Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Abenteuer des Buches

Das Gehäuse des Pfarrhelfers Ludwig lag schmuck und winzig wie ein Spielzeug in der grünen Wiese, das reinste Schneckenhaus, und stiess mit dem Garten an den obern Friedhof. Das »Stübli« mass wohl nur zwei gute Schritte in die Fenstertiefe und vier oder fünf in die Länge. Aber dieses Zwergzimmerchen war mir das vertrauteste und liebste, denn in der Ecke stand der Bibliothekkasten, dieser Speiseschrank der Leser im Dorf, woraus man alle vierzehn Tage eine bestimmte kleine Portion holen durfte.

Aber der Hunger oder die Neugier meiner Seele war grösser als das ganze Buchlager hier, und Nikola, die schlauäugige Schwester des Helfers, besass Mitgefühl genug und bot mir statt zwei oft drei Bücher und steckte mir noch einen Apfel in den Sack. Doch ich Undankbarer ward auch so nicht satt und als sie mich später selbst auslesen liess, da schob ich noch zwei Bücher unter die Weste und trieb es dann gewissenlos so weiter, bis der ganze Kasten ausgeweidet war.

Einstmals begegnete ich von solchem Diebsgang dem strengen Herrn Ludwig unter der Haustüre. »Was hast jetzt geholt?« fragte er nicht sehr wohlgelaunt, und seine übernatürlich scharfen Brillengläser versengten mich fast. Er visitierte die drei Bände. »Herchenbach und immer Herchenbach!« schalt er. »Spukgeschichten, Abenteuer, Räubereien, gefällt dir das so? Und keine Heiligengeschichte, keinen Kirchenvater, nichts Geistliches! Und willst doch Geistlicher werden!«

Wenn er mir nur nicht auf die Brust tupft mit seinem schneeweissen Finger, dachte ich bange. Denn das pflegte er im Eifer zu tun, mit der harten Zeigefingerspitze einem auf die Weste zu pochen wie an eine verrammelte Türe, die man öffnen, nötigenfalls aufbrechen muss.

»Ich habe nichts Neues gefunden«, stotterte ich. Ei, wenn er wüsste, dass ich zwei Romane von Walter Scott unter dem Brusttuch barg.

»Larifari! ich finde dir schon etwas.«

Er jagte mich wieder die Treppen hinauf zum Kasten und suchte unter den klerikalen Büchern, Heiligenlegenden, Kirchenhistorien. Aber ich hatte nicht gelogen, längst war dieser ganze Vorrat mit wahrer Gier von mir verschlungen worden. Ich kannte alle Heiligen des Kalenders, wusste von jedem Märtyrer die Folter und Todespein, kein Papst, kein Bischof war mir fremd, ihre Kämpfe, ihre Wunder trug ich glühend im Sinn.

»Da, die Väter der Wüste!« Ludwig bot mir ein altes vertrautes Buch der Gräfin Hahn-Hahn.

»Das hab’ ich schon zweimal gelesen.«

»Karl Borromeos Leben, Wirken und ...«

»Seliges Sterben ... Schon gelesen, Herr Pfarrhelfer.«

Herr Ludwig ward unwirsch.

»So nimm dies hier: Bilder aus den Katakomben ...«

»Gelesen, Hochwürden, längst gelesen ... Kallistuskatakombe, Clemenskatakombe ... oh, ich weiss.«

Jetzt schnauzte der junge cholerische Geistliche mich an: »Und den Band hier ›Vom Kulturkampf?«

Wie gut kannte ich auch dieses Werk mit den lehmbraunen Deckeln. Schade für das ehrwürdig-heroische Thema, dass es in langatmigen und langweiligen Sätzen schier erstickte! Aber nun wagte ich nicht mehr abzulehnen und log heuchlerisch: »Nein, das ist mir bis jetzt entgangen, danke, danke!«

»Siehst du, so ein Prachtbuch entgeht dir. Ja, ja, wenn man den Kopf voll Spinnen hat. Da lies nun einmal, was unsere heilige Mutter, die uralte Kirche, noch vor wenigen Jahren vom übermütigen Vormund Staat zu leiden hatte. Nimm nur den zweiten und dritten Band auch mit. Das bildet!«

»Aber das geht nicht in zwei Hände.«

»So schieb ein paar unter die Weste. So hab’ ich’s als Student und Bücherschmecker oft gemacht.«

Verblüfft sah ich auf, und mir wurde heiss. Seine Gläser glitzerten und glosten jetzt von schalkhafter Erinnerung.

