Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Zum Klausner

Ich sagte schon, wie im 15. Jahrhundert unser Dorf mit einem seltsamen Sachsler beglückt worden sei, einem aus den Bergbauern, als Knabe schon mit einem geheimnisvollen Blick und einem feinen Gehör für jedes Geräusch aus der Ewigkeit begnadet, sonst gewiss rauhhändig und derbknochig wie alle Bergler. Er molk und mistete, mähte und schlug Holz, besass ein folgsames Weib und einen langen Esstisch voll Kinder, angefangen vom Ältesten, der Landammann wurde, bis zum Knirps zu unterst an der Tafel, der von der Pariser Theologenschule ins hiesige Pfarramt trat. Flühe oder Flüe heisst Fels mit spärlichem Wuchs im Gestein, und da dieser Bauer im Antlitz solcher Hänge wohnte, ward er Niklaus von Flüe genannt. Aus seiner Familie leben heute Hunderte dieses schönen Namens im Kanton, und es fällt auf, dass ein richtiger von Flüe noch heute jenes länglich-breite Gesicht, jene weiten Augen, jene schön gebaute Nase und jenen, ich möchte sagen, klangvollen Mund besitzt, den wir auf dem uralten Totenmal des Bruderklaus entdecken.

Sein gesetztes kluges Wesen, sein klares Erfassen der Dinge, sein Ernst und seine totale Unparteilichkeit liessen ihn schnell im Ansehen des Landes steigen. Aber da war ein Widerstand in ihm, ein Zug nach Alleinsein, nach Menschenflucht und Gottesnähe. Herrliche und tiefsinnige Gesichte verfolgten ihn, aber er überwand sich lange, tat den Gatten-, Vaters- und Bürgerspflichten volle Genüge, sass in der Obrigkeit, lernte den Unrat der Politik bis zum Ekel schmecken und zog sich erst, als seine weltlichen Aufgaben gelöst waren, als gesunder herber Fünfziger aus allem Weltgewerbe in bis Einsamkeit zurück. Dem Herrgott, der ihn so heiss und fast gewaltsam verfolgt hatte, und der Zwiesprache mit den ewigen Dingen wollte er fortdann leben. Er spürte, dass gerade diese Lebensweise ihm passe, wie einem andern der Gottesdienst im Schwall der Öffentlichkeit, einem Dritten am Pult, in der Studierstube zugedacht ist. Es gibt viele Wege. Ein Tor, wer Gott korrigieren und pedantisch auf eine und dieselbe geometrische Gerade drängt. Die Geographie Gottes ist unendlich.

Da lebte der Bruderklaus nun, ein grosser Faster und von irdischen Bedürfnissen fast wie ein Engel losgelöst, unsäglich selig in seiner Ranftklause, bis ihm bis Obrigkeit zwischen steilen Bergen über der Musik des Schneegewässers in den Schatten der Tannen an eine kleine artige Kapelle gebaut hatte. Hier sah er Tiefes und Hohes, wovon seine Zunge redet, und fand jenes kleine Riesengebet, das nach dem Vaterunser gewiss das mächtigste und schönste ist. Noch steht die Kapelle, noch hangen die Tannen zur Zelle nieder, noch rauscht der Fluss, noch steigen die Berge aus dieser Enge rechts und links wie Türme empor und blickt unsäglich hoch, schmal und feierlich der Obwaldner Himmel in diesen historischen Winkel nieder. Aber leider können sie nichts von jenen zwei grossen Jahrzehnten erzählen, die hier vor vierthalbhundert Jahren gelebt wurden, und Bruderklaus hat keine Zeile geschrieben.

Man weiss nur, wie nach und nach das Volk den Weg auch in diese Klausnerei fand. Denn mit solchen grossen Menschen entsteht auch immer das Gefühl in der eiteln Welt, dass ihr etwas fehlt und dass man es vielleicht hier holen kann. So strömte denn auf diesen Hügelwegen eine grosse Wallfahrt in den Ranft, einfache Leute, aber auch Doktoren, Adelige, Regenten, Schriftsteller, Äbte und Bischöfe. Könige und Herzöge sandten Briefe und Geschenke, die ganze damalige Schweiz verneigte sich vor dem Waldbruder, der nicht einmal schreiben konnte.

