Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Drei unheimliche Nächte

Wenn Paul wieder für Monate die Weite suchte, dann schloss sich unser kleiner Geschwisterring um so enger um die Mutter. Dann war die kleine schmächtige Frau Vater und Mutter in einer Person. Ja, nach und nach vermissten wir den Vater gar nicht mehr, verloren überhaupt den Begriff, was ein Vater sei und bedeute. Wie rare Inseln waren die meist kurzen Aufenthalte Pauls bei uns. Nachher hatten wir wieder das weite, leere Meer für lange Zeit und wussten bald nicht mehr, was so eine väterliche Insel sei.

In der abendlichen Dämmerung kauerten wir dann um die Mutter herum, und jedes wollte ihr am nächsten sein, ihre Hand fassen oder gar den Arm um den Hals schlingen oder doch wenigstens mit beiden heissen Händen ihre weichen Pantoffel umfangen. Dann sangen wir ihre Lieblingslieder »Goldne Abendsonne« und »Freut euch des Lebens« oder beteten mit ihr den Rosenkranz.

Viel sollten wir beten. Verena wurde der Gespräche mit Gott und seinen nahen Freunden, den Himmelsheiligen, nie müde. Immer noch wusste sie ein neues Vaterunser und noch eins an die übliche Andacht zu knüpfen. Es war, als müsste sie nicht bloss für uns und den fernen Vater, sondern für die ganze Menschheit über und unter der Erdrinde die Hände falten.

Es wurde immer dunkler in der Stube, und wir schmiegten uns immer dichter ums Knie der Mutter zu einem warmen, seligen Knäuel zusammen. Wir sanken immer tiefer, und die Mutter schien uns immer höher in die Finsternis emporzuragen. Nach und nach verstummte die Stimme über uns, und wir fingen leise an, zu ihren Füssen zu schäkern und zu necken und uns schwatzhaft zu unterhalten. Aber wir wurden nicht laut. Wir flüsterten wie in der Kirche, denn über uns starrte ins Düster empor wie von einer Heiligenstatue das ovale, ernste, stille Antlitz Verenas und verschwamm mit der Nacht. Sie schlief nicht, sie redete nicht, wir wussten nicht, was sie sann. Es kam uns nicht einmal in den Sinn, dass sie vom aufreibenden Tagwerk ein Weilchen ausruhte, ehe die grausame Petrollampe zu neuer Arbeit bis tief in die Nacht angezündet wurde.

Bei jeder Bewegung der stillen lieben Gestalt über uns erschraken wir, sie möchte sich besonnen haben, dass wir ja faulenzen und schwärmen fast wie der Vater. Ach, wenn sie nur nichts merkt! Wenn es nur noch lange nicht heisst: »Hoppla, Kinder, macht Licht!«

Sie wusste keine Geschichten zu erzählen wie der Vater, sie verstand nicht, mit uns zu spielen. Sie verstand nur mit uns zu beten, zu arbeiten und – zu schweigen. Aber wo sie uns etwas Nützliches ohne viel Erklärens zeigen konnte, etwas Lehrreiches, das sozusagen durch sich selber sprach, da versäumte sie keine Gelegenheit.


Eines Nachts stand sie im Unterkleid, die nackten Füsse nur in Tuchpantoffeln, schwarz und feierlich vor meinem Bett und befahl: »Komm schnell!« Ich schüttelte die Schlaftrunkenheit aus den Wimpern und lief, mich schaudernd an den warmen Ärmeln der Mutter festkrampfend, zum offnen Fenster, unter dem die Kantonsstrasse vorbeiführte. Auf der andern Seite fiel noch eine Wiese voll Obst zum schwarzen See hinunter. Jenseits rafften sich die Schwändiberge in die Höhe. Und dort drüben hörte man einen Bach durch eine steile Schlucht in die dunkle Wasserstille rauschen. Der Himmel war finster, voll treibender Gewölke. Der Westwind fuhr durchs Laub und zappelte mit Millionen Füssen im Gras herum. Nicht einmal die weisse Strasse hob sich deutlich aus der Finsternis. Ich hatte eine solche Zeit noch nie erlebt. Mich fröstelte.

