Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schnupftabak und Weihrauch

Unvermeidlich gerät jeder Dorfbub zuweilen in unsere vier geistlichen Stuben, sei es, dass er beim Pfarrer ein Gebetbuch holt, dem jungen, hüstelnden Pfarrhelfer ein Dutzend frische Eier bringt, dem Frühmesser, dem Riesen, der meisterlich die Orgel schlägt, das Geld für die Musik bringt, die er bei Brüderchens Taufe machte, oder beim alten Kaplan die lateinischen Sprüche für den Altardienst lernt, und aus hundert andern viel wichtigern Gründen. Gar oft ist es ein Bussgang, um einen väterlichen Tadel, seltener ein Triumphschritt, um Lob zu empfangen.

Mit einer gewissen Beklemmung läutet man an der Pfarrhoftür. Da sieht alles so wunderbar blank aus und die steile Stiege hinauf riecht es so kostbar von Äpfeln, Schnupftabak, aber auch von Wachs und Weihrauch. Weltluft und Kirchenluft schweben ineinander. Man ist noch nicht im Himmel, o nein, zu viel Schnupftabak! Aber auch nicht mehr so völlig auf Erden, zu süsses Weihrauchgewölk!

Es sind einfache Stuben wie bei bessern Bauern, aber sie blitzen geradezu von Sauberkeit. In der einen Ecke spannt der Gekreuzigte seine müden Arme. An der Türe hängt der weisse, gefältelte, steife Chorrock. Auf dem Tisch liegen Schriften, die violette Stola und ein Goldschnittband. Ein kleiner, schwarzgefleckter Hund knurrt unter der Ofenbank, aber vom Käfig, der über den Fuchsien, Geranien und Kaktustöpfen des Fenstergesimses hängt, schmettert der Kanarienvogel: lass ihn be-be-be-be-bellen! Die birnenförmig geschweifte Wanduhr tickt dazwischen fleissig: was gibt’s? was gibt’s? was gibt’s? Und vom Friedhof, zehn Schritte oberhalb, hört man die Schaufel des Totengräbers auf Steine stossen. Morgen wird da die zweiundachtzigjährige Rosa Rohrer beerdigt, die eine Stunde vor dem Verscheiden noch voll Appetit ein geräuchertes Würstlein ass. Leben, Tod, Grab, Auferstehung, das gibt’s!

Der Pfarrer Antonius ist ein Bauer in aller Priesterlichkeit geblieben. Er redet wie ein Bauer, isst wie ein Bauer, marschiert wie ein Bauer, selbst noch im goldgewirkten Rauchmantel mit der silberstrahligen Monstranz in den Händen. Aber er ist auch ein Priester, geht Tag und Nacht zu den Kranken, sitzt unermüdlich im Beichtstuhl, tauft, unterrichtet, gibt Ehen zusammen, zelebriert und vespert, teilt mit den Armen sein Letztes und hält jedem Toten die gleiche rührende Grabrede. Er spricht durch die Nase, laut und schnarrend. Das imponierte mir. Ich ahmte es nach, wenn ich an meinem Hausaltärchen in einem Messkleid aus Tapete das Credo sang.

Im übrigen liebte er sein tägliches Schöpplein Roten und seine zwei Zeitungen, tat daneben keinem Buche weh, sprach mit Mühe und Gerumpel Hochdeutsch und musste sich an seiner vielbesuchten Wallfahrtskirche mit französischen oder italienischen Kollegen durch einige freundlich geknurrte lateinische Sätze verständlich oder häufig noch unverständlicher machen. So ein Obwaldner-Bauernlatein, man denke!

Er hatte mühsam studiert, bei weitem Weg, magerem Zehrpfennig, kargem Talent, einem Stück Brot und Käse im Ränzlein für das Mittagessen. Von Saus zu Haus musste er in den Ferien kollektieren und Freitische am spätern Studienort suchen. In solcher Gepresstheit der Jugend haben sich viele unserer tüchtigsten Geistlichen zum Altar gerungen. Aber auch nacher blieb bei den meisten Schmalhans Meister. Sie erleben Ehre und Kampf und oft ein Salzmeer von Arbeit, und sterben mit gefalteten Händen und leeren Schubladen, diese herrlichen, unvergesslichen Diener der Seelen.