Zuerst schien ihm das ein Verrat am Einsiedlertum und gewiss fehlte wenig, dass er sich nicht in unnahbare Gebiete versteckt hätte. Aber als Bauer und praktischer Landsmann hatte er das Gefühl der Nachbarlichkeit doch auch in der Klause nicht verloren. Er erhob es nun in eine reinere, geistige Höhe als Ratgeber der Seelen, als Warner und Tadler, als Wegweiser Gottes. Sein Wort war knapp, beinahe rauh, aber von tiefer innerer Milde. Von diesem Verkehr her wissen wir über den Bruderklaus. Die Pilger redeten und schrieben vollen Herzens davon.

Wenn man nun von Sachseln die schönen Bergmatten emporsteigt, eine Stunde lang, dann öffnet sich auf einmal hinter aller Süsse des Sarnersee-Tales, gegen das Gebirge zu, die tiefe Melchaaschlucht, und es ist beim Hinuntersteigen in diesen Bruderklausen Ranft, als sei man in eine andere, der Ewigkeit ganz nahe Welt geraten. Man fühlt noch etwas vom Atem und Geist des Eremiten hier, verschlafene edle Gefühle erwachen, Eitelkeiten zerstieben, grosse Ziele klären sich, die Seele bekommt Schwung und oft einen begeisterten Imperativ, aus dem gar zu Menschlichen sich wieder mehr ins Göttliche zu vertiefen, kurz, dieser Ranft ist für den rechten Sinn ein rechtes Heil.

Noch gut erinnere ich mich an einen meiner ersten Pilgergänge dorthin.

Es war ein Septembertag voll Licht. Wir assen früh zu Mittag, dann zog die Mutter ein dunkelseidiges Kleid aus ihrer jungen guten Zeit an, nicht um sich, sondern um dem Bruderklaus Ehre zu erweisen.

Wir drei Geschwister waren in hellem Übermut. Vor lauter Freude gleich jungen Hunden sprangen wir zehnmal voraus und zurück. Die Mutter wollte schon unterwegs mit uns wechselweise beten, wie viele Pilger tun; aber da flogen Bergfalter herum, da gab es Haselnüsse, da schwänzelte ein Eichhörnchen durchs Geäst und immer war eine neue Neugier vor uns: nein, es ging nicht.

Nun waren wir drei Geschwister alle ziemlich reizbare Naturen, die ältere Schwester regiererisch, die jüngere gutmütig, aber unberechenbar und eigenwilligen Blutes und ich zum Necken unwiderstehlich geneigt. Ich weiss nicht mehr, was für eine Nichtigkeit es war, aber auf halbem Wege entstand zwischen uns ein erbitterter Zank, mit bösen Worten, giftigen Augen und zorniger Anklage bei der Mutter, die langsam und ganz in den Sinn dieser Wallfahrt versunken hinter uns ging und lange nichts merkte, bis wie sie kreischend am Ärmel zogen und aus ihrem stillen Himmel jählings in die wüste, verzerrte Landschaft unseres Haders hinunterrissen.

Sie rief zuerst zwei, drei gebieterische Worte. Aber die Kinderwut war viel zu hoch gestiegen. Wir überschrien sie, weinten beinahe vor Ärger, knufften und stiessen einander vor ihren Augen, nichts anderes als kleine rabiate Teufel. Und doch, es war um ein anfängliches Nichts, wie immer, in der Kinderstube sowohl als in der Weltpolitik.

Da wurde das kleine, schmale Gesicht unserer Mutter grau wie Asche. Sie hatte vielleicht noch eben darüber gesonnen, wie der Jüngling Niklaus von Flüe einst im Traume sah, dass eine schlanke Lilie aus seinem Munde gewaltig gen Himmel wachse. Aber da trabte sein Zugpferd herzu und frass die Blume weg. Und so, war die Lehre, verhindere der niedrige Instinkt, die triebhafte tierische Laune, alle Entfaltung nach oben. Oder Verena dachte, wie der selige Mann im Gericht zu Sarnen sass und bei einem Urteil plötzlich Schwefelzungen aus dem Munde etlicher Kollegen hervorbrechen sah. Da legte Bruderklaus das Amt nieder und ging der Gerechtigkeit nach. Oder sie überlegte, wie der Gottesmann einst durch die stille Flur eine unvergleichliche Stimme singen hörte, die zum Eintritt und Trunk in eine schöne Halle einlud. Da floss über Marmorstufen ein kostbares Bächlein herunter, in drei unvermischten Wellen von Milch und Wein und Wasser. Und wer die Schalle füllte und davon trank, dem war, als ergriffe die Schönheit, Liebe und Fülle des dreieinigen Gottes sein Innerstes mit Himmelsgewalt, er verlor alle Runzeln und Müdigkeiten und konnte die Leute rings im Felde nicht begreifen, die da ackerten und sich fast zu Tode schwitzten und sich doch nicht eine Minute schenkten, um jenem Rufe zu folgen. Und da freute sich unsere Mutter, dass sie für diesen Mittwoch die Werktagsarbeit weggeworfen, auf den so nötigen Tageslohn verzichtet und sich mit den Kindern in einer Art Gottesdienst zum Gebete im Ranft aufgemacht hatte.