Aha, schoss es mir durch den Kopf, der Helfer hat es exakt wie ich gemacht, beim Eid, er war genau so ein Spitzbube.

»Nein,« sagte ich scheinheilig, »ich will die Herchenbachbücher hier lassen. Ich will jetzt nur diesen Kulturkampf lesen, nichts von Geistern und gestohlenen Kindern mehr.«

»Brav so«, lobte Herr Ludwig, streckte den Finger und zielte auf meine Brust los.

In Todesangst wich ich einen Schritt zurück und schrie beinahe: »Ja, Herr Pfarrhelfer, jetzt will ich vor allem solches lesen, nicht so dumme Romane, die einen noch im Schlaf plagen. Nein, von den Märtyrern und Einsiedlern und den Verfolgungen der Kirche.«

Und ich mit der steifen, von Walter Scott gepanzerten, treulosen Brust wich vorweg bis zur Stiege zurück, während der drohende Finger des Helfers mir folgte. Dann nahm ich alle Verzweiflung des Augenblicks zusammen und rief: »Ade, ade, die Mutter wartet ...« und flog die wenigen Stufen hinunter, Herrn Ludwig oben am Geländer kopfschüttelnd, aber auch voll Genugtuung über sein gutes Werk zurücklassend. Walter Scott war gerettet. Liebkosend strich ich unterwegs über die beiden Wölbungen meiner Brust und musste lachen. Wahrhaft, ich sehe wie eine Amme aus. Am gleichen Abend hatte ich schon ein gutes Stück von Waverly verschlungen. Der andere Band hiess Ivanhoe.

Seitdem bin ich in grossen Büchereien gestanden und habe, was mir nur behagte, sogleich aus Zehntausenden von Bänden auswählen können. Aber so eine helle, gehobene Feierlichkeit mich noch immer unfehlbar in jeder Bibliothek, vor jeder Bücherwand befällt, so lässt sie sich doch niemals mit dem damaligen naiven Entzücken vergleichen, wenn ich die Türe des schmalen Bücherschrankes im Helferstübchen aufsperrte, die paar hundert numerierten Bücherrücken wie bekannte und unbekannte Freunde grüsste und dann einen heraussuchte, der für meine glückselige Neugier der Allerunbekannteste war. Da gab es Christof Schmid, den Ostereier-Verfasser, den Vielschreiber Wilhelm Herchenbach, den heftigen, kampfliebenden Konrad Bolanden; Hendrick Conscience aber, der Flamänder, mit seinem Löwen von Flandern und Jakob von Artevelde, wartete fein und gelassen. Das war der Vornehmste. Dazwischen plauderten Novellen, beteten Legenden, logen Märchen, belehrte Geschichte und Geographie. Im ganzen: viel Kurzweiliges und Erbauliches von längst erloschenen Federn. Alles war streng katholisch und blinkte von Sittsamkeit. Das Wort Kuss kam gewiss nirgends im schamhaften Sinn der Verliebtheit vor. Nur Walter Scott hatte sich seltsamerweise aus der schottischen Hochkirche in diese dörfliche und gegnerische Gesellschaft verirrt. Aber er war auf der obersten Lade, wohin man ohne Stuhl nicht reichte, in eine finstere Ecke gedrückt. Grosse Dichter und Erzähler gab es hier wenige. Die damalige Belletristik, die meine Bubenzeit unsäglich regierte, könnte ich heute nicht mehr geniessen; aber die heutigen Bücher hätten mir damals ebenso wenig bedeutet. Alles hat seine Zeit. Was einst Brot war, ist jetzt Stein und umkehrt. Blosse Unterhaltung darf nicht mehr verlangen.

