Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Der französische Tambour

Der erste strenge Eiszapfenwinter, an den ich mich erinnere, brachte uns einen seltsamen Gast in die Wohnung, einen Franzosen der Bourbakiarmee. Von diesem grossen Heere erzählte man, es sei soeben halberfroren vor den anstürmenden Pickelhauben über den Jura zu uns Schweizern geflüchtet und von der Mutter Helvetia entwaffnet und rasch in die gastlichen Stuben des Landes zerstreut worden.

Vom damaligen flinken und mörderischen Krieg an unseren Flanken habe ich fast keine Erinnerungen. Ein Bilderbuch zu Weihnachten zeigte mit farbigen Soldatenbildern und gelben Feuerlohen die bisherigen Siege der Deutschen an und fügte eifrige Verse hinzu. Das machte Eindruck. Doch fühlte sich mein fünfjähriges Herz irgendwie von dem Namen Bismarck und Moltke bedrückt, die dann und wann wie ferner Donner bis in meine Zimmerecke grollten.

Aber nun kam jener Franzose in unsere Familie, ein junger, schmächtiger Mann mit finsterm Haar, einem schwarzen Schnäuzchen, das er beim Lachen wie ein hübsches Schuhbürstchen hob, so dass lange weisse Zähne aus dem Dunkel leuchteten, und mit heillos dünnen, schlottrigen Hosenbeinen, den linken Arm in der Schlinge, und ohne dass er sich selbst um viele Worte bemühte, erzählte seine abgeschabte Montur von Kanonen, Leichen, Eis in den Gräben, von den Schnauzzipfeln Napoleons und davon, wie froh er, der in diesem verhunzten Militärkleid steckte, um unser warmes Schweizernest sei. Er spielte Flöte wie mein Vater, mit der gleichen weichen Schwärmerei, und zeichnete ziemlich gut Köpfe. Darum hatte man ihn gerade zu uns ins Quartier gelegt. Jede seiner Bewegungen war von unnachahmlicher Anmut.

Paul war froh wie ein Kind über den welschen Gast und voll Interesse an allem neuen Drum und Dran. Meine Mutter freilich, die den Tisch decken musste, betrachtete die neue Last mit heimlicher Sorge. Sie hatte vor wenigen Wochen die treue Gehilfin Lina aus Sparsamkeit entlassen und kochte und haushaltete ganz allein.

Doch Paul besass nun einen verständigen Fremdling, der mit ihm die Pfeife rauchte, bei ihm an dem Schenktisch im Löwen sass, mit ihm unnütze, aber unterhaltliche Skizzen zeichnete, gesellig fabulierte und von fernen, besseren Ländern träumte. Nie hörte ich den Tambour, wie ihn die anderen Franzosen in Sachseln betitelten, über sein oder Frankreichs Los jammern. Er nahm gleichmütig mit allem fürlieb, erzählte ungern vom wild und wüst Erlebten, pfiff sorglos in den Tag, nickte noch durch unsere Doppelfenster im dritten Stock den weissbänderig bezopften Sachslerjungfern Komplimente zu, und man hätte eher vermutet, er komme eben von einem etwas lotterigen Pariser Tanzfest als von einer grausigen Menschenmetzgerei zu uns in die Berge. Dieser liebenswürdige, immer heitere, immer galante Franzose, mit einer Sprache, die noch hübscher näselte als Pfarrer und Landammann zusammen, mit einem steten gütigen ›Oui‹ und ›s’il vous plait‹ und etlichen drolligen Sachslerbrocken dazwischen, dieser scharmante junge Bursche gewann uns alle im Nu. Nur das reife Auge Verenas beobachtete ihn bis zum Abschied mit unerfreuten, leise anklägerischen, vergrämten Blicken. So ein Leichtfuss, der nur lachen, flöten, trinken, zeichnen und scharwenzeln konnte, ach, wie sollte er auf ihren Gemahl anders als schädlich wirken!