Am Gesimse stand bereits meine ältere Schwerter im langen Nachthemd und äugte scharf ins Schwarze hinaus. »Was ist?« fragte ich und zog voll Gruseln den Kopf tief in die Achseln.

»Still! Da kommt wieder einer«, flüsterte die Mutter. »Wartet, ich stelle das Nachtlämpli in den Gang, damit sie uns nicht sehen. Ich wüsste nicht, was sagen.«

»Wer? wer?«

Ein schwerer Lastwagen ächzte und knarrte von der Brünigseite her. Trübe Laternen baumelten am Gestell. Die Pferdeschellchen läuteten leise. Etwas Dunkles, Aufgebeigtes, Massiges schwankte unten vorbei. Ich hörte einzelne Weiberstimmen und selten einen düstern Bass hineinbrummen. Ein feines, grillenhohes Kindermäulchen plärrte. Dann schoss ein Windstoss überweg und ertränkte jedes andere Geräusch. In der nächsten Pause tönte das Wagenkreischen schon ferner, den Dorfhäusern zu; aber von hinten räderte ein weiteres Gefährt nach.

»Drei Wagen ... ganz überladen ... Kinder und Hausrat«, seufzte Verena. »Die Grossen laufen daneben. So wird’s gehen bis Alpnachstad, nein, jetzt fährt kein Dampfer, bis zur Bahn in Luzern. Die ganze Nacht müssen sie fuhrwerken und dann in den Zug ... und reisen, weit reisen, oh, noch viele solche Nächte und lange Tage!«

»Wohin, Mutter?«

»Nach Amerika! Sie haben keine Arbeit daheim. Ihr Heimet gibt ihnen nicht einmal genug zum Essen. In Amerika, heisst es, gibt es Geld wie Brunnenwasser. Aber schwer ist es, so vom Dorf und Heim wegmüssen.«

Meine Mutter atmete schwer, ich fühlte ihren Hauch auf der Stirne.

Weiter vorne im Dorf hörte man laute Stimmen. Wahrscheinlich grüssten Leute von den Fenstern herab, und nun tönte es auch frischer und vielstimmig von den Wagen herauf. Mir aber wurde ganz erbärmlich zumute.

»Ich glaube,« sagte meine Schwester, »sie halten vor dem Löwen. Man gibt ihnen gewiss Bier zu trinken oder gar Wein.«

»Gäben sie lieber Suppe den Frauen und dem Windelkind Milch«, erwiderte die Mutter. »Habt ihr gehört, wie so ein Kleines immer geschrien hat, fast wie ein Hühnchen? – Hui, welch ein Windstoss! Halt das Fenster fest, Pauline.«

Mir wurde schwer, als drücke ein Berg von Steinen auf mich. In dieser Nacht voll Wind und Grausen mussten diese Menschen und selbst ein Gof, das noch keinen Schritt tun konnte, aus ihren alten warmen Stuben für immer und so weit fort, übers Meer, nach Amerika, fast ans Ende der Welt.

Und haben sie dort ein Haus? Nichts, keinen Fensterladen. Oder eine kleine Wiese oder eine Geiss? Keinen Halm, kein Haar! Ins Ungewisse rollen sie, und andere Leute besetzen ihre lieben Obwaldnerstuben. Wie kann man so waghalsig, so dumm sein? Nur weil Amerika so gross ist und es so reiche Amerikaner gibt! Oh, du lieber Himmel!

