Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Sie nehmen mich aufs Knie

Aber noch immer kannte ich die Berge nicht recht. Ich merkte nur, dass sie uns vor andern Ländern und Menschen standen. Sie sicherten uns. Aber sie sperrten uns auch ein. Wir bekamen einen festen, aber keinen weiten Blick. »Was kommt hinter dem Sachslerberg?« fragte ich. – »Die viel höhern Urner und Berner Alpen.« – »Und dann?« – »Die noch höhern Walliser Gipfel.« – »Und dann?« – »Italien, Mailand, Zitronen, ewige Sonne.«

Zu gewissen Zeiten läutete ein Zug wohlgewachsener Kühe, Rinder und Stiere durchs Dorf, Kühe vor allem, schokoladebraun, mit zarten und doch so sichern Beinen, mit der melodischen Gliederung vom Kopf über Hals, Schulter und die zweimal geneigte Rückenlinie zu den straffen Flanken hinunter, wahre Ideale von Mass, eine unerreichte Mischung von Wucht und Eleganz, würdiger als Löwen und jedes andere Tier, die Portalpfosten der alten Tempel zu tragen. Die Sennen trugen ein mächtiges Edelweiss oder die noch weit köstlichere Steinraute am Hut und schwangen den Stecken auf eine so weite Art, als ginge die Reise in heillose Fernen. Wohin mit der Landskraft? Über den Gotthard nach Mailand. Zum grossen goldklirrenden Viehmarkt der Ambrosiusstadt. Und die Mädchen grüssten und summten:

Annämarieli, Zuckermili,
Wo hest dui dini Chiäli?
z’ Mäiland innä, z’ Mäiland innä,
Hinderem rotä Fliäli. –

Damals bohrte man erst am Gotthardtunnel. Hirt und Herde mussten noch über das rote »Fliäli«, das ist über die Gotthardflühen und das enge Tessin hinunter, an den Seen vorbei ins lombardische Tiefland. Von dort kamen sie ohne Vieh zurück, aber mit klimperndem Beutel, mit Wein und Mais und farbigen Tüchern und vielem Gewelsch wie Fazenetli, Jungfer Gspuis, Callaziä, Polenta und mit einem Blitz fremder heissester Sonne in den Augen. Und sie waren stolz und erzählten es sozusagen mit geballten Fäusten, wie viel bei den Mailändern die Unterwaldnerkuh und ihre Milch gegolten habe, mehr beinahe als vor Jahrhunderten der Unterwaldner selbst mit seinem tollen Söldnerblut.

Wir rutschten unruhig auf der Schulbank hin und her, wenn wir den Zug auf der Strasse hörten. Wir reckten die Hälse, und es gab Knaben, die sich zuflüsterten: »Schau, die grosse Lisi des Furrersepp! das Rind des Marchtoni! ... Nein aber, nein aber, die Kälber vom Bunzliklaus sind auch dabei; ob es die aushalten! – Hoppla, der Halden Muni (Stier)!« –- So gut kannten die Burschen die Tiere, während ich nie eine Kuh von der andern unterscheiden konnte.

Jedoch, eines Tages rutschten wir besonders wild auf unserem jungen Sitzleder hin und her. Denn da wurde verkündet, dass wir morgens um sechs Uhr auf dem Schulhausplatz aufrücken sollten. Es gelte eine Fahrt ins Gebirge hinauf. Jeder zahle fünfzig Rappen. Und es wurde bestimmt, wer die langen Brote an einer Schnur über den Rücken tragen solle. Und dass jeder etwas Zucker und ein Geschirr mitbringe. Alles andere, Milch und Käse und Butter und kristallenes Wasser gebe der Berg.

Welch ein Gerumpel von Freude erschütterte die muffige Schulstube. Ich konnte vor Erregung lange nicht einschlafen. Jetzt fingen die Berge an in meine Nähe zu rücken und zu erklären, sie seien ein bisschen verwandt mit mir.

Mühsam, aber glückselig ging es im Morgenschatten bergauf. Ich schnaufte und schwitzte wie ein Hengst. Aber je höher ich stieg, desto leichter wurde mir, als fielen die Erdgewichte, eins ums andere, von mir weg. Wenn es so weitergeht, werd’ ich bis Abend fliegen.

