Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Szenen

Wieder zog Verena den Armen aus, aber schon nicht mehr mit den gleichen heroischen Gedanken. Nein, hier musste man sich zuerst gegen den eigenen Mann, nicht gegen seine Feinde wehren, mit ihm geradezu Krieg führen. Aber vorsichtig! o vorsichtig!

Im Lauf des Tages war man drei-, viermal gekommen, um Paul in die Zeichnungsschule und zu den Schnitzlern zu holen. Ein Vater hatte das Porträt seines verstorbenen kleinen Mädchens bestimmt zu bekommen gehofft und war, nachdem er eine halbe Stunde an die Fenster getrommelt und siebenmal Verena angeschrien hatte: »Hält euer Mann denn nie Wort?« –brummig davongepoltert. Jawohl, Paul muss auch ein wenig, wie wir andern alle, in die Nuss des gewöhnlichen notlichen Lebens beissen. Er wird dann bald finden, dass der Kern viel süsser ist, als wenn man in Faulheit wartet, bis die Schalen sich von selbst öffnen.

Aber am späten Morgen ergoss sich der Künstler in eine noch wildere Flut von Unmut und Verdruss. er schwor, dass er so nicht leben könne. «Diese kleinen Menschen und diese kleinen Arbeiten! So ein Gemeinderat, der nicht weiss, was rund und was oval ist. So ein Komitee, das zuerst ans Geld und nicht zuerst an die Kunst denkt. Vor allem diese elende Schulmeisterei mit Reglement und Stundenplan. Nie hätte ich in dieses gottverlassene Dorf kommen sollen, nie!«

«Dann hätten wir uns ja auch nie heiraten können«, erwiderte meine Mutter mit kindlichem Ärger.

«Und wäre das nicht besser?«

»Pauli!«

«Ich plage dich, ich plage mich und habe bald einen kleinen Wurm um mich kriechen und werde auch ihn plagen. Gib mir keine solche mehr ...«

«Aber Lieber«, bat Verena und wusste vor Scham nicht, sollte sie die Schürze über das Gesicht oder über den Leib schlagen.

«Das ist nichts für einen Künstler ... das sind Ketten, Ketten, Ketten ...« Dabei fasste Paul seine Uhrkette, das war seine Mode, und riss sie auseinander; eine schöne goldene Uhrkette, die meine Mutter nachher mit unendlich feinen Fingerspitzen und einer womöglich noch feinern Geduld wieder an den geöffneten winzigen Ringlein ineinander fügte. Und so hat sie die Kette ihrer Heirat, die bald nicht mehr eine goldene, noch silberne, sondern eine schwer eiserne wurde, immer wieder zusammenzuknüpfen versucht.

Die ersten Male zuckte es mit der Empfindlichkeit von tausend verwöhnten Nerven über Gesicht und Hände Verenas vor solcher Roheit.

Aber sie bezwang sich und wandte nur schüchtern ein: »Ein wenig fügen kannst du dich doch auch. Alle grossen Künstler haben sicher Schwieriges aushalten müssen und auch ihren Haushalt gehabt. Immer redest du vom grossen Dante ...«

»Bah, der hatte gut in der Welt herumlaufen. Wo hört man, dass er Frau und Kinder bei sich behielt. An Liebschaften denkt er genug in seinen Werken, aber nicht an Ehen. Mir schwant oft, er sei seiner Familienstube noch behender als den Guelfen entlaufen ...«

»Und Beethoven?« suchte seine Frau ihn zu erinnern, die beim Wort Guelfen an Schuldeneintreiber um Martini oder Ähnliches dachte.