Antonius wusste nicht mehr und nicht weniger, als er knapp brauchte, und er besass gewiss keinen Ehrgeiz über den Kalpaneikamin hinaus. Aber nun, da er schon zu den Vierzig rückte, starb der Pfarrer. Dessen Gehilfe war zwar sehr tüchtig, aber auch sehr jung, ja, kaum recht in den Chorrock geschlüpft. Dazu fühlte das Volk etwas unbäuerlich Gescheites, unpassend Herrisches in dem Jüngling, etwas Unruhiges, Aufregendes für seine uralte Behaglichkeit.

Der zarte, hübsche, junge Ludwig liess ein längliches Gelock von kastanienbraunem Haar übers Ohr fallen; er trug eine ätzend scharfe Brille, hatte in Mailand studiert, sang Sequentia sancti Evandschelii statt Evangelii. Das alles missfiel. Er soll Evangelii sagen, das ist schweizerdeutsch.

Als es nun zur Pfarrwahl kam, hörte Antonius halb erschrocken, halb froh seinen Namen durchs Dorf gehen. Erfahren, geübt in der Seelsorge, ein Liebhaber der Alten, kein Bücherschmecker, im Beichtstuhl mild, am Altar würdig und rasch, das gefiel. Und dass er ein halber Bauer geblieben und seine derbe Nase in kein weisses Schnupftuch schneuzte, das gefiel doppelt.

Was mag wohl Antonius damals gelitten haben in seinem kindlich unschuldigen Herzen, bis er frech genug war, zur Wahl Ja und Amen zu sagen. Dass er sich wenig zum Kilchherrn eines Gotteshauses eignete, das von Bischöfen und Kardinälen besucht, von Historikern und Doktoren der Theologie ausgeforscht wurde, er, der von aller Seminarweisheit nur einen Fadenschlag behielt, das musste er bis in die Fingerspitzen fühlen. Vor allem, er konnte nicht predigen, es sei denn am Johannistag vom Beil des Herodes und am Josefstag vom Hobel des hl. Zimmermannes, und dann die immer gleichen Grabreden. Ludwig aber war ein überaus tüchtiges Kanzeltalent.

Es haben Kaiser und Päpste gezaudert, die anerbotene Krone zu berühren, und eine unheimliche Nacht vor dem Ja durchgefochten. Dichter und Geschichtsschreiber machen davon ein unsägliches Wesen. Aber alles, was in welthistorischer Weite hart und weich erlebt und wie ein Wunder bestaunt wird, alles, alles hat auch das hinterste Dorf auf seine Art erfahren, mit demselben Blut und Nerv, derselben Angst und Kühnheit, demselben Urteil vor Gottes Gericht. Die Welt ist nichts anderes als ein grosses Dorf, und ihre Helden sind nur etwas breitere und lärmendere Dörfler.

Auch der junge Herr Ludwig wand sich in jenen Wochen zwischen dem Lob seines Talents und dem Tadel seiner Jugend wie im Biss einer Zange, und wenn nachts noch spät von einem geistlichen Haus zum andern das Fenster leuchtete, wäre es schwer zu entscheiden gewesen, unter welcher Lampe die tiefere Unruhe wachte. Da wollte dem Antonius so wenig sein Glas Affentaler als dem Ludovicus der beliebte Segneri schmecken. Aber schliesslich schlugen sie beide das Kreuz und beteten mit der gleichen Flucht aus der Alltäglichkeit ins Ewige jenes Nachtgebet der Priester, das so gross anhebt: Noctem quietam et finem perfectum concedat nobis dominus omnipotens.

Dann schliefen sie den guten traumlosen Obwaldnerschlaf, bis die Frühmessglocke vom nahen Turm in ihre Kammer donnerte, und Göttliches und Menschliches spann sich durch einen weiteren Tag.

Antonius wurde Pfarrer, und Ludwig unterzog sich in ehrlicher Demut und blieb mit seinem zehnfach hellern Kopf über zwanzig Jahre der untergeordnete, treue Pfarrhelfer. Aber Antonius machte es ihm leicht. Er überliess ihm die Kanzel zur Alleinherrschaft. Hier wenigstens war der Pfarrhelfer Pfarrer, Bischof, Papst. Wie schön erklärte er die heiligen Bücher, wie begeisternd zeigte er das Leben in Christus, wie wippte er auf den Fussspitzen im leidenschaftlichen Erguss über die Leiden und Triumphe der Kirche! Für mich war es jedesmal ein solcher Seelengenuss, dass ich mich am Prediger mit allen Kräften festsog und beim Amen mich nur mühsam wie aus einem heiligen Rausche in die, ach, so nüchterne Wirklichkeit zurückfand.

