Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Die Spiegelmeise

In der Nachbarschaft rechts herrschte durch Garten und Haus in ruhiger Verwöhntheit mein Schulbankgenosse Elvezio Fransioli, links etwas entfernter in seiner schönen Matte stand Joseph Rohrers Haus, des Knaben, der um ein Jahr älter war, aber im Rennen, Steinwerfen, Schwingen, Klettern und Schlittschuhfahren weitaus uns alle, Jüngere und Ältere, übertraf. Dabei war er so klug wie kühn, und wohl darum gelang ihm alles. Nur eines misslang: ein Nachtpfauenauge zu fangen. Wir waren eifrig auf der Jagd und er brachte gewaltig gehörnte Käfer und die schönsten Tag- und Nachtfalter zusammen, Schwalbenschwanz, Segelfalter, Apollo, Pfauenauge, Admiral, die verschiedenen Fuchsarten, den C-Falter und den wunderbaren Trauermantel. Die riesigen Hirschkäfer, Männchen und Weibchen, fingen wir beim Zunachten mit blosser Hand im vollen Flug, aber beim Totenkopf hiess es sorglicher umgehen, damit der köstlich figurierte Flaum nicht zerstäube. Was waren das für Jagden, oft im hohen reifen Saatgras, wo links und rechts der Pfiff oder die Ohrfeige eines Bauernknechtes drohte. Ich kann nichts dafür, noch heute versuche ich alter Kauz ein paar Sprünge, wenn ein Admiral oder gar ein Trauermantel an mir vorbeischwebt. Mir verdoppelt sich der Herzschlag, als flöge da ein Wesen vom Himmel, mit dem ich durchaus reden sollte.

Damals glühten auch dem Joseph die Augen und saftete der Mund vor solchem Wild. Aber er stieg rasch in den Klassen der Schule, wurde merkwürdig schnell reif und gelassen und, obwohl wir uns von Herzen gut waren, ging er mir zu weit voraus, als dass ich ihm hätte folgen können.

Er war der einzige, der nie prahlte und doch vor allen Ursache zum Rühmen gehabt hätte. Denn er war reich, schön, bergfrisch und in allem Tüchtigen der Tüchtigste. Es kochte ein starkes, oft wildes Feuer in ihm, aber zuerst seine Güte und später seine Selbstüberwindung waren noch grösser.

Ich denke da, wie er mir einst etwa als elfjähriger Knabe eine Spiegelmeise in seiner frostig roten Hand brachte. Ich war wochenlang im Bett, und da kam er und duftete vom allerbesten Winter und wollte mir auch etwas Winterschönes in die Stube bringen, diesen buntgefiederten Vogel mit einem Tannenzweig und Eiszäpfchen daran.

Wir hatten einen alten Käfig und gleich tummelte sich der Gefangene fiebrig darin herum, kratzte an den Stäben und tat hie und da einen ungeduldigen Pfiff. Ich war entzückt, und die schönen klugen Augen Josephs badeten sich zufrieden in meinem Glück.

Aber die Meise war voll Unruhe und wandte sich rastlos und freiheitshungrig gegen die helle Fensterseite. Meine Mutter konnte das nicht ertragen. »Sie möchte zu ihren Angehörigen,« sagte sie, »zur Mutter, zu den Geschwistern, diese arme Spiegelmeise. Sie hat Heimweh. Wozu soll sie hier eingesperrt sein. Ist es nicht genug, dass du nicht hinaus kannst?«

Der Vogel klatschte mit den Flügeln ans Gitter und piepste so dringend, als verstände er den Satz meiner Mutter: »Ja, ja, gebt mich frei, ihr fremden, fremden Geschöpfe!«

Zwei Tage widerstand ich. Die Spiegelmeise wurde schlapp. »Sie verdirbt, was hast du dann?« schalt die Mutter.

»So lass sie in Gottes Namen hinaus!«

Ich setzte mich aufrecht in die Kissen, um diese Erlösung mitzuerleben. Das Fenster ging auf, die Mutter öffnete den Käfig, die Meise blieb sozusagen ungläubig an dem Pförtlein stehen, guckte schräg zu mir links, schräg zur Mutter rechts, tat einen wilden Schrei und schnellte hinaus. Gleich verschwand sie wie ein schwacher Punkt im Schnee der Bäume.