Und nun zerrten wir Kinder, denen sie einen heiligen Tag schenken wollte, zerrten sie zu jenen Harthörigen, den Richtern, die Schwefel speien, zum lilienfressenden Tier hinunter, kurz, in den sündigen Alltag!

Noch weiss ich genau die Stelle, wo meine Mutter auf einem Fleck starr und grau wurde. Ganz nahe war eine Brücke und rieselte in einem tannumstandenen Bett ein dürftiges Gewässer. Jenseits der Brücke begann rechts ein Wald, aber vor der Brücke, links am Wege, ganz nahe, stand das sogenannte »LichtägeIkäppeli«, ein winziges Kapellchen, zu klein für den Gottesdienst, aber doch mit einem Altartisch und dem Bild der schmerzhaften Mutter Gottes, wie sie den Leichnam ihres Sohnes im Schoss hält, diesen verdorbenen, verwüsteten Leib mit unsäglichem Jammer betrachtet und so fahl und blutlos wird vor Not wie der Tote hier. Etwa acht Personen haben in der Kapelle Platz. Oft wenn der Gram wegen unseres Vaters Leben oder die Sorge um uns die kleine Frau besonders schwer drückte, mussten wir hier hinaufgehen und beten. Diese Mutter, die den Schmerz so gründlich kennt, wird uns gut verstehen und unsere Vaterunser im Himmel mit ihrer heiligen Stimme wirksam begleiten.

Im ersten Augenblick schien es, als wolle unsere Mutter rechtsum machen und wieder heimgehen. Denn wie konnte man so wallfahrten? Dann aber packte sie mich mit der einen, Paulinen mit der andern Hand und schob uns mit furchtbarem Ernst zum Kapellchen hinein. Die kleine Johanna trottete hintendrein.

Und ehe wir uns noch fassen konnten, begann die Mutter laut: »Vater unser, der du bist ...«, aber brach jählings ab und rief: »O Gott, das, das sind meine Kinder!«

Es ist nicht zu sagen, wie uns wurde.

»Lies, was da steht!« gebot die Mutter erschütternd. Ihre Stimme drohte zu brechen.

»Oh, ihr alle,« begann ich, »oh, ihr alle, die ... die ihr hier vorübergeht ... sehet an ... ob ...«

Ich kam nicht weiter. Schluchzen übernahm mich.

»Du!«

Pauline senkte den Kopf.

»Sehet an,« las unsere Kleinste und Unschuldigste mit heller Stimme, »ob ein Schmerz meinem Schmerze gleiche.«

Oh, es brauchte keine Worte mehr. Wir verstanden. Auch unsere Mutter war eine schmerzhafte Mutter und wir, wir, ihre eigenen Kinder, nahmen ihr noch die letzte Freude weg.

Wohl noch nie hatten wir Geschwister zusammen ein so einhelliges, herzliches Vaterunser gebetet wie nach diesem Vorgang. Dann drängten wir uns im Weitergehen um die Mutter, wollten ihr das Täschchen tragen, den Ellbogen stützen, und ich rannte, sobald ich eine Hecke verrammelt sah, hitzig voraus, löste den Holzriegel, öffnete den Zaun weit oder zog die Hagbalken heraus, auch den untersten unnötigerweise, damit die Mutter nicht einmal den Schuh hochheben müsse. Wir sangen Lieder und Johanna fand zwei reife Brombeeren, die alle beide die Mutter essen musste. In einer Wiese wurden Birnen geschüttelt, man rief uns, einige zu holen. Wir versorgten sie gut in den Taschen, aber keines dachte trotz des Durstes daran, auch nur eine anzubeissen, weil die Mutter nicht liebte, dass wir zur Unzeit und unterwegs ässen.