Während der Tambour stillvergnügt auf dem Sofa lag und seine schwarzen Augen von Mädchen und Spässen redeten, erzählte uns der Vater umso mehr vom stattgehabten grässlichen Krieg. er begleitete seine Worte mit den vielen Bildern aus »Über Land und Meer« und »Gartenlaube«, wo man deutsche Angriffe, französische Flucht, Einmarsch in die belagerten Städte, Napoleons Ergebung, die eisigen Nächte vor Paris und bald auch die Unterzeichnung des Friedens und die deutsche Kaiserwahl flott hingeworfen sah. Mein Vater betrachtete die grosse Begebenheit nicht vom sozialen Standpunkt, von dem aus ich später, leider nach langen Falschmünzereien, jeden Krieg als eine namenlose Anmassung etlicher Herren und als eine tierische Folgsamkeit und Schlächterei ganzer Völker ansehen musste. Paul hatte nie unter dem Tornister geschwitzt, noch weniger im Ernstfall die Kugeln pfeifen hören. Er wusste nichts vom Elend der gemeinen Soldaten, von zerrissenen Gliedern, woran ihn doch sein Daumenstumpf hätte mahnen können, nichts von Brandschatzung, Sengen und Brennen, Waisen- und Witwennot und Krüppeln für Lebenszeit. Er sah nur die grossen Manöver, das Genie Moltkes und Bismarcks, das Pathos fallender Festungen und erschlagener Bataillone. Er fühlte sozusagen nur die grandiose Epik der Sache als Dichter, wie man sie aus einem vehementen Buche in künstlerischer Distanz und rollenden Hexametern läse, aber nicht aus den leidenden, fluchenden, unglücklichen Einzelwesen der Tragödie und unserer menschenbrüderlichen Teilnahme mit ihnen.

So haftete mir denn auch selber bis tief ins Jünglingsalter die Schwäche an, Kriege poetisch und pathetisch, statt sozial zu sehen, und Schillers wundervolle Geschichtsbilder bestärkten mich später darin. Ich wurde ein eigentlicher Kriegsfanatiker, wollte nur noch Soldatenspiele treiben, begeisterte mich etliche Jahre später unendlich am Balkankrieg zwischen Türken und Russen, studierte nichts so gerne wie die Feldzüge der Vergangenheit, vergötterte Hannibal, Cäsar, Belisar, Saladin, Gustav Adolf, Napoleon, und wurde sogar wegen meiner Schwärmerei für den Verteidiger von Plewna der Padischah genannt. Noch mit sechzehn Jahren schnitzelte ich aus leeren Fadenspulen Hunderte von Soldätchen, errichtete Burgen und Städte und führte mit Nachbarsbuben grausame Belagerungen und Völkerschlachten aus. Geschichte blieb dann zeitlebens mein Lieblingsfach. Aber es dauerte noch zwei Jahrzehnte, bis ich mich vom Kriegstaumel losmachen und die Historie weniger mit Schwert und Büchse und Purpur, weit mehr mit Schaufel und Nadel und Fabriklerblusen würdigen konnte.

Damals war man in der Urschweiz noch durchaus vom Kriegsruhm der alten Schweiz erfüllt. Am Tell zu zweifeln machte beinahe vogelfrei. Das Wort Österreich erfüllte uns Junge mit Hass. Wir meinten, unsere Ahnen hätten immer für ihre Freiheit gekämpft. Wir verfluchten die Vögte der Chronik und wussten nichts von der himmeltraurigen Vögteherrschaft der Tellensöhne selber über die eroberten Gebiete, ja, über die eigenen Bauern, die schlichte Bürgersame sogar. Über die Bauernkriege ging man rasch hinweg, die französische Revolution war alles in allem eine Schandtat und die Eidgenossenschaft blieb nur echt, wenn jeder Kanton ein kleiner König blieb. Den Ursachen der Reformation ward mit Samthandschuhen nachgespürt, Andersdenkende zu verstehen, half uns kein Mensch. Die Schweizergeschichte, besonders die der Waldstätten, strahlte wie die pure Sonne und Gerechtigkeit. Das Schönste und Erstrebenswerteste darin für uns Knirpse war der Morgenstern oder die Hellebarde. In dieser Luft gedieh keine geläuterte Anschauung über Recht und Unrecht der Kriege. Ich wurde vierzigjährig, bis ich zum ersten Mal einen obersten Magistraten vor allem Volke rufen hörte, man solle unserer Jugend nicht bloss die hellen, sondern auch die schwarzen Blätter der Heimatsgeschichte zeigen.