Ab und zu an freien Schulnachmittagen kam der Pfarrhelfer zu Lehrer Beat, und dann spielten sie zusammen einen Jass. Aus meiner Stube hörte ich die Karten auf den Tisch klatschen, Trumpf rufen, dann schweigen, dann aufgeregt zusammen reden. Dieses Kartenstündchen war die einzige Zerstreuung, die sich der Schulmeister vergab. Aber es musste um Geld gejasst werden, damit das Spiel Sinn und Zweck bekäme. Nach Spielerbrauch duzten sich die beiden.

Doch nicht selten erhob sich Streit, und misstönige Rufe flogen mir ins Ohr. Die gleiche Stimme, die so prächtig Gott von der Kanzel verkündete, brach jetzt, vom Spieleifer gepackt, in unerquickliche, fast schimpfende Worte aus, und der Lehrer, der sonst immer so tief vor dem Helfer den Hut zog, blieb nicht zurück und gab grobes Gegengeld. Aber im Nu war der Sturm vorbei, und mit Lachen gingen sie auseinander. Ich erwähne das, um anzudeuten, dass solche Menschlichkeiten meinen Respekt für den Priester nie auch nur um Fingersbreite verringerten, mir nicht und dem gesunden katholischen Volke überhaupt nicht, weil wir Mensch und Amt wohl auseinanderzuhalten wissen. Diese Unbefangenheit, die uns auch heil durch die schmutzigsten Blätter der Geschichte gehen lässt, und die der Andersgläubige so wunderselten begreift, hat oft etwas so Hinreissendes, Himmelentrücktes an sich, etwas so Kindliches und Heiliges, dass es die Schwächen der Kirchenpersonen, die tausend und Millionen Menschlichkeiten im Heiligtum des Herrn aufzehrt wie die junge Sonne den unreinen Schnee des alten Jahres.

Ich kannte später einen Vikar, der gerne ein bisschen ins Glas guckte und zwar ins Weinglas, das er nicht einmal in rechter Schoppenhöhe ertrug. Man sah ihn nie berauscht, aber er schwankte dann auf den Sohlen, redete viel zu rasch und durcheinander und hätte sicher nicht im Kopfe mit zweistelligen Zahlen addieren können. Lose Burschen lachten darob, eine alte Gevatterin schüttelte den Kopf, die Kinder guckten neugierig drein, und stille Menschen am Fenster zogen sich mit einer Art Beklemmung hinter den Vorhang zurück. Aber wenn dann abends der gleiche Mann vor dem Altar kniete, im spärlichen Schein zweier Kerzen demutvoll das Haupt neigte, das Kreuz schlug und den wundersamen Rosenkranz begann, wenn er so schlicht und kindhaft die Worte Gott und Himmel aussprach, wenn sein Herz in der Bitte um Gnade, um Hilfe, um Licht im irdischen Dunkel zitterte und sang wie die Saite eines ergreifend gespielten Instrumentes, wenn seine Stimme dann in Hoffnung und Frohsinn voller wurde, die dunkle Kirche füllte, unsere Seelen mitriss, die oft so gleichgültig, steif, unlauter das Vaterunser begonnen hatten, bis wir uns alle in Gottes Wärme und Kraft fühlten, sicher, beruhigt, zukunftsstark, und wenn er dann das Amen setzte wie einen Felsen des Glaubens und Vertrauens: So, jetzt ist alles gut, nichts kann mehr fehlen! – oh, wie vergass da selbst der Schalk und Splitterrichter jede Spur von Fehle, wie liebten sie ihn, wie dankten wir ihm! Der Mensch ist wieder in den Priester zurückgekehrt, sagte man, wo er eigentlich daheim ist. – Und so sind fast alle Geistlichen, die ich kannte, wenn sie überhaupt einen Abstecher gemacht hatten, vom Kartenspiel oder Wein oder warmen Fünffränkler, vom Ehrgeiz, Argwohn, Zorn und parteilichen Ansehen der Person, immer wieder sind sie in den Gesalbten des Herrn zurückgekehrt, und das naive Volk versteht das und könnte nur eines nicht fassen, wenn der liebe arme Mensch sich so weit hinaus verirrte, dass er den Weg zum Priester nicht mehr zurückfände.