»Der hat gar nicht geheiratet.«

»Und Michelangelo, den du jeden Tag zitierst, Pauli, dein Michelangelo?«

»Ist immer ledig geblieben, achtzig Jahre ledig, – wollte nichts von Weibern wissen.«

»Pauli, Pauli«, rief Verena ängstlich, und flüchtete sich hilfesuchend von einem zum andern Namen, von denen ihr Paul schon in den Monaten der Liebschaft die Ohren vollgesungen hatte, aber die für sie eben nur Namen geblieben waren ... »Und Dürer und Holbein, die du so liebst?«

»Holbein, schau’, der liess seine Familie in Basel sitzen und hofierte währenddem beim König von England in Seide, Wein und Ehren. Damals durfte ein Künstler so was noch wagen, ohne dass man ihn gleich verschrie ... Und Dürer, ja Dürer ... dieser heillose Dürer ...«

Solche Gespräche hat mir die Mutter selbst erzählt, und noch heute weiss ich nicht, was er mit Dürer sagen wollte, ob wirklich aus dem Halbdunkel, das dieses Leben umwölkt, etwas hervorblitzt, das einem untreuen Gespons, einem flüchtigen Eheherrn, einem freien, wilden Unhold gleicht.

Meine Mutter wischte verstohlen eine Träne vom Auge, aber schluckte und würgte jeden Laut hinunter. Denn er sah sie nicht gerne weinen, ja, konnte es einfach nicht ertragen. Ganz geschlagen setzte sich Verena ans Fenster und nahm eine Näharbeit auf. Diese stille wortlose Trauer war dem Gatten noch peinlicher. Er lief zu ihr, kniete vor ihr ab, küsste ein Fingergelenk nach dem andern und rief: »So bin ich einmal, so bin ich! Halt mich und lieb mich auch so!« – Dann ging er nachdenklich im Zimmer herum, stand in der Mitte still, sah zur Diele empor und sagte, er wolle morgen nach Bern einem freund und vielvermögenden Regierungsrat schreiben oder seinen Bruder, den gescheiten und herzlichen Pfarrer von Waldkirch beraten oder gar zum Bischof von St. Gallen gehen, den er gut kenne, zum mächtigen Bischof Johannes Carolus Greith.

Zwischenhinein gab es dann wieder regelrechte Wochen der Arbeit. Um so stürmischer waren dafür die folgenden Extravaganzen, gerade als ob Paul seine kurzatmige Tugend so recht zuschanden machen wollte.

Langsam begann Verena an der Genialität ihres Mannes zu zweifeln. Fast lieber glaubte sie, er könne nicht, als er wolle nicht. Seine Ausgelassenheit, wenn sie einmal das Pathos und die Karessen Pauls überwunden hatte, mussten ihrem aufs Gerechte und Geordnete gestimmten Geist über kurz oder lang wider die Natur gehen. Sie entschuldigte nicht mehr so rasch, fing an einzureden, zu examinieren, zu tadeln, zu predigen, wenn ihr Gemahl so überspät und übervoll heimkam. Aber sie erreichte damit noch weniger als mit Dienst und Zärtlichkeit. Hätte sie ihn von seinem eigensten Boden aus, ich meine von der Kraft und Glorie der Kunst aus angreifen können, wer weiss, ob sie ihn nicht erschüttert hätte. Aber sie konnte nur vom moralischen und hausbackenen Standpunkt einer Frau und Mutter gegen ihn vorgehen, also mit Katechismus, Küchenrechnung, Schneider, Hauszins und Ähnlichem, wo den guten Künstler schon beim blossen Wort der Ekel schüttelte. Denn von Kunst begriff sie so arglos und hilflos wenig wie ein Haushuhn von den Abenteuern der Adler. Was angenehm oder fromm ins Aug’ und Ohr fiel und dergestalt schön war, das empfand sie, alles andere liess sie kalt.