Ich verstand noch nichts von der wirtschaftlichen Not, die so rücksichtslos die Landeskinder von der heiligen warmen Väterscholle in einen wildfremden Weltteil hinausjagt. Es waren zumeist Giswilerfamilien, die da auswanderten. Jahr für Jahr kam dieses Elend nun vor. Immer nachts, als schämten sie sich vor ihrer Erde, flohen sie. Viele fanden sich dann überm Ozean leidlich zurecht, selten einer hatte geradezu Glück, schwitzen und sich abrackern mussten alle dreimal mehr als daheim. Die Alten starben bald, die Jungen bekamen eine neue harte Haut und vergassen. Von etlichen kamen zuerst noch lebhafte Briefe, dann etwa Grüsse, dann hörte man nichts mehr. Und doch fuhren immer wieder solche Wagen die Brünigstrasse hinunter. Oh, der Hunger, der unbarmherzige Martinizins, die garstige Armeleutesuppe, die Verzweiflung und die ewiggrüne Hoffnung, was die Nähe versagt, von jener märchenhaften Ferne über dem Meer zu fordern!

Es wurde stimm auf der Strasse. Ennet dem See gurgelte der Schwändibach in den Spiegel. es tönte so schaurig kalt und gleichgültig.

»So, geht jetzt ins Bett und weckt mir das Johanneli nicht, sonst schreit es die ganze Nacht.«

Auf den Sohlen huschten wir wie Katzen zu unsern Betten.

»Pst!«

Wir wandten uns nach dem Fenster um.

»Und seid froh, dass ihr so eine schöne warme Stube und ein gutes Bett habt ... und ... und mich!«

Unter dem Eindruck des Geschauten und noch mehr dieses letzten kleinen Wörtleins liefen wir zur geliebten Mutter zurück, drückten uns wie junge Hündlein an sie, suchten ihre Hände, ihren Hals, ihre magern Wangen zu erreichen und liessen nicht ab, bis sie uns fast mit Schelten und Drohen in die Kammer jagte. Aber ich sah sie noch lange durch die halboffene Tür, wie sie am Fenster stand und in die Nacht hinaushorchte. Warum bleibt sie noch dort? Sie friert ja, dachte ich und wusste keine Antwort.

Später hatte ich Bescheid. Sie dachte an die weiten wüsten Strassen der Welt, auf die eine solche unheimliche Nacht herabfällt, und spitzte ihr feines Ohr und lauschte einem Paar Schuhe nach, deren Gang sie so gut kannte, die sie heimwünschte, die sie so gerne von den müden Füssen gelöst und für lange unters Bett gestellt hätte. Wo, unter welchen Lüften und Wolken weilte ihr Paul zu dieser Stunde? Dachte er auch noch, wenn ihn fror, an eine heimatliche Stube? Oder war sein Herz ganz erfroren und hatte Frau und Kinder völlig vergessen?

Vater unser, flüsterte sie, der du bist im Himmel. Geheiliget werde dein Name. Zukomme uns dein Reich! Zukomme ihm, dem dach- und stubenlosen Manne, dein Reich!


Und wieder in einer tiefen Nacht rief uns die Mutter ans Fenster. Eine weite seltsame Röte dehnte sich zwischen Pilatus und Stanserhorn weit in den Norden hinauf. So etwas hatte ich noch nie erblickt. Der Himmel blutete aus einer grossen Wunde.

»Es brennt in Kägiswil«, lispelte Verena. »Die Fabrik.«

Das war so entlegen, dass man weder Flammen, noch Flammensprühen sehen konnte. Aber bei dieser grausigen Rosenfarbe konnte man sich dafür das Furchtbarste denken. Durch die Stille meinte ich Schreie, Zischen, Güsse zu hören, nun wieder Menschen und Tiere wie aus dem Fegfeuer der armen Seelen zu vernehmen, wie sie um Hilfe rufen. Das Gebälke kracht, das Dach stürzt ein, und die Toten grinsen aus den Kohlen. Entsetzliche unmögliche Schrecken stiegen vor meiner Seele auf. Ich begann zum Fenster hinaus zu weinen und zu schreien: Löschet doch, löschet!

