, so viel zarter und müheloser als das Rennen der Knaben, mit Sprüchen, Reigen, Scherzfragen und Verstecken, und alles so voll Musik und Melodie: ach, wie mir das damals gefiel! Und als mich einst eine rotbackige, ruhige, sehr angesehene Rosalie bei einem Spiel unter ihre grosse Schürze barg und vor dem fragenden Ringelreihen der andern mit klaren Absagen: »Das Häschen ist nicht da!« schützte, und ich ihre zehn Fingerbeeren auf meinem Kopf spürte und ihre hübschen warmen Schuhe mit beiden Händen fasste und immer ihren reinen Atem spürte, wenn sie mit klangvoller Stimme rief: »Nein, nein, das ist nichts, das ist falsch, das ist kein Hase, kein Fuchs ... kein Wolf ... kein Bär ... ihr ratet falsch!« und mich immer fester am Wirbel fasste, da schauderte es mir sozusagen vor ... wie soll ich sagen? ... heimlicher, unbewusster Frauenseligkeit.

Es war überhaupt merkwürdig, alle Mädchen waren gut mit mir, obwohl ich doch unvermöglich, schweigsam, schüchtern und mit meinem farblosen Gesicht und Haar alles eher als hübsch war, auch niemals versuchte zu schmeicheln oder Aufsehen zu erregen. Sie reichten mir allerhand Schleckereien und erwiesen mir manche Freundlichkeit und bekamen doch nichts von mir. Oder doch! Sie bekamen die erste Gelegenheit, ein Bürschchen zu kommandieren, einem Mannsbild sich überlegen, hilfreich, schonungsvoll zu erzeigen, sie konnten hier ohne jede Gefahr den frühesten Pantoffelschwung üben.

Und sie bekamen noch mehr, meine dankbaren, vertrauensvollen grauen Augen, mein unterwürfiges Lächeln, meine wortlose Gefügigkeit. Sie konnten mich zupfen und drehen, wie sie wollten. Ich war ihre grösste Puppe.

Etwa wenn die Mädchen erregt und das Spiel leidenschaftlich wurde, konnte ich plötzlich aus meiner Stille auffahren und begeistert aufschreien. Zeitlebens habe ich an diesen durchweg schädlichen Stürzen des Gleichgewichts gelitten. Mir spritzten dann sofort die hurtigsten Sätze vom Munde. Ich lachte laut und spasste frech und verkündete ganz Unerwartetes. Mein langes dünnes Haar wehte dann auf und meine grauen Augen brannten. Es war wie Rausch. Die Mädchen stutzten sogleich. Es passte ihnen nicht recht. Sie sagten: »Da seht den Muckser, er ist doch auch wie die andern, ein wilder Kerl!« Und sie trauten mir nicht mehr recht. Dafür gefiel ich dann für ein Weilchen den Buben, die mich längst einen Meitschischmecker schimpften und verachteten, und sie gaben mich noch nicht ganz verloren.

Als ich dann älter und kecker wurde und einmal mit einer andern Rosalie, der gescheitesten und regiererischsten in diesem bezopften Völklein, wegen eines falschen Spieles Streit bekam, ihr immer lauter widersprach und zuletzt ihre beiden Hände zusammenwürgte und befahl: »Gib zu, dass du geschwindelt hast!«, da fühlte ich plötzlich vier spitze Zähne in meinem Handgelenk und liess eilig los. Das spitzköpfige, schlanke, hübsche Mädchen besass eine Stimme wie hohe Geigenmusik und geigte mir wundersüss ins Gesicht: »Pack’ dich, du Unverschämter, du Affe, du Kamel! Was läufst du uns Mädchen nach? Haben wir dich etwa gerufen? Hast du Angst vor den Buben? Gelt, das ist’s! Dann zieh halt einen Rock an, wenn du wieder mit uns spielen willst, einen langen Rock bis auf die Schuhe, und zopfe das Haar und hilf uns lismen (stricken). Vielleicht lassen wir dich dann passieren ...«

Ganz verdonnert ging ich Schritt für Schritt rückwärts, und es half mir nichts, dass meine tapfere Schwester sagte: »Ich nehm’ ihn nie mehr mit. Aber ein Kamel ist er darum noch lange nicht. Wisch du lieber das Blut vom Maul, Rosalie, oder dünkt dich Bubenblut etwa so süss? Dann schleck’ es meinetwegen ab!«

Es war in Doktor Omlins Garten. Ich hatte inzwischen eine Haselnussstaude erreicht und hörte noch durchs Laub ein grosses Mädchengelächter über den Witz meiner Schwester und das wilde Prusten und Ausspucken der hübschen Tigerin.

Von da an ging ich nie mehr mit den Mädchen allein. Ohnehin hatte ich inzwischen mancherlei bittersüsse Erfahrungen gewonnen: Wie sie heillos eifersüchtelten, sich Nichtigkeiten in die Ohren bliesen, einander verklatschten und verrieten und gleich Windfahnen für eine Sache heute so, morgen umgekehrt standen. Nur zwei Mädchen wahrte ich eine Art Ehrfurcht, Doktor Omlins Marie mit dem klaräugigen, ovalen, milchfrischen Gesicht und einer wunderbaren Geradheit, und der Theresia von Moos, einem gutmütigen, anschmiegsamen, zu Ernst und Lustigkeit geneigten Töchterchen, beides treue Freundinnen meiner Schwester, von angesehenen, vermöglichen Eltern, aber ohne die mindeste Hochfahrigkeit.