Demütig sank ich ins Kissen. Nie, ach nie werde ich so in die ungestüme, brausende Freiheit hinausstürmen, was doch das Schönste wäre. In diesem Augenblick kam mir mein Vater in den Sinn, der grosse Wandervogel, und ich verstand ihn.

Aber nach einigen Tagen kam Joseph, um sich nach der Spiegelmeise zu erkundigen. »Was hat es da gegeben?« fragte er. »Sie ist mir entwischt«, log ich beklommen. »Ich habe zu wenig aufgepasst mit dem Schieberchen.«

Kein Schatten auf Josephs frischem Gesicht. Sein Auge blitzt auf, er lacht und geht. Welch einen jungen, gesunden, salzigen Duft vom Winter bringt er mir immer ins Zimmer. Ich freue mich, wenn er den dunkeln Kopf zu mir niederbeugt und ich den kühnen, bübischen Winter aus seinem dichten Haar rieche.

In zwei Stunden ist er wieder da und hält wieder das warme Körperchen einer Spiegelmeise in der Hand. »Jetzt pass aber besser auf«, warnt er ernstlich. »Da gib ihm täglich so eine Prise Hanfsamen.«

Das ist lautere Güte. Meine Mutter kann nicht anders, sie dankt ihm bewegt. Aber als das Knistern und Kratzen und Piepsen und Plustern im Käfig wieder beginnt, dieses halblaute Schreien nach Erlösung; da kann sie wieder nicht anders, und nach zwei Tagen flattert die zweite Meise zum Fenster hinaus. Merkwürdig, denke ich, dass die Mutter dem Vater nicht auch die Käfigtüre von selbst auftat.

Nochmals bringt Joseph eine Meise. Er merkt den Zusammenhang. Aber er sieht auch jedesmal, mit welchem Genuss ich das pulsschlagende Tierchen in der hohlen Hand halte, dann durchs Türlein schiebe und ihm einen Zucker hineinstecke. Diesmal geben wir ihm viele Tannzweige hinein und Schnee darauf, damit es die Haft weniger merke. Joseph sagt nicht mehr: »Pass’ auf!« Er traut meiner Mutter schlecht. Aber der Augenblick, wo er mir diese Freude machen kann, ist ihm ein kleines Fest. Ich wette, er denkt: Noch dies eine Mal, dann nicht mehr; es wäre doch zu dumm.

Jedoch es kam ganz anders. Dieser Vogel war ein Phlegmatiker. Er spazierte behaglich in eine Ecke, hockte gemächlich in die Reiser, knusperte an einem Nusskern herum und bauschte sich wohlig in seinem Gefieder. Er hatte gewiss ein Leben voll Mühe und Abenteuer hinter sich, seine Zeitgenossen waren gestorben, er selber jetzt müde und freute sich, endlich ein stilles Altersasyl mit guter Gratispflege gefunden zu haben. er war so faul, dass er nie einen Pfiff probierte und schon am Tage einschlief. Nicht einmal unsere graue Katze, die manchmal auf den Tisch sprang und nach dem unerreichbaren Käfig turnte, brachte ihn aus dem Gleichgewicht.

Als ich genesen war und wieder in der Schule erschien, fragte mich Joseph nie über diesen dritten Vogel aus. Er war viel zu taktvoll, mich zu einer peinlichen Ausrede zu nötigen. Denn er vermutete die Meise längst wieder unter den Finken und Spatzen des Dorfes. Da ich nun doch einmal mit der Sprache herausrückte und erzählte: »Du, Joseph, deine Spiegelmeise hat sich gerade wie ein Hündlein an mich gewöhnt. Wenn ich den Finger durch die Stäbe stecke, wackelt sie mir darauf herum wie auf einer Turnstange«, – da schleuderte mir Joseph einen pechschwarzen Blick zu und wandte sich unwillig ab. Ohne Zweifel, er meinte, ich lüge ihn an. Nun schüttelte ich ihn heftig am Arm und bat: »So komm nach der Schule herauf und sieh selber!« Jetzt versprach er: »Gut, ich komme.« er sagte es ruhig, er hatte sich schon überwunden.