Manchmal wenn der Prediger im heiligen Schwung des Zornes oder der Freude geradezu erglühte, dann stupften sich die harthäutigen Männer mit den Ellbogen und verdrückten ein Lächeln. Auch dem Pfarrer auf seinem rotgepolsterten Stuhl ward es dann unbehaglich. Nur nichts Ungewöhnliches! Aber nie, auch beim offenbaren Schnitzer des Temperaments nicht, redete Antonius seinem Untergebenen ins Amt.

Wer den Pfarrer wirklich kannte, hat ihn auch wirklich geliebt. Denn es wirkte eine tiefe, reine Einfalt in diesem Manne. Man durfte sich nicht durch eine gewisse rauhe Majestät, durch ein Aufbrausen wegen Kleinigkeiten, durch ein jähes Schelten und Brummen beirren lassen. Ach, Antonius schützte sich ja damit nur wie der Igel mit den Stacheln, um Achtung zu erzwingen und um die Weichheit seines Innern zu schirmen.

Einst am Neujahrstag stand ich an der Pfarrstube und rief das übliche »Gesegnetes Jahr!« hinein, als gerade der Briefbote mit den Postsachen kam. Es war nach dem Mittagessen, stark verspätet.

Da polterte der Pfarrer so grimmig gegen den armen Kerl los, dass das Stüblein zitterte: »Das hat keine Art! So nehmen wir es nicht an. Da kann man’s dem Hund zu lesen geben, nicht mir ...« Und so weiter. Die Pfarrköchin strich an der Wand entlang mit dem Zweifränkler, den sie dem Pöstler als Neujahrsbatzen geben sollte, zur Tür, indem sie in schlauer Ergebung mit dem Kinn wackelte, was nicht besagte: Du hast recht! – aber auch nicht: Du hast unrecht! – sondern einfach: Wie Ihr wollt, Herr! Wie Ihr wollt, Herr, Amen.

Der Sigristenkarli aber fiel nicht um, wie ich sicher glaubte, sondern sagte geduldig, heute gebe es eben viel Post, und er sei noch Neuling im Dienst. Indessen Antonius wollte nichts annehmen und donnerte weiter: »Am Nachmittag ist man endlich da. So pfeif’ ich doch auf den Briefträger. Da kann ich ja selber aufs Büro gehen. Eine Lumpenordnung. Und ... und ... ja, sicher bist zu zuletzt zu mir gekommen, sicher hat der Pfarrhelfer seine Post schon längst.«

Ah, mir ging ein Licht auf.

Es war die Angst, dass man ihn zurücksetze, der Argwohn der kleinen Intelligenz, gegen andere Köpfe benachteiligt, gering geachtet zu werden. Daher diese aufgerichtete Majestät, diese mächtige Stimme, dieser Protest, womit er Bedeutung bewahren wollte, wovor wir Uneingeweihte zitterten, während der Briefträger unbekümmert ade sagte und vor dem Pfarrhof aus seinem üppigen Munde den unterbrochenen Ländler fertig pfiff. Er hatte den Pfarrer in der gesetzlichen Reihenfolge bedient, aber gab sich nicht einmal die Mühe, auf den grimmigen Anwurf zu antworten, etwa auf die noch übervolle Brieftasche zu klopfen oder die Post für den Pfarrhelfer zu zeigen. O nein, er ging ruhig weiter.

Da riss Anton das Fensterchen auf und schalt: »Willst nicht einmal den Neujahrsbatzen? So stolz ist man! He, du! Da nimm und verrauch’s nicht schon heute!«

»Die Jungfer Köchin hat mir schon den Zweifränkler gegeben«, hörte ich vom Strässchen herauf antworten.

»Das geht mich nichts an«, sagte Antonius mit erzwungener Strenge und liess in silbernem Bogen einen Fünffränkler hinunterschiessen. »Und du,« wandte er sich voll Sonnenschein im wuchtigen Bauerngesicht zu mir, »möchtest, denk’ ich, auch was. Da schau’!«

Er kehrte den lotterigen Geldbeutel über den Tisch um. Ein Zweifränkler und etliche Zehn- und Fünfräppler fielen heraus. »Rech’ es zusammen! Magerheu!« spasste er. »Marsch in den Hosensack damit!«

So war er. Wie oft gab er die letzte Münze!