Am Freitagvormittag kam Herr Ludwig mit der Bibel oder dem Canisi zu uns in die Schule. Stramm erhoben wir uns sofort und grüssten: »Gelobt sei Jesus Christ!« Und der schmächtige Geistliche mit der dicken Schärpe um den Hals hüstelte gewohnheitsmässig und erwiderte ernst: »In Ewigkeit, Amen!« Hierauf verneigte sich der Lehrer ehrerbietig vor Herrn Ludwig und fragte leise: »Wann wünschen Hochwürden, dass ich zurückkomme?« Das war nicht mehr Jass, unmöglich auch nur der Gedanke an das Du. Jetzt gab es nur den Priester. Der Lehrer richtete seine Taschenuhr und entfernte sich leise, sozusagen auf den Fussspitzen, um uns mit dem Katecheten ungestört zu lassen. Nur eine Heustockrechnung an die Wandtafel gekreidet blieb noch als letzter Rest von ihm übrig.

Ludwig begann zuerst mit Abfragen des Katechismus. Ach, da ging es immer etwas schief, und der Katechet wurde gereizt. So leicht der Sinn dieses kostbaren Büchleins zu behalten ist, so schwer sein dürrer Buchstabe. Das wollen so wenige Religionslehrer begreifen. Ludwig entrüstete sich, als ob wir Gott vergessen hätten, wenn wir das Sätzlein über Gott vergassen. Ach, wie konnten wir Gott vergessen! Dennoch gab es bittere Schelte, heisse Schläge, Hinausknien, und die Brille des Helfers glühte bei der Exekution wie beim schärfsten spanischen Inquisitor. Und wie gut begriff ich diesen Zorn, als ich später selbst Katechese hielt und mit der unendlichen Langsamkeit des jungen Menschen nicht im Glauben, aber im Wissen um das Glauben zu ringen hatte. Und wie viel besser noch begriff ich das Kind, das für sein Glauben kein Wissen braucht und in wunderbarer Einfalt Gott und Amen sagt.

Aber wir können leider nicht durchs ganze Leben wie Tolstois drei Greise auf einer fernen Weltmeerinsel sitzen und Kinder bleiben, nicht einmal im Glauben.

Wenn nun Herr Ludwig seinen Sessel vor unsere vorderste Bank rückte, absass, gebot die Arme zu kreuzen und aufzupassen, dann wurde es mäuschenstill, und eine grosse, erleuchtete Stunde hob an. Ein feines dickes Buch unter sich erklärte er uns den Katechismus mit seiner etwas schwächlichen Stimme so ausserordentlich, dass die vorherigen Bitterkeiten beidseitig vergessen waren und man in den höchsten und reinsten Bezirken des Denkens oder Schauens lustwandelte.

Da ging es hinunter in bis abenteuerlich wilden und frommen Tage Israels, hinein in die Fülle des Evangeliums, durch Christi goldene Erlöserpfade, man begleitete Paulus über Meer und Wüste, versteckte sich in die Katakomben oder floh in die Einsiedelei, blutete mit den Märtyrern, kniete vor der Kanzel der Kirchenlehrer und drang ins ewige Wort und fühlte sich von seiner Unendlichkeit getragen. Gewiss gab es auch da Gelehrsamkeit, vielleicht sogar jenen frommen Fürwitz und jene heilige Spitzfindigkeit, ohne die, wenn einmal die Kindeseinfalt verblühte, der prosaische Mensch an Gott leider nicht mehr vorbeizukommen glaubt. Gewiss war auch da das Lehrer mit Erdenschwere behaftet. Und dennoch, dünkt es mich, habe sich im Vortrag des Pfarrhelfers alles, was Buchstabe und Wort und Satz ist, vergeistigt oder in ein seliges Vögelgeschwader aufgelöst, das himmelsuchend und himmelfindend in die Höhen entschwebte. Es war ein Zeigen und Schauen. Ich regte kein Glied vor Versunkenheit in dieses Himmelsspiel. Die ganze Woche hindurch sehnte ich mich nach dieser Freitagstunde und jede kettete mich mit einem neuen goldenen Ring an den zukünftigen Altar.