Ein Weilchen betrachtete er nachdenklich die Meise. Dann öffnete er ohne weiteres den Käfig und sagte: »Lass sie jetzt wieder ins Freie. Du brauchst sie nicht mehr.« Und er öffnete auch das Fenster. »Sie sollte nur so lange Stubenarrest haben wie du. So meinte ich’s. Dir zur Kurzweil.«

»Aber sie will nicht.«

»Was?« rief Joseph und sah den dicken Gefangenen beinahe mit Verachtung an. Dann blies er mit seinen Purpurbacken heftig durch den Käfig, bis der Vogel ängstlich hinaushuschte, aber auf dem Gesimse unschlüssig hin und her trippelte und auf einen Stuhl zurückflog.

Meine Mutter hatte die Meise liebgewonnen, aber sie wagte keinen Widerspruch, da sie ja die frühern Vögel selbst wieder in den Schnee hinausgeschickt hatte.

Joseph klatschte mit den Händen hinter dem Vogel hin und her, jagte ihn durch die ganze Stube und schimpfte: »So ein dummer Gimpel! So ein fauler Hocker! Wart’ du! Ich will dir, du Schlafmütze. Hinaus, an die Luft, zu deinen Kameraden!«

Inzwischen war unsere graue Katze, die wir auf ihrem Schlafsack neben dem Ofen gar nicht beachtet hatten, lebhaft geworden, strich sachte heran und sprang aufs Gesimse. Ihre Augen glommen wie Schwefel.

Und nun geschah etwas Ungerechnetes. Die Spiegelmeise setzte sich auf den Käfig. Aber die einströmende Winterluft schien alle Schläfrigkeit weggeblasen zu haben. Sie spreizte die Flügel auf und ab, hielt den Schnabel vor, sah streng auf die Katze und schoss in einem blitzschnellen, tiefen, drohenden Bogen, wobei sie beinahe die Ohren ihres Feindes streifte, in die zwitschernde Vogelwelt hinaus. Ihre Ehre war gerettet. Wahrhaft, die Katze hatte sich einen Augenblick gebückt und schielte nur schwach nach dem Telegraphendraht, auf den sich der Vogel über der Landstrasse gesetzt hatte. Sie verschluckte, man muss es sagen, den grossen Ärger mit Anstand.

»Siehst du,« sagte Joseph, »der lebt noch lange da draussen. Aber im Käfig hätte er sich nach und nach zu Tode geschlafen.«

Wusste Joseph, was er da behauptete? Zu Tode geschlafen! Verstand ich’s? Ich sah nur meine Mutter versöhnt nicken. Vergessen konnte ich das Wort nie mehr. Und je älter ich wurde, desto besser drang ich in seinen Sinn. O ja, diesmal war Kindermund vogelsprachekund gewesen. Wie oft, wenn es gar so muffig wohl und bequem um mich wurde, ein Träumen statt ein Handeln, ein Geniessen statt ein Genussschaffen, ein Stillehocken statt Marschieren, und wenn jene süsse mörderische Schläfrigkeit mir schon die Lider schwer zu machen begann, wie oft hat mich dieses Wort, das ich seither von keinem Munde mehr gehört, aber von jener reinen Knabenlippe wie ein Manna behalten hatte, wie oft hat es mich aufgerüttelt, aus dem Käfigbehagen getrieben, an manchen Katzen vorbei, in die frische, rührige Welt der Aktion hinausgejagt. Und jedesmal sah ich schamhaft und doch zufrieden zurück, wie man ins schwierig, aber nun doch mit einem beherzten Sprung verlassene Bett am Morgen noch einmal zurückblickt.

Weisst du das noch, lieber Mattlijoseph, der du heute in Ämtern und Würden stehst und über Sachseln und Obwalden so väterlich waltest? O nein, du weisst es gewiss nicht mehr, du hast das Wort nicht nötig. Aber ich durfte es um alles nicht vergessen: Sich nur nicht zu Tode schlafen!


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