Aber auch für sein Kinderherz brauchte er den knorrigen Stachelpanzer. Wie schnell war er gerührt, wie hurtig netzten sich seine umbuschten Augen, wie oft lief ihm vor Mitleid das Herz davon!

Am Karsamstagabend, in der übervollen Kirche, wenn nach tagelanger Trauer auf einmal die Orgel wieder aufjubelte und die sechs Turmglocken johlten und Antonius im prachtvollen Ornat über die schlafenden Wächterfiguren des heiligen Grabes am Altar emporstieg und in Weihrauch und Zimbelschall die Monstranz ergriff und ins Volk hinuntersang: «Christus ist erstanden!« – jedesmal dann erschauerte er vor Glaubensrührung, und das glorreiche «Erstanden« ging in einem kinderseligen Schluchzen unter. – Gegen solche Weichheit gab es keine andere Abwehr als diese Stacheln des Igels. Wie oft hat er sich selbst damit schmerzlicher gestochen als die Umwelt.

Einem Bauern am Berg sollte das linke Bein über dem Knie abgenommen werden. Das Kind holte den Geistlichen, damit er dem Vater in so grosser Gefahr die Sterbesakramente reiche. In der Aufregung läutete es beim Pfarrhelfer, der sich weniger mit der Krankenpastoration befasste als der Pfarrer, dem es eigentlich galt. Die Helfersköchin berichtigte sogleich den Irrtum und sprang zum Pfarrer mit der Meldung.

Also der Pfarrhelfer ward zuerst benachrichtigt! So etwas Ernstes bekam er erst aus zweiter Hand, er, der Prinzipal! Wieder brach das Gewitter los, wieder rauschten die Papiere auf dem Tisch und knirschten die grossen Schuhe des Pfarrers über die weisse und braune Täfelung des Parkettbodens, und wieder wackelte in schlaufrommer Ergebung das Kinn der Jungfer Köchin: «Wie Ihr wollt, Herr, ganz wie Ihr wollt!«

Dieses demütige Nicken und Wackeln besänftigte den Pfarrer immer schnell. Es gab ihm gleichsam Satisfaktion. Nun war er befriedigt. Sein Schelten verrollte, und ein schwaches weisses Lächeln, ganz wie bei einem abziehenden Gewitter, schien über die breite, rauhe Landschaft seines Gesichtes.

Er holte in der Kirche die Hostie, die letzte Wegzehrung müder Himmelssucher, und aller Groll war verraucht. Als er die Türfalle der Krankenkammer aufdrückte, war er wie ein Lamm. Mild nahm er die Beichte ab, spendete die Kommunion, erteilte die letzte Ölung und sprach den Sterbeablass über den Armen, dem der kalte Brand vom Bein herauf in den Oberleib dringen wollte und der so schwach dalag, dass man zweifelte, ob er die Operation überstehe. Todessicherheit dort, Todesgefahr hier.

Aber Antonius verrichtete seine heilige Sache so würdig und tröstete so felsenfest, er verschluckte das Wort Sterben so energisch und verdoppelte das Wort Gesundheit so laut, dass eine helle Art Mut die ganze Kammer füllte.

Doch als ihn die Bäuerin dann ans Fenster winkte und er die zwei Doktoren mit länglichen, schwarzen Kästchen unter dem Arm den Feldweg heraufkommen sah, ein Gehilfe und eine Wärterin hinter ihnen, übernahm ihn das Mitleid, und er lief ans Bett und sagte: »Hansmaria, was kann ich Euch noch helfen? Was mögt Ihr?« ... Und er griff in die rechte Tasche: »Da, nehmt das rote Nastuch, ’s ist Seide, hab’s eben eingestopft, könnt’ es als Halstuch brauchen. Und da ist eine Medaille von Jerusalem ... und da ... ja, nehmt nur!« Er leerte den hässlichen Geldbeutel auf die Decke aus, Kupfer, Nickel, Silber durcheinander und einen Westenknopf. »’s ist wenig, nehmt! Und da ist noch ... oh, das ist für nachher ... sobald es brav vorüberging ... ’s geht flink, Ihr merkt keinen Flohstich ...« Er steckte, indes seine gewaltige Stimme zitterte, den Zapfenzieher wieder ein, aber schlug damit an den einen Frackschoss. Es klang und gluckste wie von einer Flasche. Der Bauer musste lachen, obwohl es ihn bis in die Zehen schmerzte. «Bitte,« bat er, «gebt mir noch eine Prise Schnupf.« Antonius hielt die Dose her, nickte: «ja, das tut gut! Nehmt nur eine volle!« und schlug dann den Deckel zu. «So, Hansmaria, jetzt muss es gut gehen.« – Ja, so ein Bauernpfarrer!