Männer hasteten vorbei. Man hörte im fernen Sarnen die Pfarrglocken Sturm läuten. Plötzlich schrillte unsere Gangschelle durchs weite Haus. Wir zuckten wie unter einem Blitz zusammen.

Sie rufen die Feuerwehrpflichtigen aus dem Schlaf, beruhigte uns die Mutter, von Haus zu Haus. Aber sie müssten doch wissen, dass Paul schon lange nicht mehr daheim ist. – Horch, jetzt zerren sie bei Kehrers an der Schelle. Dort sind doch nur zwei Frauen, seit der Kehrer starb. Haben sie den Kopf vor Eifer verloren? ’s scheint, die Not dort unten ist gross.

Das Feuerhorn gröhlte jetzt oben im Dorf, Wagenräder und Pferdehufe rumpelten über den gefrorenen Boden. Die Häuser erwachten, Lichter erglommen hinter allen Scheiben, und die unheimliche Rose im Norden wuchs über den halben Himmel.

Diesmal ging es mir viel näher als in der Auswanderernacht. Mir schien, die Erde selber beginne zu brennen. Wie grässlich hatte es geschmerzt, als ich einmal mit dem Finger zu nah in die brennenden Ofenscheiter geriet. In was für Höllenqualen mussten nun die Menschen dort unten in den turmhohen Flammen sich krümmen. Sie lodern lichterloh wie Fackeln und verkohlen genau wie die Tannenknüppel in unserem grossen Ofen.

Ein Brand am hellen Tag will gar nichts bedeuten. Er macht nur den Eindruck des Schadens. Aber eine Feuersbrunst nachts, auch nur an einem leeren Holzschopf, wirkt heillos auf die Nerven. Die Stille und Finsternis der Nacht übersetzt alles ins Abenteuerliche, Schreckhafte, und was tags natürlich, nüchtern, begrenzt erscheint, wächst nachts ins Riesenhafte, Phantastische, Grenzenlose.

Mir war, es drohe auch uns Gefahr, wenn ich schon nicht wusste wie und woher. Überall hörte ich es knistern und knattern. Böse Mächte mussten in der Nähe sein, der Tod lauerte uns an allen Ecken auf. Ich fürchtete mich wahrhaft, ins Bett zu gehen, und fürchtete mich, am Fenster zu bleiben und in die Röte zu blicken. Ich wurde erst etwas ruhiger, als die Mutter gebot: »Beten wir ein Vaterunser für die Armen dort! Hoffentlich ist ihre Sache versichert.«

Versichert! Was hilft das? Darum war der Himmel doch wie Blut, läuteten doch die Sturmglocken, hat man sich doch durch Rauch und Glut mit knapper Not gerettet und kniet vor der Asche; darum war die Nacht doch mit teufelsroten Schrecken überfüllt. Versichert, ich verstehe nicht, was das heisst, wenn ich vor Angst beinahe gestorben bin.


Das dritte Mal, da meine Mutter mich aus dem Schlaf aufrüttelte, fragte ich ganz verängstigt, ob es denn schon wieder brenne. »Ja, und wie!« flüsterte Verena feierlich. »Oben am Himmel brennt es. Komm nur und schau! Unser langmütiger Herrgott hat ein Feuer angezündet, das einem zu denken gibt.«

Mit zitternden Knien und mich fest an die Mutter krampfend, trippelte ich in die Stube hinaus an jenes Fenster, das gegen das Oberdorf, den Kirchturm und den schwarzen Kernserberg schaute, und gewahrte sogleich nordöstlich über den Gebirgsmassen im eisigen dunkelblauen Himmel ein Gestirn, das weder dem Mond, noch einem Stern, sondern einem gelben Klecks glich, mit einem langen züngelnden Schwanz, gerade als hätte der liebe Gott, nachdem er mit seiner grossartigen Feder die Sterne an den Himmelsdeckel geschrieben hatte, aus Spass oder Versehen einen leuchtenden letzten Tropfen seiner Tinte mit einem goldenen Schnörkel über das Schriftstück verspritzt.