Manchmal kam Paul sachte heim, man hörte keine Tür gehen, keinen Stiefel knarren. Dann machte er ein schuldvolles Gesicht und bat Verena bescheiden um Verzeihung. Dieser Manier konnte das immer wieder gläubige Weib am wenigsten widerstehen. Leichter fiel es ihr, wenn er laut und mit einem Schwall von Entschuldigungen über sie hereinbrach, indem er dabei die wunderlichsten Lügen erfand. Oft, wenn sie ihn nur stumm betrachtete, fing er gleich an zu drohen, er gehe wieder, dann könne sie die Stunden und Tage zählen, bis er wiederkehre; er wolle daheim eine heitere Stube sehen, ein gutes Gesicht. – Ja, er, der den kleinsten Schmerz fürchtete und beim geringsten Unwohlsein vor dem Sterben zitterte, er stand wohl auch aufs Gesimse, trat vor die Scheiben hinaus und wollte drei Stock hoch sich in die Finsternis hinausstürzen. Wir Kinder erwachten dann vom Lärm, hoben uns halb aus den Betten, schauderten und wussten nicht, wem Schlimmes geschehe und ob wir zum Vater oder zur Mutter stehen sollten. In mir zog eine rätselhafte, fast grausame Neigung alles Sinnen und Sehnen dem Vater entgegen, obwohl ich vor Mitleid für die Mutter oft am ganzen Leib erbebte. Mir war dann, als sollte ich in zwei Stücke gerissen werden, und tagelang schmerzte es mich wie von einer grossen Wunde.

Sehr gut erinnere ich mich, wie der Vater einmal – es war schon in der Obwaldnerzeit – der trunkene und gefühlsselige Vater heimkam und in der Ahnung einer Predigt oder der stillen Vorwürfe, womit die hellbraunen zähen Augen Verenens ihn anklagen würden, einen halbzentrigen, fetten, prachtvollen Spalenkäse, wie die Obwaldner ihn auf ihren Alpen glorreich aus ihren Kesseln schwingen, der Mutter mit funkelten Äuglein vor die Füsse rollte. Wie Donner grollte es über den Riemenboden hin. Wir Kinder erwachten davon, lachten und fanden es hart von der Mutter, dass sie den Käse mit den kleinen Löchlein, den wir über alles gern assen, fast mit Abscheu betrachtete und nicht aufhörte, ein wortloses, von zwei, drei magern Tränen blitzendes, klägerisches Gesicht zu zeigen. »Wenn du nicht sogleich gut bist, werfe ich ihn zum Fenster hinaus«, drohte mein Vater. Es gab ein Hin und Her, ein Angreifen und Abwehren, Klagen und Trösten, und im Einschlafen nahm ich folgendes Stubenbild mit in den Traum: Die Magd hieb mit dem Küchenmesser einen schweren Schnitz aus dem Laib, brachte Brot und ein ganz spitzes Stiefelchen Cognac, und Vater und Mutter assen Schnittchen für Schnittchen des gelben, zartgelöcherten Käses, Paul rasch und in gewaltigem Hunger, Verena in widerstandsloser Ergebenheit, indem ihr der Gemahl scherzend und liebkosend eins ums andere zwischen die Lippen schob.

Brummend sah ich noch die Lina mit der Kerze durch mein Schlafzimmer gehen, nachdem sie die Türe zur Stube zugeschlagen hatte. »Kinder! Kinder!« murrte sie mit zitterndem Schnäuzchen unter der Schnupernase und schlürfte in die Küche hinaus. Meinte sie mich und meine Schwestern oder wen?

An den Ohren nehmen

Es kamen nun die Abende und langen Nächte, wo Verena in der Stube allein sass und wachte. Bevor Pauli heimgekommen war, hätte sie keinen Schlaf gefunden. Sie nähte an unsern Kleidchen oder strickte Strümpfe, öffnete bei jedem Geräusch das Fenster und harrte oft bis zum Morgengrauen aus. Bis zum Morgengrauen auch die alte Lina in der Küche. Verena wusste es, aber konnte sich lange nicht demütigen und mit der Magd gesellig verbünden. Glück und Unglück mit Pauli wollte sie eifersüchtig für sich allein behalten.

»Wir könnten wohl das Frühstück bereiten«, kam Lina türklopfend zu sagen und bedachte dabei die junge Frau mit einem Blicke, der etwa kündete: Du gutes dummes Ding! Du kommst schon noch zu mir.

Eines Nachts trippelte eine Maus ganz verwegen durch dir halbe Stube gegen den Garnklüngel zu Füssen Verenas. Meine Mutter konnte die breitesten Kreuzspinnen in die Hand nehmen, aber vor den Mäusen und vor allem vor ihren langen kahlen, lilagrauen Schwänzen hatte sie einen tödlichen Schrecken. Aufspringen und mit der Türe schier in die Küche auf die alte Magd fallen war eins.