Dann floh Antonius hinaus in eine Kammer neben der Küche. Denn er wollte bleiben und beim Erwachen des Mannes dabei sein, geh’ es obsi, geh’ es nichsi! Aber er hörte die Stimmen der Ärzte und das Rutschen der Stühle zu gut. Jetzt würden die Instrumente klirren, und man würde Schreie hören. Da schlich der breite, starke Mann bebend zur Hintertüre hinaus und versteckte sich unter das nahe Gehölz. Er betete mit zagen Lippen ein Vaterunser nach dem andern. Die Zeit wurde ihm schmerzhaft lang. Endlich, endlich gingen die Herren Doktoren. Sie hatten die Kästchen wieder unter dem Arm und redeten kein Wort. Der Begleiter trug ein langes, rundes Paket, wohl das abgesägte Bein.

Oh, wie rannte Antonius ins Haus! Es roch nach Karbol. Blutige Tücher schwammen in einem Zuber. Die zwei Kinder kauerten auf der Küchenbank. Die Wärterin, Luise Schäli, mahlte Kaffee und tröstete: »Jetzt gibt’s ein Butterbrot.« Die Hausfrau weinte, als sie den Pfarrer sah, vor Schmerz und vor Freude. Es sei gut abgelaufen. Draussen dunkelte der Abend die Berghalde herauf.

Da warteten sie nun auf das Erwachen des Patienten, die Frau Regina und der Seelsorger, er unten, sie oben am Bett. Es war schwüler Sommer. Ohne Federdecke lag der Schläfer da. Unter den Bettüchern hob sich dort, wo das Knie begann, ein Hügel, dann, wo der Unterschenkel folgen müsste, gab es nichts mehr. Platt fiel das Linnen auf die Matratze. Das war grausig. Man wollte es übersehen und musste doch immer wieder gerade an diese Stelle blicken.

Der Schlaf war ruhig. Der Herzschlag sei brav, sagte die Wärterin den Ärzten nach und biss voll Appetit in ein Butterbrot, ohne den scharfen, zum Niesen reizenden, sauren Zimmerodem zu beachten. Sonst wäre einer der Doktoren doch noch dageblieben, fügte sie wichtig bei. So aber könne sie es allein machen. Nur dürfe man mit dem Hansmaria nicht reden, wenn er erwache, damit er gleich nochmals einschlafe. Er ist zu schwach. Mehr als einen Liter Blut hat er verloren.

Nein, da könnt’ ich kein Butterbrot essen, dachte der Pfarrer und sah ergrausend den nassen, aufgewaschenen Boden vor dem Bett. Und was tu’ ich da, wenn ich mit Hansmaria nicht reden darf?

»Dann geh’ ich halt«, brummelte er, aber wickelte noch eine dunkelschöne Flasche Veltliner aus dem Frack. Der Wärterin entfuhr ein Schrei.

Unbekümmert zog Antonius den Zapfen mit dem Zieher heraus, ohne Schütteln noch Zerbröckeln, höchst kunstgerecht. Man merkte, es geschah nicht zum ersten, nicht einmal zum zweiten Mal.

»Wo habt Ihr ein Glas? So, das gebt Ihr nun dem Hansmaria randvoll zu trinken, sobald er den Mund auftut. Aber in kleinen Schlücken. Nehmt den Kaffeelöffel! Er hat dann Durst wie ein Ross. So ein Tropfen stärkt ungemein.«

»Aber, Hochwürden, das geht nicht«, wehrte sich Luise.