Aber uns dünkte diese sonderbare Feuerzeichen nicht lustig. Es lachte nicht gutmütig wie Gevatter Mond und tröstete nicht wie die heiligen Sterne. Es zuckte, blitzte, schreckte und schien am Schweif bläulich zu schwelen wie ein Drache. Man spürte sogleich, dass es nicht als Freund gemütlich am Himmel spazierte. Es war eine Drohung. Totenstill glühte es da oben weit über die Wölbung hin und machte uns erschaudern. Wie gebannt hingen unsere Augen daran und fragten: Was willst du? Grosses, brennendes Rätsel, sag’ an, was willst du von uns?

Es war eine Winternacht kühl und hart wie Kristall und vom Schnee und von den Sternen leicht belichtet. Träge wie der Tod lag die weisse Decke von den Gräten herab über Dorf und Flur und dehnte sich gegen Norden in alle Fernen hinaus. Nichts schien zu leben als wir drei am Fenster. Eine mörderische Einsamkeit umgab uns. Wir Kinder wagten nicht mehr zu reden.

»Wenn das nur nicht Krieg bedeutet!« seufzte Verena leise. »Oder eine Krankheit wie die schwarzen Blattern oder Hunger und Teuerung! Du liebe Zeit, Brot und Milch haben ja schon um drei Rappen aufgeschlagen.«

»Oder der Jüngste Tag, Mutter, wenn der käme«, flüsterte ich.

»Farben am Himmel, ja, so steht es geschrieben«, sagte die Mutter mit feierlicher Bibelstimme. »Aber ich glaube eher, der liebe Gott will uns mit diesem Kometen warnen. Passet auf, heisst das, sonst ...!«

»Was sonst?«

»Immer schlechter wird die Welt«, klagte Verena. »Letzthin haben zwei Buben im Badischen ihre Mutter vergiftet, denkt einmal! Und die Mannsleut wollen nicht mehr in die Kirche und verhocken den Sonntag im Wirtshaus. Und die Weiber trinken Schnaps, und die Väter laufen fort. Und überall ist Streit. Jetzt fängt schon wieder ein Krieg an, auf dem Balkan oder wo. Der Pfarrer hat es selbst gesagt. Ganz verdorben sind wir ...«

Tief bedrückt senkten wir Geschwister den Kopf. Mit grausamer Klarheit funkelte der Komet auf uns herab.

»Auch ihr zwei zankt immer«, predigte die Mutter leise fort. »Immer habt ihr Streit. Ich kann sagen, was ich will. Wegen einem Nusskern schlagt ihr euch. Und ihr schlafet ein beim Rosenkranz, aber vor- und nachher mault ihr laut genug und schimpft, wenn ihr mir nur das Garn halten solltet und denkt immer ans Essen und Auf-die-Gasse-Springen. Ganz wie der Vater. Und er, er, ach ... Wie sollte da unser Herrgott nicht die Geduld verlieren und so einen Wink an den Himmel malen und sagen: ›Jetzt warn’ ich euch sum letzten Mal. Wollt ihr parieren oder nicht? Ich hab’ jetzt genug! ‹«

Schwer schnauften wir Kinder, ich Engbrüstiger doppelt schwer.

»Er braucht nur mit dem kleinen Finger zu winken, und unsere Erde fällt zu Staub zusammen. Und wieder ein Wink, und eine nagelneue Erde steht da, mit viel bessern und schönern Menschen. Man muss sich nur wundern, dass Gott es nicht längst getan hat, dass er so lange zuschauen mag! Wir verdienen es gar nicht ...« schalt die Mutter weiter.