Aber damals, als Fünfthalbjähriger, vermochte ich die Politik nur im Sinne von Kraft und Schwertglanz zu deuten. Ringsum sah ich nichts anderes, als dass derjenige am meisten galt, der am besten hosenlupfte, einen Stein am weitesten warf, einen gewaltigen Laib Käse am mühelosesten hochhob, eine wilde Kuh am geschicktesten bändigte. Und mein Vater, der solche Fauststücke eigentlich verachtete und seine weissen Hände schonte, war im Grunde genau so. Wie begeisterten ihn die Bayern, die er von seinen Münchener Jahren her so innig kannte und liebte, gerade weil sie am wuchtigsten dreinschlugen! Und wie ich die famosen Bilder der »Gartenlaube« betrachtete und meinen Vater mit grossen Gesten darüber phantasieren hörte, ward ich noch ungesunder als dieser Ungesunde. Ich hätte an einem Lagerfeuer kauern, auf Vorposten stehen, mit einem wiehernden Rappen ins Gefecht reiten, von einem Feldherrnhügel aus die Kolonnen rechts und links dirigieren mögen. Denn solches erzählte der Vater, und er erzählte wundervoll mit seinem klaren Basse. Nacht, weitum Stille, eine Trompete, Feuer, mit zwei Sätzen im Sattel, der Feind in dunkeln Massen nahend und brausend wie ein grosses Wasser, Musikmarsch bei uns, Galopp, Bajonettgekrach, stürzende Regimenter, geschwenkte Banner, Hurra, Sieg! – Und immer wieder mit dem verstümmelten Daumen tupfte der Erzähler auf den Illustrationen der deutschen Hefte herum: Seht da, so! – und jetzt so! –Seht! ...

Aber unser Tambour lag auf dem Sofakissen mit zerflattertem schwarzem Haar, schmauchte am Pfeifchen, betrachtete den erhitzten Vater, die gierig horchenden Kinder, die Schlachtenbilder, und verzog ganz leicht und spöttisch den Mund. Dann fiel sein Blick auf die emsige Verena am anderen Fenster, wie sie nähte oder strickte ohne aufzuschauen oder zuzuhören, und ihm schien wohl, das sei der vernünftigste Mensch in der Stube, der faulenze und salbadere und flunkere nicht, sondern rege nützlich die Arme und ziehe der angeschwindelten und verlumpten Menschheit wenigstens ein ganzes Hemd oder einen warmen Strumpf an.

Das merkte ich freilich nicht, bis der Tambour es beim Abschied, die Hand am Käppi, vor uns allen der Mutter ins Gesicht bekannte. Der Vater grübelte im Ohr, wie er immer tat, wenn er etwas Unangenehmes vernahm. Meine Mutter wurde rot bis in den Hals hinunter. Aber meine ältere Schwester leuchtete geradezu auf wie ein Stern und sagte mir: »Siehst du! Siehst du jetzt, du Gvätterlibub (kindischer Spieler)!«, bis ich den Vorgang halb und halb begriff. Aber es wollte mir nicht gefallen, und ich grübelte auch im Ohr.

Doch wenn ich etwa von Vaters Fabelei weg auf den Schulhausplatz hinunterlief und dem grossartigen Gerede der älteren Schulbuben zuhörte, wie sie sich über den deutsch-französischen Krieg ausliessen, gewann ich ganz andere und sachlichere Kenntnisse als aus den Fanfaren in der Stube. Die meisten Knaben neigten den Franzosen als den so grausam Verspielenden zu, nur wenige hielten es mit den Pickelhauben. Die Preussen wollen alle Länder ringsum in einen Topf werfen und auffressen, hiess es. Schon haben sie Schleswig-Holstein geschnappt und Österreich mit dem Ellbogen in eine Ecke hinausgestossen und die Beine nach links und rechts durch die kleinen Staaten verspreizt. Jetzt fangen sie noch mit den Franzosen an. Wegen einem kleinen Ärger gleich das halbe Europa anzünden! Ein Glück, dass wir Eidgenossen den Rhein zwischen uns und ihnen haben, den Rhein grün und reissend und noch ganz gletscherkalt, sonst weiss der Teufel, was den Preussen noch einfiele.