»Freilich geht es.«

»Die Doktoren haben gesagt, ich dürfe dem Hansmaria gar nichts geben vor sieben Uhr morgens, nur den Mund anfeuchten mit dem Saft aus dem Gütterli hier.«

Antonius roch am Fläschchen und schob es verächtlich zurück. »Gebt es meinetwegen! Aber zuerst dies Glas Wein, löffelweis. Sonst wart’ ich und tu’s selber. Das hat noch nie geschadet.«

»Aber Schwester Bartholomea, wisset, die Operationsschwester im Spital zu Sarnen, die hat mir selbst gesagt ...«

»Die lasst im Frieden!«

»Und wenn es dann schlimmer wird?«

»Ich nehm’s auf mich.«

Entsetzt und hilfeheischend sah die Wärterin zur Hausfrau. Aber die hing am Munde des Pfarrers, als ständ’ er am Altar.

»Ihr habt den alten Zoller nicht gekannt?« begann Antonius zu erzählen.

»Pst, pst, nicht so laut.«

»Wir sind doch nicht im Beichtstuhl«, knurrte der gute Herr, aber versuchte doch zu flüstern. »Also dem hat man vormittags den Kropf geschnitten, einen Kropf gross wie ein Kuheuter vor dem Melken. Dann liess man ihn fast verdursten über den Tag. Als er nachts einmal erwachte, hielt er’s nicht mehr aus, strampelte aus dem Bett und suchte wie ein Hirsch, wo ein Quell springe. Aber da hatten sie vorher alle Trinksame wohlweislich entfernt. Nur eine grüne Flasche sah er auf dem Kasten. Flugs herunter damit, schmeckt daran, Gift ist’s jedenfalls nicht, also ausgeleert bis zum Bodensatz. Hat dann wieder geschlafen und ward ihm herrgottswohl.«

»Was war denn das?« fragten die zwei Frauen leise.

»Altes, altes Weihwasser.«

»Ja so,« gab Luise zu, »das ist gesegnet, das ...«

»Auch der Wein hier ist gesegnet, am Stephanstag in der Kirche. Ihr kamt zum Altar und nahmt doch auch einen Schluck, und dazu einen saftigen, Schwester Luise!«

»O Herr Pfarrer«, wehrte die Jungfer errötend ab. Sie liess sich fürs Leben gern Schwester nennen.

»Also gebt ihm das Glas voll, verstanden!«

»Wenn Ihr’s befehlt«, zauderte Luise.

»Gerne, gerne«, frohlockte die Bäuerin. »Sankt Stephan ist ein starker Heiliger. Aber Ihr seid müde, Herr Pfarrer, und sollt jetzt absoluti heimgehen. Tut uns nur noch die Ehre und trinkt erst so ein Glas auf.«

»Zum guten Beispiel!« scherzte Antonius. Und wie er das Glas kundig füllte, so leerte er es auch, leise, bedachtsam, mit dem Blick nach innen, ohne Schmatzen und Schlürfen.

»Sollt’ etwas passieren, so holt mich ohne Federlesen. Aber es passiert nichts, und der Maria hüpft Euch bald mit einem Bein so tapfer herum wie nie mit zweien.«

Er sprach noch ein stilles Gebet vor dem Kranken. Vorbei war Wein, Spass, Not, Schrecken, vorbei Dorf und Welt, vor dem Herrgott stand er, und als er segnete, schien er der Mächtige aus einer bessern Welt.

Am nächsten Morgen berichtete das Kind, es gehe daheim gut, die halbe Flasche sei getrunken, der Vater danke. Da nahm der Pfarrer den Jungen an der Hand, stieg mit ihm leise zum Keller hinunter, packte ihm noch zwei Flaschen ein und sagte: »So ein Veltliner vom alten Kreuzwirt und Sankt Stephan und ein bisschen Widerstand im Leib, das zusammen tut Wunder. Aber die Luise darf die Nase nicht dreinstecken. Nimm’s unter die Schürze!«

Das waren die zwei letzten seltenen Flaschen gewesen, die ihm der kleine Ministrant Theodor vom Grossvater Götschi zum Antoniustag hatte bringen müssen.

»Oh, es wird wieder Antonitag«, lächelt der Pfarrer ins leere Gestell hinein.

So war Antonius, und wenn ich früher sagte, dieser Pfarrer sei ein Mann der Gewöhnlichkeit gewesen, so füge ich jetzt bei, aber sehr oft von der heiligen Gewöhnlichkeit eines Kindes.


 << zurück weiter >>