Lina zeigte der Hausfrau nun, wie man diesen kleinen Dieben eine ganz einfache Falle mit drei Hölzern und einem Speckmöcklein am Drahte stellt; wie es übrigens recht weiche, hübsche, feine Tierchen seien, mit wunderbar zarten Ohrhäuten, einem kusswerten roten Mäulchen und seelenklugen Augen. Diese Nacht ging zweimal schneller als die frühere vorbei.

Das Dekorum des Gattinnenstolzes war überwunden. Von nun an, sobald es Mitternacht an der wackeligen Standuhr im Gange geschlagen hatte, flüchtete sich Verena zur Alten in die Küche hinaus.

»Ihr hättet nicht wieder heiraten sollen«, strafte Lina die Herrin. »Ich sagt’ es Euch doch: bleibt Witwe; dann habt Ihr es fast so schön wie ich! Aber Ihr habt den Unhold ...«

»Redet nicht so!«

»... nun doch geheiratet. Geschehen ist geschehen, da hilft gar nichts mehr, als ihn kräftig am Ohr nehmen.«

»Aber Lina, seid Ihr bei Trost?«

»Sehr, sehr bei Trost, ganz mächtig getröstet, Frau Verena.«

»Ach, du ...«

»Er hat kleine, dünne, zarte Ohren wie rotes Seidenpapier. Da ist man gemerkig (gelehrig). Haltet Ihr ihn einmal stramm am Ohr, dann werdet Ihr ihn auch bald wieder fest am Herzen haben. Er ist ein Kind, und Kinder nimmt man eben an den Ohren.«

»Aber Lina, ich meinen Mann am Ohr nehmen! Meinst du das wirklich buchstäblich?« Sie duzte Lina, sobald das Gespräch sich tiefer spann.

»Buchstäblich oder nicht, zeigt ihm einfach Eure Kraft. Nehmt ihn in Eure Gewalt. Dann wird er wie ein Lämmchen, dieser Bock, dieser Unhold, dieser ...«

»Lina,« protestierte Verena, »das Wort will ich nicht mehr hören. Und zum andern: Pauli ist zehnmal stärker als ich.«

»Hingegen Ihr seid stärker. Ihr liebt die Ordnung, er ist die Unordnung. Aber die Ordnung ist meiner Seel immer stärker als die Unordnung gewesen. Wenn die Ordnung die Unordnung am Ohr nimmt, muss diese folgen, muss, Frau Verena!« Sie schlug bekräftigend ihr langes haariges Kinn in die Halsgrube hinein.

Mit stillen, leuchtend braunen Augen sog Verena sozusagen die Worte von den schlaffen Lippen der Magd.

»Und Ihr habt einen tüchtigen Willen, eine Engerie sozusagen ...«

»Energie«, lispelte Verena.

»Er aber ...« wegwerfend machte sie mit beiden immer fleissig strickenden Händen eine Geste dorthin, wo sie den Bock und Unhold hingeworfen hatte, »er ist die Schwäche selber, also die Engerie ...«

Verena versuchte gar nicht mehr zu korrigieren.

»... muss die Schwäche am Ohr nehmen und diese folgt wie ein Hund.«

Eine Weile ward es stille. Beide Frauen rasselten gewaltig mit den Stricknadeln.

»Darf ich noch etwas sagen?« begann Lina wieder und kratzte sich einen Moment mit der freien Nadel im Haar. »Ihr habe ein Ziel. Ihr wollt Euch und Euern Mann und Eure Kinder in Glück und Ehr’ sehen. Oder?« fragte sie wie ein Richter. – »Nun, er hat kein Ziel, er ist ein Mensch ohne Weg und Steg. Ihr seht, er sieht nicht. Da muss doch, wer Augen hat, den, der keine hat, am Ohr nehmen und führen. Exakt dazu sind die Ohren da. Und am liebsten sagt’ ich: am Ohr ringeln und reissen, bis er Augen bekommt.« –

Dieses Gespräch hat mir meine Stiefschwester Sabine mehrmals erzählt. Als ich dann meine Mutter ausfragte, musste sie Wort um Wort zugeben. Sabine war ein zwanzigjähriges superkluges Jüngferchen und machte bei uns Ferien und tat, als ob sie auf dem Rosshaarstuhl eingeschlafen sei.