Auch Herr Ludwig vergass in seinem schönen Schwung die verschnitzelten und verklecksten Sachsler Schulbänke, die Obwaldner Berge, die zu den Fenstern hereinwinkten, sogar das Schweizerländchen, worin wir steckten, er war in Rom oder Jerusalem oder gar über der kleinen Scholle unseres Planeten in den Lüften der Ewigkeit. In diesem Augenblick war er so blank und jung und langgelockt und feueräugig wie Johannes der Evangelist anzusehen, und ich suchte wahrhaft den Adler zu seinen Füssen. Jetzt hätte er ohne Sträuben sein spärliches Geld, seine wollene Schärpe, seine hüstelnde Gesundheit, sein noch so morgendliches Leben und alle Mittagshoffnungen für Gott und für die Ehre und Glorie seines Evangeliums wie ein unnützes Kleid hingeworfen.

Aber was für himmelstürzende Abenteuer zerstörten oft die Weihe dieses Unterrichts! Denn es gab immer einige Harthäutige, die der Hauch solcher Stunden so ungerührt liess wie die Telegraphenstangen vor dem Schulhaus. So hörte der Katechet einst mitten in sein Patmosentzücken hinein das rauhe, nicht mehr zu verhaltende Lachen eines Berglerbuben schräg in der ersten Bank. Was war geschehen? Ein famoser Spass. Der Peter von Flüe, obwohl er fast vor der Nase des Geistlichen sass, eben so ein Ungerührter, drängelte schon lange mit dem kleinen Finger durch das Astloch seiner Bankklappe. Jetzt versuchte er es auch mit dem Goldfinger, während Herr Ludwig gerade von jenem schrecklichen Gottesfinger sprach, der an die Wand des assyrischen Königssaals das Menetekel schrieb. Vielleicht in einer Art Ideenverbindung vom Unterbewusstsein her fingerte nun auch Peter so tapfer herum, bis er mit dem Knöchel durchs Loch hinabschlüpfte. Aber nun ging es nicht mehr heraus. Je wilder er sich mühte, desto mehr schwoll der Finger an. Die Sache bekam einen komisch-gefährlichen Charakter. Der Nachbar kitzelte Peter unter der Bank und lispelte: »Hast denn kein Retourbillet genommen?« Das war zu viel. Ein Lachen brach aus in der zweiten Bank, wo ich neben Elvezio sass, und unser Johannes Evangelist fiel jäh aus seinen Gedankenhimmeln, ohne dass ihn der Adler sanft auf die erde abgestellt hätte. Nein, er fiel hart auf den Boden und tat sich furchtbar weh.

Er schnellte mit verzerrten Lippen und wetterleuchtender Brille vom Sessel auf. Dabei schlug er in der Hast mit dem Arm ein Tintengeschirr um, und ehe es jemand erwehren konnte, hatte sich die schwarze Brühe über sein aufgeschlossenes Prachtsbuch mit den ledernen Ecken und dem roten Schnitt ergossen. Im Schrecken riss Peter glücklich den Finger aus dem Astloch heraus.

Wie ein zweites Unglück das erste totschlägt, so dachte der Pfarrhelfer jetzt nicht mehr an den Unsinn der Buben, an Babylon und Assyrien und an die schreibende Hand an der Wand. Das geschändete Buch war jetzt die Hauptsache. Das schrie um Rache gen Himmel und überschrie jede andere Not.

Denn man muss wissen, was in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein solches Buch, nein, das Buch überhaupt, den Menschen noch bedeutete, welche Andacht es genoss, besonders im Voralpendorf, fern von Eisenbahn und Stadtmarkt, und nun gar bei einem noch von den Studien warmen, wissensdurstigen Geistlichen mit siebenhundert Franken Jahresgehalt. In der heutigen Sündflut von Papier denkt man mit Wehmut, wie klar bedruckt damals das Buch war, auf solidem weissem Blatt, der Rücken ledern, die Deckel bräunlich maseriert wie altes poliertes Eichenholz oder gesprenkelt wie geschliffener Marmor. Diese Deckel wogen schwer und bogen sich in keiner Sonne. Gingen sie bei einem Werke wie dem Ludwigschen gross und wuchtig auf, so war das ähnlich, als drehten sich die Nussbaumflügel eines Portals in den Angeln und als träte man in ein von Wundern gefülltes Heiligtum oder in einen tiefen, vornehmen, vom Gassenlärm abgesperrten Garten. Noch heute, wenn ich einen Band aus jenen Tagen in die Hand bekomme, strömt mir ein einzigartiger, ältlicher, sagenhafter, aber immer noch herzberauschender Duft aus dem Buchschnitt entgegen, und ich versinke in jener gebenedeiten Vergangenheit.