»Oh,« rief Franz Britschgi, der muntere Gasthofsohn, »da sind auch noch die Bayern. Das ist eine andere Sorte. Mit denen kommen wir gut aus. Die hülfen uns. Sie mögen den Preuss’ so wenig als den Franzos’.«

»Schweig’, kleiner Fink«, überschrie ihn die mutige deutschfreundliche Minderzahl. »Das heisst man den Stiel umkehren. Der Napoleon ist ein Hochmutsaffe, wollt’ alles nach seinem Dünkel und Schnauzzipfel haben, meinte wie der Onkel zu sein und reicht ihm nicht einmal das Wasser. Auch den Franzosen war er schon lange um ein billiges feil. Gerne hätten sie ihn in sein thurgauisches Landhaus uns Schweizern zurückgegeben. Und da hatte er zu allem noch eine verflixte Zigeunerfrau zum Weib, die ihre Nase in alle Häfen steckte und ihn reizte und wirr und wild machte und ein recht grosses Feuerwerk sehen wollte. Da hat sie’s bekommen. Prost!«

»O ihr Blödiane«, entgegnete man. »Nur weil die Franzosen das schlechtere Gewehr und mindere Leutenante hatten, haben sie verspielt. Sonst, Herrgott noch einmal! Der welsche Kaiser hat uns immer gern gehabt. Denkt nur an den Neuenburger Handel! In Zürich hingegen und in Basel soll es nicht mehr auszuhalten sein vor den vielen Schwaben und Berlinern und ihrem heillosen Maul.«

»Das beste ist,« griff nun bedächtig der lange Constantin ordnend ins wilde Garn der Rede, »das allerbeste, wir halten uns beide vom Buckel, den Franzos’ und den Preuss’. Mögen sie ihre Suppe selber zusammen auslöffeln, das geht uns nichts an. Aber die gleiche Sprache haben wir halt doch wie Schwab’ und Preuss’. Hingegen der Franzos’ hat ein anderes Parlieren. Wir verstehen ihn nicht. er ist uns nicht so nah verwandt.«

»Aber unsere Bourbaki hier sind doch cheibeliebi Burschen«, wandte man ein. »Das sind sie«, nickte Constantin gütig.

»Und gefochten haben beide Teile wie bare Teufel. ’s ist keiner davongelaufen. Und von beiden liegen ganze Schwaden im Gras. – Ja, so ein Krieg«, seufzte man.

»Wenn es bloss am Volk gelegen wäre, sie hätten einander nicht totgestochen«, mischte sich wieder die ruhige Stimme Constantins in die Rede. »Das hat uns der Vater gesagt. Keine Patrone würde verschossen, wenn die Bauern ganz allein und die Handwerker und Arbeiter und sonstige Bürgersleut’ ja oder nein sagen müssten, nicht die paar Generäle und Präsidenten. Nein würden sie sagen. Nein, nicht schiessen, nicht stechen, nicht kriegen. Nein, das wollen wir nicht, Mensch auf Mensch!«

»Das wär’ aber schier schad’«, fuhr Leo von Moos dazwischen. er hatte ungeheure Armmuskeln. – »Denkt, wo wären wir ohne Krieg?« »Ja, das wohl«, sagten alle und wiegten ihre länglichen Obwaldnerköpfe. »Denkt an Morgarten«, schrie der herkulische Bub uns an, »und an Sempach und an Murten! Das hat uns gerettet. Wir wären verloren. Wir müssten dem Österreicher oder sonst einem fremden Cheib dienen. Oh, uns hat der Krieg so berühmt und stark und frei gemacht! ...«

Ein Schauer fasste mich. Die alte Schweizergeschichte in ihrer teils echten, teils bengalisch beleuchteten Glorie stieg vor mir auf, und in diesem grellen fieberroten Licht, dessen Künstlichkeit ich noch viele Jahre nicht erriet und das mich noch oft blenden sollte, versanken alle deutschen Helme und welschen Käppi, und ich schoss die drei Stiegen hinauf, um schleunigst die Schlacht von Sempach mit dem Herzog Leopold und dem Arnold Winkelried zu spielen, mit Fadenspulen zu spielen, ich, der Gvätterlibub!

Aber der Tambour winkte in seiner schäbigen Uniform noch einmal von der Strasse zu Mutter Verena herauf. Und ich sah wieder, wie er den schwarzen Schnurrbart gleich einem hübschen Schuhbürstchen gehoben, die weissen Zähne gezeigt und der Mutter mit einem kostbaren Knicks gesagt hatte: »Ja, ja, so rekt, Madame, avec Loffel und Strumpfe und Nadel und nikt avec Füsil und Bajonett, sacre Dieu, pas ça, absolument pas ça!«


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