Bald nach diesem Gespräch, an einem andern späten Abend, sassen die beiden Frauen nach Mitternacht in der Küche. Lina hatte einen schwarzen Kaffee gebraut, und so war das Paar ein wenig munter geworden. Sie hatten gleichzeitig jedes einen schwarzen Wollstrumpf für Paul angefangen. Denn der Künstler brauchte viele Strümpfe. Lina war indessen schon einige Umläufe voraus, was meine Mutter mit weibischem Neid bemerkte und auf alle Weise einzuholen suchte, indem sie etwa sagte: »Öffnet doch ein bisschen den kleinen Fensterflügel!« oder: »Steckt noch zwei ganz dünne Bengel in den Herd, es wird kühler!« – und inzwischen mit Himmelsgewalt drauflosstrickte.

Die Magd merkte den Schlich, lächelte kühl und strickte sich in wenig Zeit wieder siegreich über ihre Herrin hinaus.

»Du sagtest letzthin,« begann Verena, »etwas vom Am-Ohr-Nehmen. Ich hab’s versucht. Es geht nicht.«

»Freilich geht’s.«

»Nein, denn ich bin und bleib’ eben doch ein Weib. Du bist halt ein halber Mann.«

»Was heisst das?« fragte Lina schier spöttisch.

»Das Weib ist immer, immer schwächer als der Mann. Das ist so Gottes Wille.«

»Da kommt Ihr mir schön«, brauste die Alte auf und liess einen Augenblick die Nadeln ruhen, was meiner Mutter einen kleinen Trost gewährte.

»Darf ich Euch erzählen, wie ich den Mann am Ohr gepackt habe.«

»Erzähle«, bat Verena, in der Hoffnung, das gehe auf Kosten von Linas Strumpf.

»Das war der Jaggi Stetter. Dem gefiel ich. Aber er mir weniger. Er war ein langer Kerl und hatte eine schöne braune Wetterfarbe. Aber mir kam er wie ein feuchtes Holzscheit vor, das so daliegt, wie dort eines« – sie zeigte in den Küchenwinkel – »und nicht recht brennen und heizen kann.

Aber Vater und Mutter wünschten, dass ich ihn heirate, weil ihm die Post den ersten Beiwagen über den Brünig gegeben hatte. Jaggi war ein stockgesunder Kutscher und der erste Beiwagen, das ist eine Ehre und gibt viel Trinkgeld.

Als die Eltern mich lange plagten, schaute ich den Menschen nochmals an, und das einzige, was mir jetzt wacker gefiel, war die Nase.«

»Seine Nase?« Verena musste lachen.

»Er hatte so eine Nase: sie lief zuerst bolzgerad’ hinaus, aber zuletzt machte sie einen Haken wie unser Bartgeier.«

»Und das gefiel dir?« Meine Mutter musste sich die Augen wischen.

»Jetzt lacht Ihr. Das ist recht. Aber ich dachte, wer eine solche Nase hat, der geht gradaus aufs Ziel los. Und wenn er’s dann hat, hakt er sich dran fest und lässt es nicht mehr los.«

»Aber wenn er dann dich so gepackt hätte?« rief meine Mutter und leuchtete auf und dachte: Wenn doch ihr Gemahl sie wieder einmal so in Gewalt nähme wie zur Brautzeit, dass kein Entrinnen möglich und einem so selig zumute war.