Der Katechet surrte wie eine Horniss herum, suchte den Stecken, liess ihn wieder fallen, riss das weisse Nastuch heraus und schwemmte die dunkeln Brünnlein zu einem Teich in den Buchriss und liess ihn von da ins Tintengeschirr ablaufen. Blitzend und donnernd hantierte er so, Manschetten und Finger teuflisch verklecksend und barsch ein Nastuch nach dem andern von uns fordernd. Willig streckten wir es ihm entgegen. »Hier, hier ist noch ein Fazenetli.« Eine spassige Heiterkeit überkam uns. Dieses Putzen und Spucken und Schimpfen lächerte uns an. Einige grinsten breitmäulig in das Getriebe, ein Knabe schnupfte und schluckte vor Lachkrampf in die Pelzkappe, und einem Klaus Furrer entfuhr von Zeit zu Zeit ein messerdünner hoher Schrei wie ein Hahnengux. Das steckte an. Weiter hinten pfnutterte und knutschte es in allen Bänken.

»Seht, ihr Schlingel, das Buch,« würgte Herr Ludwig voll Verzweiflung hervor ... »und die Manschetten ... und alles zusammen!« ... Und auf jeden Ausbruch schwaderte ein neues Gelächter durch die Schulstube.

Empört rannte der Geistliche zum zweiten Mal ach dem Stecken und drang gegen uns vor wie der Erzengel mit dem Speer. Aber als er die volle Breite und Tiefe dieses Lachens überschaute, eine einzige schadenfrohe Grimasse der Bubenschaft, wie er, in jenem hitzigen Augenblick ein schlechter Leser der Kinderseelen, meinte, verliess ihn die Kraft, er liess Stecken und Buch und Zorn und Feuergeist fallen wie Jeremias vor dem verstockten Jerusalem und brach in erschütternde Klagen aus. Müde warf er sich in den Stuhl und liess den Psalm über uns los, wo ein Vers den andern an Schmerz übertönte. Und jetzt bei so plötzlich umgeschlagenem Wind erlosch unser Humor ebenso plötzlich wie der geringste Kerzendocht. Wir wurden klein, bedrückt, rutschten zusammen, sahen mit hängenden Gesichtern, von unten herauf, schweräugig dem blassen jungen Priester ins Gesicht und hätten ihm am liebsten die Kleckse von den Fingern geküsst und innig gefragt: »Was kostet das versudelte Buch? Sofort legen wir unser Helsengeld zusammen und kaufen dir ein neues, noch schöneres, ganz ledernes.«

Da komme er, schmälte Herr Ludwig, durch den bissigen Biswind bei sechs Grad unter Null zu uns in die Schule, opfere die besten Vormittagsstunden, wo er die Predigt für den Sonntag ausdenken oder sein Brevier verrichten oder am warmen Ofen einen Kirchenvater studieren könnte. Nein, er komme, komme voll Freudigkeit, um uns vom Notwendigsten und Schönsten und Höchsten, was es auf Himmel und Erde gebe, mit heisser Seele mitzuteilen. Er wolle uns, wie es seines Amtes und Eides sei, aus der erdhaften Dumpfheit, aus Geistesschläfrigkeit und Alltagsschlendrian herausreissen und mit einem Hauch des Ewigen erfüllen. Aber indem er sich unendlich bemühe und unendlich hoffe, ach, da hockten wir wie Steine so kalt und hart vor ihm. Nein, nicht wie Steine! Die schwiegen wenigstens und hätten schon aufgehorcht und Amen gerufen, das Amen der Steine, wenn die Menschen mit dem Heiligen Schund trieben. gerade so trieben wir Schund mit dem Evangelium. Denn was er lehre, sei nichts als Evangelium und immer Evangelium.