Ich hatte heute Pauline am Zopf herumgezerrt und war gegen alles Verbot das Treppengeländer rittlings hinuntergeglitten. Aber dabei ward der Sitzboden, den meine Mutter noch so säuberlich und ach, so mühselig, mit ihren kleinen feinen Sticken vernäht hatte, aufgerissen worden. Und Äpfel hatte ich im Keller gestohlen und das alles an einem einzigen Tage, ich Unhold. Oh, ich war schlecht. Der Komet dort oben wusste das. Mich schaute er ganz besonders böse an. Wenn es kracht, trifft es unzweifelhaft mich zuerst.

»Was muss man denn machen, Mutter?« bat ich zaghaft. »Denk’ nur, ich hab’ schon wieder ein grosses Loch in den Hosen ... weil ... , und ... oh, jetzt rutsch’ ich nie mehr auf den Lehnen hinunter, sicher nicht ... Mutter ...«

Hätte Verena den Dreiangel am Tag bemerkt, es hätte eine Tracht Hiebe auf meinen sündigen Hintern abgesetzt. Denn in ihrem peinlich saubern Sinn war ein zerfaserter Saum, ein abgerissener Knopf, ein Flecken am Ärmel oder gar ein Loch im Kleid ein arges verbrechen, das Sühne heischte. Jetzt aber musste ich nur die Hosen holen und vor ihr ausbreiten. Beim Anblick des gräulichen Risses langte sie zwar unwillkürlich mit der kleinen, aber nervigen Hand nach mir aus. Aber dann liess sie den Arm wieder sinken. Vor dem schreckhaften Arm Gottes am Himmel schien es ihr doch unstatthaft, auch noch ihr kleines irdisches Gericht zu zeigen. Den und bitter verschlossen, sah sie lange den Schaden und dann den Schadenstifter an und ergab sich darein. Aber dieser Blick tat mir mehr weh als die härteste Züchtigung.

»Liebe, liebe Mutter«, stammelte ich nur und suchte ihre Hand.

»So seid doch jetzt endlich brav und habet acht aufs Gewand«, mahnte die Mutter. »Dann haben wir nichts zu fürchten, komme, was wolle.« – Und wieder blickte sie furchtbar ernst auf die zerrissenen Hosen. Das war etwas so Wichtiges, dass ich beinahe glaubte, alles Elend der Welt stamme von daher. Die da morden und erschiessen, sie fingen sicher zuerst mit solchem Unfug an, sie zerrissen ihre schönen ganzen Gewänder. Dann wollten sie noch mehr zerreissen, das Kleid und Eigentum der andern, die Ruhe, den Frieden, Recht und Sitte, Ordnung, Gesundheit und Wohlstand. Sie konnten nicht mehr anders als alles durchlöchern und zerfetzen. Sie zerrissen das Volk und Land, griffen sogar nach dem Schöpfermantel Gottes, wenigstens an seine untersten Säume, und wollten – ich sah’s auf einem Bilde so – sie elend zerschleissen. Ja, so ist es! Oh, nur keine Hosen zerreissen, nur ganze Hosen behalten! Dann gibt es keine Kriege, keine Sünden, keine Kometen, dann kann man ruhig schlafen. Nie, nie will ich ferner auch nur den kleinsten Riss in die Hosen bekommen.

Ich weiss nicht mehr, wie lange wir noch den geschweiften Stern am frostigen Nachthimmel beguckten. Ich weiss nur, dass am Morgen meine Hosen wieder wohlgeflickt am Bettpfosten hingen. Ein solides Stück Stoff war mit kleinen starken Stichen in den Sitzboden hineingenäht. Die Hosen schienen stärker als je.

Aber ach, wo der Komet gedroht, lachte die Sonne wieder ihre goldenen Schollen herunter, und die Welt wurde wieder leichtsinnig. Und wie oft hab’ ich alter Sünder die Hosen noch zerrissen. Man kann nicht anders. Es gibt zu viele Ecken und Kanten im Leben und – schliesslich waren es doch nur Hosen.


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