»Das wollt’ ich doch«, antwortete Lina ihr völlig zu Willen. »Er sollte mich übermeistern. Auf das hab’ ich gewartet und hab’ an seine Nase geglaubt. Aber das war eben nur Nase und sonst nichts, und alles andre war Null.«

»Du bist ein komisches Geschöpf, Lina.«

»Hört fertig, liebe Frau! Wenn er nun mit seiner Kutsche vom Brünig herkam, stand ich jedesmal am ›Bären‹ im schwarzen Rock und weisser Schürze und die Hände in den Hüften oder am Silberkettlein, wie das so Brauch ist als Serviertochter. Dann kam er herzu und schüttelte mir die Hand. Und da frag’ ich: ›Kommst du von Luzern?‹

›Gestern sind wir abgefahren, bis Lungern.‹

›Was war für Wetter in Lungern?‹

›Oh, ich glaub’ schön.‹

›Und heut in Lungern, hat es Wolken gehabt?‹

›Ich glaub’ nicht.‹

›Du, ich glaub’, ich glaub’ nicht, was ist das?‹

›Was geht mich das Wetter an!‹ brummte er. ›Wenn nur bei dir gutes Wetter ist!‹

Dann tranken wir ein Fläschchen Veltliner mitsammen, und da fiel es mir ein: heut hab’ ich sein Ohrläppchen gefasst, aber das nächste Mal nehm’ ich ihn ganz am Ohr.«

»Wie du hitzig strickst«, klagte Verena. »Du machst mich ganz zwirbelig. Wenigstens bei den Strümpfen meines Mannes sollte ich doch allen voraus sein.«

»Seid Ihr nur erst seinen Füssen voraus!« belehrte die weise Magd; »seine Strümpfe sind dann von selbst dabei.« – Sie lachte trocken.

»Aber warum sollte dein Jaggi so aufs Wetter achten?«

»Frau Verena, wie merkt Ihr doch noch wenig. Er war eben die ganze Zeit im Wirtshaus, wenn man nicht gerade fuhr. Auf dem Bock hat er dann so faul hingeduselt, wie viele Kutscher. Das war ganz anders, als ich von seiner Nase hoffte.«

»Und dann?«

»Das zweite Mal kam er von Interlaken. Bei uns hatte es einen Wolkenbruch gegeben und über Meiringen gehagelt. Aber er wusste noch weniger als das erste Mal. Er sei nicht einmal nass geworden. – Schläfst du denn immer halb auf dem Bock, schaust nie herum? – Soll ich etwa nach den hübschen Mädchen gucken? – Lieber, als so sumpfen! – Ach, das ist halt immer die gleiche alte Strasse. Auswendig weiss ich’s, so dass ich gar nicht mehr daran denke. – Da ist dir auch unser Zusammensein bald eine auswendige Sache, dass du gar nicht mehr daran denkst und es lieber verschläfst. Mir scheint, wir passen schlecht! ...

Da ist er dann rot und bleich geworden und hat einen ganzen Liter für uns bestellt. Ich merkte schon, ich hatt’ ihn fest am Ohr gepackt.«

»Du warst zu hart!« fiel Verena ein. »Das Wetter, ach, was braucht er ... so eine Nebensache ...«

»Wisset, ob es gut oder schlecht ist, ob es dann Fremde gibt wie Fliegen oder keine, er hat sein Fixes. Da ist ihm gleich, ob es regnet oder hell macht. Ja, ihm wäre egal, ob es hagelt, überschwemmt, einschlägt, Glück oder Unglück gibt, wenn nur er trocken bleibt. Ans Schöne, was dabei ist, wenn er so in der Sonne über den Berg rollt, und wie das Schlechte eine grosse Sorge ist für die andern, die kein fixes Gehalt haben, an sowas denkt er kein einziges Mal. Er hat für nichts Freude und Sorge als für sich. Er schläft immer. Nur wenn er von sich redet, ist er heillos wach.«

»Jetzt übertreibst du, Lina. Dich hat er doch ernsthaft wollen.«

»Mein Geld, liebe Frau. Ich hatte damals die zwölftausend noch nicht, wisset,« sagte Lina scharf, »meine heutigen Zwölftausend!«

Demütig neigte Verena vor diesen fünf Ziffern ihr kleines schwarzes Haupt. In diesem Augenblick war sie die Magd und jene die Herrin.