Wenn er meinte, wir folgten ihm und gingen ihm zur Seite, wie die Schäflein des guten Hirten, und wenn er dann um sich schaute, sieh, da stehe er allein und habe in die Luft gepredigt, und die gottlosen Schafböcke grasen dort und boxen sich hüben und stellen sogar die Hörner gegen den Hirten und verlachen ihn mit ihrem dummen Geblök. Ja, blök, blök, blök machen sie mit ihrer blödsinnigen Schnauze, nichts anderes wissen sie, das ist ihr Alpha und Omega, so gottlos dumme Schafe ...

Hier wollte uns ein leichter Schauder von Lachen überrieseln. Aber wir schüttelten ihn leicht ab. Der Ernst überwog gewaltig, und die Bauernsöhne, die täglich mit dem lieben Vieh zu tun hatten und Männchen und Weibchen gut auseinanderhielten, verziehen dem Helfen ohne weiteres, dass er uns in einem Atem aus Böcken zu Schafen herunterschimpfte. Ach, er ist jetzt zu aufgeregt!

Auch Herr Ludwig, nachdem er sich mit solchen Treffern erleichtert und unsere Zerknirschung bemerkt hatte, wurde nun versöhnlicher. »Wo kommen wir so hin, Kinder?« fragte er mit priesterlichem Kummer in der Stimme. »Wenn wir keinen Respekt vor dem Heiligen haben? Wenn wir nur an Torheiten denken, an Vieh und Heu und Geld und Erdäpfelrösti! Hilft uns das im Elend? gibt es Seelenruhe? macht es das Sterben leicht? Und wenn man noch lacht über die Ewigkeit! Schaut doch in der Welt herum, wie und wo das endet! Nichts als Krieg bei den Grossen und Zank bei den Kleinen, Betteln da, Prassen dort, ausgeschämte Theater, wüste Bilder, verjagte Bischöfe, der Papst durch alle Zeitungen verhöhnt, die Zuchthäuser, Spitäler, Armenanstalten bis unter den Giebelspitz voll, Lieblosigkeit und Verzweiflung allenthalben und Selbstmord über Selbstmord. So ist das Bild, akkurat so!«

Wir senkten die Köpfe vor diesem Hagel von Unheil.

»Ich weiss, ihr habt es nicht so gemeint, ihr habt aus eurer Dummheit heraus gelacht, wegen einer Narretei. Ihr wolltet nicht Gott verspotten. Aber vom Spass ist ein kleiner Sprung zum Spott. Und schlimmer kann es dann nicht mehr werden, wenn ihr einmal Spötter Gottes und seines gesalbten geworden seid. Das ist das letzte, das schwarze Ende eines schwarzen Anfangs.

Nein, werdet ernsthaft, lasset solche Narrenstücke, so ein Spielen und Quengeln, da in ein Astloch hinein wie ein Saugflaschenbüebli ...« er hieb dem Peter unversehens eins über die Finger ... »dort mit Kitzeln und Knuffen ...« eine Ohrfeige flog dem Nachbarsbuben ins Gesicht ... »wie kleine Mädchen, pfui Hans! Lasset das, wenn ich lehre, schaut auf mich, spitzet die Ohren! Das nützt euch mehr als alles Zinsrechnen dort,« er wies auf die Wandtafel, »als Ankeln und Hosenlüpfeln. Versprecht mir das! Wollt ihr? Tut’s Maul auf!«

Gewiss, wir bogen uns in Zerknirschung. Aber das war nun doch nicht unsere Art, ein lautes Bekenntnis abzulegen. Die Bergler küssen nicht gern, schlagen nicht gern, singen und beichten nicht gern vor vielen Augen. Das ist ihnen zu grell. Und unser Herz hatte doch aus stiller Verschüchterung heraus längst ja und wieder ja gesagt.

»Versprecht mir das!« wiederholte der Helfer und erhob sich, da eben der Lehrer, die Uhr in der Hand, leise zur Türe hereintrat. Die Stunde war um.