Die obersten Berghäuser lagen schon tief unter mir, wir schritten durch würziges Tannengehölze, dann auf feuchte, fettgrasige Alpweiden hinaus. Unser Dorf Sachseln in der Tiefe, ja, der ganze Heimatkanton Obwalden schrumpfte zwerghaft zusammen, die Kirchen im Talboden wurden fast unmöglich klein, der Sarner See, sonst für uns ein Meer, ward mit dem ersten Blick umfangen, die jenseitigen, zahmern Berge sanken ins Knie, vom Norden blitzte der Vierwaldstätter See herein, ferne Höhenzüge und wellige Ebene blauten aus dem Dämmer zwischen Pilatus und Stanserhorn ins Ländchen. Unser lieber Sarner See lag da wie ein schönes stilles Gesicht, aber mit Augen bald blau, bald grau, bald grünweiss, und man schauderte, wie tief ihr Blick ginge. Die so wichtige Kantonsstrasse war nur noch ein weisser Faden und so dünn, dass ihn eine Ameise zertreten konnte. Merkwürdig fern tönten die Kirchenglocken in unsere ruhige Luft hinauf. Meine Lunge überschwoll von Atem, mein Auge von Bildern, mein Herz von Seligkeit.

Wir erreichten die Untere Maus, eine kleine Alpe, dem Vater des Mattlisepp gehörig, und rasteten ein wenig. Dann stiegen wir in die Obere Maus. Dort hing in der Hütte über dem Herdfeuer ein gewaltiger Kessel mit Milch. Ha, wie wir unsere Näpfe boten, das Brot tunkten, in den gelben Käse bissen und den Geruch von Scheiterrauch und Milch und Heu und Viehdampf mit geblähten Nüstern einsogen!

Aber immer zwang es mich, mit meinem Geschirr in der Hand vor die zweigeteilte Hüttentüre zu treten und ins Land hinunter- und in die geöffnete Berg- und Himmelsweite hinauszuschauen. Nie hätte ich geglaubt, dass die Welt so schön sein könnte. »Und warum«, fragte ich in meiner Dummheit, »baut man das Dorf nicht in solchen Höhen? Wie sicher wäre man da oben vor dem Krieg und vor der Pest und sogar vor dem Teufel.« Ah, auf einmal begriff ich jene drei Jünger auf dem Tabor, als sie nicht mehr ans Heimgehen dachten, sondern gleich hier oben drei Hütten bauen wollten. »Ich täte es auch«, sagte ich in meinem glücklichen Fürwitz zu mir.

Wir lagerten nach dem Essen unter den vordersten Bäumen des Bergwaldes in seliger Gelöstheit des Leibes, bis der hohe heisse Mittag sich ausgebrannt hätte. Unsere Zungen gingen wie Vogelschnäbel. Die süsssalzige Luft und übermächtige Freiheit machte uns schier trunken. Einige Knaben pfiffen oder jodelten ununterbrochen. Viele trugen Holzsandalen und schleuderten sie übermütig vom nackten Fuss den Hang hinunter. »Dort, ist das nicht das Schulhaus?« sagte jemand und zeigte mit der grossen Zehe nach einem kleinen weissen Flecklein im Gelände. »Schulhaus«, wiederholte Leo Haas, und das Wort klang so tot, so nichtig, so wesenlos, als ob es nie eines gegeben hätte. Auch der Lehrer war nicht mehr der gleiche Mensch hier oben. Er machte Spässe, redete wie ein alter guter Kamerad mit uns, drohte nie Pst! und Scht! und rauchte jetzt auf der Hüttenbank mit dem Obersenn eine Zigarre.

»Wer will noch kuhwarme Milch?« fragte uns der Mattlisepp. Ich kann schon melken, wenigstens die Susann hält still.« – »Ich«, erwiderte jemand zum Spass. Denn wir waren alle toll und voll. Neugierig folgte ich und, wahrhaft, der tapfere Mattlisepp steckte den einbeinigen Melksitz fest setzte mit geknoteten Fingern an den Euterzicken an und rang straff die warmen weissen Spritzer hervor. »Genug«, rief ein kleiner Vetter Theodor. Er hatte seinen Filzhut statt einer Schüssel hergehalten, tat einen Schluck und reichte das schaumige Nass weiter. Und einer nach dem andern trank aus dem verschwitzten Hut und schleckte den Mund ab und sagte: »Malefizgut!«