Endlich hatten wir die Höhe zwischen den beiden Bergzügen erreicht und stiegen in die rauschende Melchaaschlucht ab. Dort klommen wir die Zelle des Bruderklaus empor, bogen die Köpfe, so niedrig war der türlose Eingang, betrachteten die Bank und den Stein, worauf der Einsiedler einst schlief, atmeten das fromme Dunkel und die alte Zeit ein, die solche Menschen gebar, guckten durch das eine kopfbreite Gitterfensterchen in die Kapelle hinein und durch das andere, aus dem der Weise zum harrenden Volke so kurz und gut gesprochen hat, in die grüne Wildnis hinaus. Und die Mutter erzählte, wie er von ranken und bedrückten Leuten überlaufen wurde, wie er für die schwierigsten Burschen den rechten Vers wusste, wie er ins Zukünftige sah und Tod und Teufel so wenig wie Schnee und Regen fürchtete. Hieher seien die Boten in Schweiss und Glut gerannt: er möge helfen, ganz Sarnen brenne; oder: das ganze eidgenössische Haus brenne in Bruderhass und drohe auseinanderzufallen. Und beide Male tat Bruderklaus das Wunder und löschte die Feuersbrunst. Und hier streckte er sich über die schmale Bank und starb ewigkeitsfroh.

Ganz begeistert war ich, und die uralten Legendenbilder an der Kapellenwand, als wir hinunterstiegen und den Rosenkranz beteten, die stille Bergsonne vor den Fenstern, das ernste Rauschen von der Melchaa herauf, kurzum diese Berührung mit dem Überweltlichen riss mir die Seele auf, und in einer heiligen Trunkenheit streckte ich die Arme aus und sang Gloria in excelsis Deo und Dominus vobiscum, als wäre ich ein fertiger, messefeiernder Priester. Da schlug mir die Mutter sachte die Hand auf den Mund und sagte: »Später einmal, später! Jetzt sei brav und bete.«

Dann gingen wir in die untere Kapelle, die am Flusse steht, und dahinter aus seinem niedlichen Häuschen winkte uns der Waldbruder, ein bekutteter bärtiger Einsiedler, der damals den Ranft bewohnte und schon durch seine einsame Erscheinung das Andenken an den Bruderklaus wunderlich schön weckte.

Er liess uns durchs enge Pförtchen ein, aber riegelte rasch hinter uns zu, wie in einer Burg. Es roch von Nässe, Nebel, Äpfeln und wohliger Gesichertheit das Treppchen hinauf.

In der kleinen Stube gab es nichts als Bücher an der Wand und einen Tisch mit Tinte, Feder, viel Papier und einer rauchenden Kaffeekanne und kleinen, dicken Tassen. Vom Fenster sah man an die graue Bergwand und davor ins brummige Vorüberwälzen der Schneewasser.

Wir tranken den guten Kaffee und der wunderbare Bruderklaus und der ordinäre Waldbruder hier verschmolzen sich in meinem Sinn in eine und dieselbe beneidenswerte Gestalt.

Also da riegelt er sich ein, dachte ich, der selige Mann, braut einen Kaffee und wirft viel Zucker hinein, schnitzelt Käse und Brot dazu, guckt in hundert Bücher, redet mit dem Wasser und dem Berg, aber lässt sie nicht herein und dann sitzt er zum Bogen Papier und schreibt von Himmel und Hölle und allen Wundern Gottes. – Und es zwickte mich eine Lust, ein Neid, ein Rausch, und ich griff nach der Feder und überschwemmt von Gefühl vermochte ich nichts als einen gewaltigen, bildlosen, schreienden Strich über den ganzen Bogen zu reissen.

Die Mutter schlug mir derb auf die Finger, und ich erschrak vor mir selber. Der Waldbruder jedoch lachte rauh und sagte: »Ist mir das eine Schriftstellerei!« Dann schob er die Schnupfdose aus dem Ärmel, stopfte kräftig in die Nase und entliess uns mit einem Heiligenbildchen aus seiner zauberischen Heimatlichkeit.

Noch oft warf mir die Mutter den tollen Schnörkel vor. Aber wie oft wiederholte er sich! Wenn ich dem Schauen und Schildern der Wunder am nächsten war, gelang mir nichts als so ein Massloser Schnörkel übers Papier – und fertig.


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