Am nächsten Tag begegnete ich der Rosalie wieder – sie steht jetzt in einem grossen Bereich, eine bedeutende, musterhafte Persönlichkeit, und befiehlt dort und befiehlt gut. Sie hatte eben in eines von den köstlichen Salzbirnchen gebissen, die ich ausserhalb Sachselns nirgends mehr zu essen bekam. »Willst du’s?« musizierte sie und hielt mir die Frucht nahe.

Ich sah die vier Zahnspuren in der grüngelben Birne genau so wie gestern in meinem Gelenk, zauderte, fühlte deutlich, wie gross ich wäre, wenn ich die Hand zurückschlüge und etwa fragte: »Gelt, da ist kein Bubensaft drin!« – und nahm und ass die Birne dann doch und lief wie besiegt davon.

Schliesslich ward es doch für einen Knaben von einer gar zu langweiligen Süsse – wie wenn man täglich Quittensirup trinken würde! – stets an diesen Röcken zu haften und ihr Tänzeln und Flüstern und Nippzeug mitzumachen. Es blieb immer der gleiche Schleck. Er widerstand mir nach und nach. Ich empfand immer schärfer das Bedürfnis, etwas Stärkeres zu sehen, etwas Trotzigeres zu hören, etwas Wichtigeres zu erleben. Wenn ich vom Fenster eine Gruppe Knaben belauschte, welche Kurzweil, welcher Mannesatem schien mir da zu herrschen, auch wenn der eine auf dem Hag sass, der andere bäuchlings im Gras lag und der dritte das Strässchen mit den Beinen verspreizte, und sie einander bloss so grossartig sachlich anblickten und kaum drei Worte brummten.

Oh, ein anderer Atem! Sie kicherten nie und steckten nicht die Nasen zusammen und streichelten sich nicht übers Haar. Aber der Josef konnte vom Geld seiner Mutter, der Theodor vom Stall, den der Vater vergrössert habe, der Friedli von den vier Kühen reden, die sie auf der Alpe übersömmerten, und der Louis mit der langen geraden Nase und den schlimmen graugrünen Augen und der geblähten Oberlippe wusste sogar von Amt und Regierung zu schwatzen und dass sein Grossvater nach Ostern nicht mehr ins Sarner Rathaus zum Gericht gehen wolle, um »die armen Teufel zu plagen«.

Wie doch diese Käsehoch in eine andere Welt sahen als die Mädchen! Denen war sie ein Zimmerchen, eine Wiege, ein Spaziergänglein; aber den Buben wirklich ein Gebiet, wo hinter Bergen Täler und wieder Berge und nochmals Täler und dann das Meer und dann Amerika kommt und wo man überall hingelangt, man braucht nur die Schuhe gut zu binden. Diese Kerlchen wussten die Namen jeder Alpe, jedes Gipfels, den Spitznamen jedes Bäuerleins, wussten genau, wann die Älplerkilbi sein werde und welche Schwinger kämen, welche Preise es gäbe und wer gewänne; wussten, wo man Süsswurzel ausgräbt, Frauenschuh pflückt, wo die Eichelhäher nisten, wie man Meisen abfängt, wo es Nattern gibt, bei welchem Wind am besten zu fischen ist. Sie spuckten haushoch, standen minutenlang auf dem Kopf und holten mit den Zähnen einen Halbfränkler aus dem Grunde des Brunnens herauf, ohne die Augen zu schliessen. Sie verstanden wie Grosse mit der Geissel zu knallen und fast, fast schon Geissen zu melken, o welch ein erhabenes, respektables Volk waren sie! Wie viel hatte ich verloren, dass ich den Schürzen angeklebt, wie viel hatte ich verscherzt. Denn es war jetzt nicht so leicht, Anschluss an diese Helden zu gewinnen, nachdem ich so lange bei der Spindel gesessen. Es liess sich nur langsam, bänglich, Schritt für Schritt probieren. Und es war dann immer noch zu gewärtigen, ob sie mich ebenbürtig nehmen würden.

In der Tat, die gleichaltrigen oder ältern Kameraden weigerten sich, mich anzuerkennen. Sie schickten mich zu den Mädchen zurück. Erst die Schule im siebenten Altersjahr, diese gewaltige Gleichmacherin, würfelte uns Knaben dann, klein und gross, reich und arm, ohne viel Federlesen untereinander.

Inzwischen hielt ich mich an die um ein, zwei, drei Jahre jüngern Buben. Mit ihnen lag ich im Gras unter dem Kannenbirnbaum oder im Kies, wo der Ettisriederbach in den See hinausfliesst. War ich allein, so träumte ich stille für mich hin, waren andere dabei, so träumte ich laut auch für die andern, was der See denke, was der Bach schwatze, was die Berge drüben, die waldigen, nachts vom Himmel herunter hören. Und wirklich, alles sprach mit uns, das Wasser, der Wind, die Steine, Vogel und Fisch und Baum und Gewölke. Wir verstanden sie ohne Wörterbuch und Grammatik. Und wir fühlten uns irgendwie eins mit der ganzen Natur. Noch trennte uns keine Buchstabenweisheit und keine Kultur von ihrer säugenden Mutterbrust, und oft sagten wir zueinander beim Nachhausegehen: »Könnten wir doch im See schlafen! Oder auf jenem weissen Gipfel hinterm Brünigberg übernachten!«


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