»Jetzt will ich euch zeigen, wo es Süsswurzel gibt«, versprach Joseph und zog uns an einen steilen Ranft. Im Abgrund rauschte ein Bach. Köstlich, hier gruben wir die knotigen, zähen, gelbholzigen Würzelchen hervor, deren Saft so süss wie Zucker ist. »Du bist ja ein Hotelier«, scherzte Engelwirts Baptist. »Ja, das Wasser gebe ich billig«, spasste der sonst so zurückhaltende Joseph, »zwei Schoppen, zehn Schoppen, alles gratis.«

Kaum hatte man Wasser gesagt, so wurde alles wieder durstig. »Wo hast du’s, dein Wasser? Ist es aber auch wirklich wässerig genug? Her damit?« schrie man. Und der elastische Mattlisepp führte uns zur Holzröhre, woraus der dünne Quell in den Trog rieselte. Wir tranken aus der Hand. Wie gut! Wasser ist doch das beste. Immer kann man Wasser trinken. Jeden Bach haben wir heute fast bis auf den Grund abgeküsst.

Und weiter ging es, nun ordentlich den obersten Falten und Hängen dieser Voralpenfeste zu, ins Mettental, unterhalb des morschen Wandelengrates. Jetzt wurde die Gegend ganz alpin. Die Bäume hörten auf, selbst die finstern Arvenstrünke. Dafür deckte Alpenrosengebüsch die Mulde. Es war Juni, die Sträucher im frischesten Flor, die Blüten noch wie schmale tiefrote Weinbecher eng geschlossen und jenes unsagbare Aroma ausgiessend, das keinem andern Blumenatem gleicht und nach Schnee, Stein, Wind und frischem Tierblut duftet. Wir bekränzen uns wie Könige oder Dichter. Durch wildes, kurzes, glasiges Gras und Steingerölle klommen wir aufwärts, den Zinnen entgegen, so wenig müde, als wollten wir noch heute in der grossen gelben Wolke, die hoch und gelassen über den Gipfeln lag, unser Nachtquartier aufschlagen. Jetzt blickte ich nicht mehr hinab, nur noch empor.

Dann und wann zerriss der Pfiff eines Murmeltiers oder das Gekreisch von Bergdohlen die Einsamkeit. Immer dürftiger wurde der Wildwuchs, immer reicher der Stein. Plumpe Blöcke wuchteten im Boden, wie kleine Häuser. Losgebrochen von den Zinnen waren sie in einem erhabenen Galopp bis hierher gerollt.

Da, auf einmal eine jache Musik, etwas Schneeweisses! Sieh, sieh, ein noch ganz junger, ganz unerzogener Bach schiesst daher. Er flockt und spuckt und spritzt bübisch seine Gischt herum. Alles an ihm ist Lärm, Schaum und Flegelei. Aber trotzdem oder eben darum, wie schön ist er und wie verwegen. Kopfüber rennt er den Abgründen zu. Wir wollen seinen kühlen Silberschaum trinken. Aber der Spitzbube narrt uns gottlos und bevor wir einen Tropfen auf die Zunge bekommen, sind wir schon um und um pudelnass. So tunken wir denn Zucker und Brot in sein Gespritz und vespern munter neben diesem glücklichen Abenteurer, der nie in eine Schule gehen muss. »O freilich«, entgegnet der Lehrer, »muss auch dieser Kerl durch alle sechs Klassen säuberlich durch.« –

»Wieso?« fragen wir ungläubig. – »Ei,« lacht Lehrer Beat, »schon dort unten muss er sich durch eine schmale Schlucht winden. Da bekommt er es dreimal enger als ihr in euren Bänken. Wie in einer Zange krümmt er sich. Ein böses Abc. Und dann packt ihn der See und jagt ihn ordentlich geputzt in die Sarner Aa. Wer gute Augen hat, sieht das Flüsschen dort weit unten, so ein glattes, tugendhaftes ... ein ...«

»Herr Lehrer, ich will nichts sehen«, lacht Leo Haas.

»Und nichts hören«, fügt Josef Müller bei, und sie schliessen scherzhaft die Augen und stecken die Finger ins Ohr.

»Ein Viert- oder Fünftklässler«, fährt Herr Beat mit boshaftem Eifer fort. »Und gleich heisst es in Mühlen und Sägen greifen, und wenn er faulenzt, wird er durch den Rechen gezogen und gestriegelt und so geht es von sieben Uhr früh bis sieben Uhr spät und ...«

»Hören Sie auf, Herr Lehrer, oh, hören Sie doch auf«, beschwöre ich mit erhobenen Händen.