»Versprecht es mir, wenn es euch wirklich leid tut!« und Ludwig nahm das verdorbene Buch auf.

Der Lehrer stand betroffen still und horchte angestrengt. Seine Blicke suchten den Haselstecken.

»Ja«, wollte ich schreien und blickte mich um. »Ja, Herr Pfarrhelfer.« Aber rings waren alle Münder verriegelt, und mir schien, auch ich könne den Riegel nicht sprengen, obwohl zehntausend Ja mein Herz füllten. Ich allein mit meiner heisern Stimme, wie konnte ich? Oh, ich war ein Held!

Horch, das ist wie eine erste Lerche im Frühling. Wirklich, da flattert ein Ja über die Bänke, ein lustiges Ja, ein weichsingendes, sonniges, vogelleichtes Ja. Der Johann Kehrer! Ach wohl, dieser launische Leichtfuss, über seine flinke, schlangenspitze Zunge schlüpfen die Ja und Nein gleich sorglos.

Aber das war Erlösung. Jetzt klang auch mein Ja und das des Hans und Peters. Der feine Tessiner neben mir sagte im Eifer: »Si, Reverendo!« und das gewann uns beim Helfer, der in Mailand studiert hatte und Dante las, mehr als alle andern Ja, die es jetzt in polterndem Deutsch, mit dem unnachahmlichen obwaldnerischen Guttural-A, einem halben Oh, über den Katecheten regnete.

Jetzt lächelte Herr Ludwig auf uns, auf seine Manschetten und das Buch hernieder, wie unseres Herrgotts Regenbogen einst auf die noch wüste, aber doch abgeebbte Sündflutwelt gelächelt hat.

Der Lehrer aber las aus all den schmutzigen Überbleibseln, dass seine Schüler eine Untat verübt und einen Sturm entladen hätten, und dass es da mit einem Regenbogen zur vollen Sühne längst nicht reiche. Seinen Fiedelbogen appetitlich streichend, als weltlicher Vollstrecker des geistlichen Gerichts, fragte er mit blitzenden Brillengläsern: »Was haben die Unholde wieder einmal verbrochen? ... Oh, wie sehen Sie aus, Herr Pfarrhelfer ... und das Buch ... nein, da soll doch ... Warten Sie, Hochwürden, Sie sollen etwas erleben!«

Aber mit noch viel heftiger blitzenden Augengläsern, weil von Siegerstolz entzündet, erwiderte Herr Ludwig heiser: »Weg mit dem Holz, lieber Herr Lehrer, fragt ums Leben nichts und sagt nichts dazu und rechnet dort ruhig am Heustock weiter. Ich habe schon gerichtet. Ohne Stecken! Nur nicht immer den Stecken voran! Unblutig! ... Ja, das heisst ... Tinte wurde vergossen ... da seht, Manschetten, Schnupftücher ... Meine Schuld! ... Kann ich’s da lassen? Will Ihr Seppli mir das Zeug vielleicht waschen? Bringt es so was heraus?«

»O sicher, gerne, gerne«, versetzte Lehrer Beat dienstfertig.

»Also, wo habt ihr euere Nastücher?« wandte sich Herr Ludwig an die vier, fünf Mitgeschwärzten.

»Hier, hier!«

»Gebt sie her! Das brave Seppli wäscht alles mitsammen.«

»gerne, gerne«, wiederholte Beat etwas gepresster und geleitete den Geistlichen zur Türe.

»Und so putzt Jungfer Seppli unsere schmutzigen Lumpen,« rief Herr Ludwig nochmals in die Schule hinein, »und ihr bedankt euch schön. Aber die Tintenkleckse da drinnen,« er klopfte auf seine überaus flache Brust, »die haben wir heut hoffentlich schon alle weggekratzt.«

»Jawohl«, rief mit seiner Silberstimme Johannes für alle andern.

Und wahrhaft, uns schien, es habe jemand aus dem Schönschreibheft unserer Seele alle Flecken wegradiert. Und warum wäre der Helfer so lustig davongesprungen, wenn nicht auch aus seinem Heft ein Klecks, vielleicht ein alter, vielleicht der einzige, verschwunden wäre?


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