Zufrieden mit dem kleinen Triumph, liess Lina nun die Strickerei einen Augenblick ruhen und streichelte die Hände meiner Mutter, die damals anfingen, rauh zu werden.

»Aber,« fuhr Lina fort, »ich hatte schon die achttausend Franken vom Vater und Bruder, ich war allein übrig von uns Kindern, mir fiel das Schnitzhaus mit dem Hofstättli zu, und das alles hätte ihm gepasst. Ein Kauz wie der schläft sicher noch besser, wenn er unter dem Bettsack einen Haufen Fünfliber und über dem Kopf ein geschenktes Dach hat.

Und als er nun das dritte Mal kam und ich wieder nach dem Wetter fragte, da sagte er schnell: Es war heiss, Lina, entsetzlich heiss. Da lachte sein Kamerad, der Peter, und sagte: Ja, seht nur! – und zeigte auf den über und über mit Kot bespritzten Postwagen. – Ach ja, geregnet hat’s ganz schauderhaft und sogar gehagelt, warf der Jaggi schnell drein. – Und das faule Obst heruntergeschüttelt, sagte ich und nahm ihn vor allen Fuhrleuten am Ohr und drehte ihn hin und her. Dann liess ich meine weisse Schürze flattern und lief davon. So, Frau Verena, muss man diese Holdri und Koldri am Ohr nehmen. Auch Euer Pauli ist nicht besser. Er denkt auch nicht an Sonne und Regen für die andern, wenn nur er warm oder kühl hat, der Un ...«

»Lina!«

»Ich schweige schon. Aber so packt ihn doch einmal frisch und schüttelt ihn und seht dann, ob etwas Rechtes und Reifes dran ist. Beim Jaggi war’s nicht.«

»Lina, ich kann nicht, ich bin zu schwach ... Sieh’, auch mit dem Strumpf bist du mir wieder um vier, fünf Gänge voraus.

»Nein, Ihr könnt nicht, es ist wahr«, stimmte Lina bei und seufzte zum ersten Mal seit vielen Jahren. »Jetzt koch’ ich eine Tasse heissen Kaffee, wir müssen noch lange warten, bis e ... r ... kommt.« – Und mütterlich sorgte sie sich um meine Mutter.

So war Lina. Sie blieb noch einige Zeit bei Verena. Aber zuletzt hat sie doch noch den Unrechten am Ohr genommen.

Der Vetter Hans, dem sie das Häuschen billig vermietet hatte, kränkelte und war doch erst ein Jüngling. Eine halbblinde Grossmutter hatte den Burschen heillos verwöhnt. Aber nun ward die Alte immer gebrechlicher. Lina musste oft hingehen und ihre Zeit zwischen den verwandten und uns teilen, bis sie zuletzt, nach dem Tode der Greisin, unser Haus ganz verliess. Und genau wie die Grossmutter vernarrte sie sich in den blassen, zierlich gemodelten Schwächling, päppelte ihn wie ein Bübchen auf und verschrieb ihm ihr Vermögen zum grössten Teil. Er pickelte und schäufelte dann ein bisschen im Garten herum, nahm ein Knechtlein für die Hofstatt, faulenzte viel, frank sich zuerst mit Bier, dann mit Schnäpsen durch die trägen Stunden, machte Schulden auf die saftige Erbschaft hin, die Lina trotz Gebrumme immer wieder bezahlte, und zehn Jahre, nachdem sie an einer heftigen Lungenentzündung gestorben, wurde das Schnitzhaus öffentlich versteigert. Sie hatte ihm einen granitenen Grabstein aufgetragen; nun hat sie nicht einmal etwas Ordentliches aus Holz auf dem Friedhof. Meine Mutter erzählte, als sie zum ersten Mal ans Grab der treuen Lina ging, sei ihr gewesen, als müsse sich die rote, fleischige Hand der Magd aus der Erde graben und Daumen und Zeigefinger wie eine Zange öffnen und suchen, etwas am Ohr zu nehmen.

Ja, das richtige Ohr zur richtigen Zeit zu packen und ein bisschen zu ringeln, muss wohl eine grosse, aber schwere Lebensweisheit sein.


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