Aber Lehrer Beat fühlt, dass er heute noch nichts doziert hat und dass jetzt eine kleine Predigt sehr wohl in unsern wachsenden Übermut passt. »Die Aa hält ihn fest, den Knirps,« berichtet er weiter, »und er muss exakt im Schritte gehen, wie sie will, und lernen, ernsthaft werden und systematisch arbeiten. Und wenn er trotzt, schlägt man ihm ein Brett vors Maul oder steckt ihn in eine Zwangsjacke.«

»Genug, genug«, schreien jetzt mehrere Buben und trommeln sich vors Ohr. »Für jetzt ist der Bach einmal hier und braucht nichts zu lernen.«

Der witzige Müllersepp, ein ungebärdiger Junge, hält einen dürren Landjäger hoch, spaltet ihn mit einem Messerhieb und befiehlt mehr als er bittet: »Nehmen Sie mir den halben ab, es ist ein echter aus Appenzell, ich trag’ ihn doch nicht mehr heim.«

»Zugegeben,« meint Lehrer Beat um eine Note menschlicher, »hier, in dieser Wildnis, ist der Bach noch ... noch vogelfrei. Das heisst, er braucht noch nicht einmal zu buchstabieren. Aber«, fügte er bei und hob warnend die halbe Wurst empor, »ohne Schule kein Leben. Merkt euch das! Alle Tage wie heute, ihr würdet keine ordentlichen Menschen, ihr wäret wie die Gemsen oder Schneehühner oder Murmeli, ja, ihr würdet wie Tiere. Das Haar wüchse euch am Hals und Rücken hinunter.«

»Und das wäre schön«, lispelte Johann Kehrer und winkte mir verstohlen zum Bach. Dann schob er ein Fläschchen aus dem Kittelfutter und sagte: »Da ist auch noch ein Schluck Barbera für dich, wenn du magst ...«

»Nein,« schrie ich, »Wasser, Wasser!« und lief fast in das wilde Geschäum hinein. Mir brannte die Kehle, ich musste immer trinken. Das Leben hatte sich mir heute wie Himmel und erde so weit aufgetan und das machte mir sicherlich einen solchen unversieglichen Durst.

Dies war die Höhe des Tages, sein Taumel. Ich kannte meine Kameraden nicht mehr. Keiner stritt, keiner regierte, keiner gehorchte, wir lachten uns ohne Worte an wie Brüder und hatten doch das Herz auf der äussersten Lippe. Goldgelb fiel die reife Sonne gegen Westen, ein feierlicher Dunst stieg aus dem Tal, der Bach orgelte gewaltig, Brot und Zucker und Wasser schmeckte so köstlich, die höchsten Gipfel grüssten uns wie Nachbarn auf Armweite, und die Luft, die süss-salzige Luft füllte unsere Nasen. Die Hüte bekränzt, den Stab schwingend, sang jeder etwas anderes als der andere und meinte das gleiche. Und als wir in sohlenleichten Sprüngen bergab zogen, war uns allen, als trügen wir einen bessern Menschen, mehr, eine bessere Menschheit heim. Aber wir wussten auch, dass es einen solchen Tag nie mehr geben könne.

Die Dorfstrasse hineinstolzierend oder hineinhinkend blickten wir aus dem Abendschatten noch einmal und schier ungläubig zu den erstiegenen Höhen. Noch klebte ein wenig Sonnenuntergang wie letzte Blutstropfen des Tages an den Zacken der Wandelenkette. War es möglich, dass wir vor zwei, drei Stunden noch dort oben wie Götter residiert hatten? Und jetzt waren wir wieder nur Menschen, Schulbuben, Staubschlucker. Und furchtbar werktäglich tönte des Lehrers Abschied am Schulhausweg wieder: »Also morgen die Landkarte nicht vergessen! Wir werden das schweizerische Zentralgebirge durchnehmen.«

O wie schnell hatten wir gelebt. Jetzt fing schon wieder das Papier an.

Aber nun kannte ich die Berge ein bisschen, wenigstens bis ans Knie hinauf, bis an die Brust. Ich war noch nicht auf Du mit ihnen, das ist wohl niemand, aber auch noch nicht auf das ehrerbietig-heimelige Ihr. Ich sagte noch Sie zu ihnen. Aber ich fühlte deutlich, das werde noch anders kommen. Freilich, dass ich einst dutzend- und dutzendmal aus dem Papier der Kultur mich zu ihnen flüchten und an ihrer rauhen, ehrlichen Natur wieder auffrischen werde, das ahnte ich damals noch nicht.


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