Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Die unfertige »Religion« und »Wissenschaft«

An einem regenfeuchten Nachmittag zogen je sechs oder acht Pferde zwei gewaltige Sandblöcke den Gartenweg herauf zum Schulspielplatz. Die Räderfurchen sah man noch viele Tage lang. Mit einer Winde wurden die graugrünen Ungeheuer aufgerichtet. Wie Felsen standen sie da.

Darauf zimmerte man ein Gerüst mit einer steilen Wendeltreppe um sie herum auf, und Paul begann in Schurz und Kittel, ein Sammetkäppi im schwarzen Haar, mit heftigen, fast hastigen Hammerschlägen am Stein zu arbeiten. Auf einem Karton hatte ich gesehen, dass zwei Frauen aus den Felsen schlüpfen mussten, die ernste Religion und die kluge Wissenschaft. Diese Figuren sollten am Eingang zum neuen Kantonsschulgebäude in Sarnen stehen, und wenn sie meinem Vater tüchtig gelangen, war er vieler Aufträge, Kränze und Goldrollen gewiss. Freilich musste er in einem gewissen landläufigen Schema verharren. Auf seinem Nachttisch lag in jenen ersten Tagen ein Buch mit dem Titel: Michelangelo.

Bald blickten die Gesichter in rohen Umrissen aus den Klötzen, Schultern und Arme wanden sich hervor, Falten des Gewandes entflossen, Locken lösten sich. Aber ich fand in meinem bübischen Verstand oder Unverstand nichts Besonderes an diesen Zügen. Schwerfällig und langweilig dünkte mich das, was da hervorlauschte, wie schon oft gemacht und gesehen. Gewiss erschien es meinem Vater auch nicht gut. Nachdem er im ersten heissen Glauben ein paar Tage an den Blöcken herumgemeisselt und einen dicken Vorschuss eingestrichen hatte, verzweifelte er wohl an der Möglichkeit, seine Träume in diesem Sandstein zu verwirklichen, und kleinlaut und angeekelt von der Halbheit seines Vermögens, verschwand er spurlos für lange Zeit. Die Religion und die Wissenschaft mussten unfertig, plump, hilflos bei Sonne und Regen auf dem leeren Platze stehen, von allen Schulkindern umgafft, und wussten so wenig als Verena oder der Besteller, wer ihre dumpfen Seelen aus dem Stein erlösen würde.

Vom Ärger des Rektors der Kantonsschule, des gewaltigen Augustin Grüninger, vom Spott der Übelwollenden, von der Bitterkeit und Beschämung Verenas wusste ich gottlob nichts, sondern kletterte erfreut am Gerüste empor und richtete mir auf den obersten Brettern einen hohen herrlichen Sicherheitsplatz ein. Von da blickte ich in die Tiefe hinunter, sah den vorüberkriechenden Menschen auf die Köpfe, faltete glücklich die Hände und hielt mich für Zeit und Ewigkeit vor allem Übel behütet.

Ab und zu nahm die Wissenschaft an der Nase, streichelte ihre Wangen, hielt ihr den Finger an die Lippe, ob sie etwa warm sei oder gar zu reden beginne. Ach nein, wie fischkalt war dieser Mund! Dann aber vergass ich die gute Frau völlig und dachte nur, wie hoch und sicher ich hier oben hause. Eine wahre Sucht nach hohen oder doch traulich sichern Sitzen begleitete mich durchs ganze Leben. Ich richtete mich auf Holzbeigen, Kisten, Stühlen und Tischen wie ein Vogel im Baumwipfel ein, aber liebte auch die Schlupfwinkel im Gebüsch, die Gänge unter hohem Schnee und im Heu des Tenns.

Infolge meiner Armut und Krankheit gelangte ich nie im äussern Leben zu jener Sorglosigkeit, die keine festen Plätze und Sicherungen suchen muss, weil sie auf ihre Macht oder Kraft überall im offenen Plan vertrauen darf. Ich genoss nie jenes vertrauen nach aussen und beneidete jeden, der es besass. Nur nach innen, dem, was mein Eigenstes war und durchaus von mir abhing, traute ich kräftig. Aber wie wenig war das! Bestand es doch fast nur aus Einbildung, Traum, Begeisterung und Seifenblasen. Es war nicht Springen, Steineschleudern, Zentnertragen, Klettern, Schwimmen, Hosenlüpfeln; es war nicht Schlitteln, Rudern, grossartiges Geldausgeben, starke Fäuste, elegante Knie, erschreckende Blicke zeigen, brummen wie ein Bär und brüllen wie ein Löwe und im Kreise der Gespielen Prunken und Protzen. In all dem war ich ein kleines Nichts, hier musste ich hinter den Ofen oder auf das oberste Stieglein der Wissenschaft kriechen, den Kopf hinter die Bretter stecken, vorsichtig durch eine Luke hervorgucken und froh sein, dass mich niemand aus dem Versteck in die Konkurrenz der Starken hinunterriss und vernichtete.

Das Leben und ein Korn eigener Witz haben mich später wohl gelehrt, diese krankhafte Versteckenssucht, diese heimliche Vogelnestliebe so viel wie möglich aufzugeben. Von der Nestwärme hat man noch nicht gelebt. Ich merkte, dass man auch frieren, ins offene freche Feld hinausstehen, sich sozusagen dem Wind der Welt preisgeben muss. Noch mehr, ich erfuhr, wie schön, wie wahrhaft menschlich dieses Risiko ist. Ich wäre wohl verstaubt und verschimmelt ohne es. Aber trotzdem ist die Sehnsucht nach einem verborgenen Winkel, wo man ruhig husten und keuchen, träumen und lesen und dichten kann, immer wieder in mir erwacht und nichts hat mir später so viel Glück bereitet, wie durch einsame Bergtäler zu wandern, in unbekannten Gasthäuschen zu hausen, im Stübchen zu sitzen, wo nur meine Seele zum Fenster hinaus und nur der Herrgott hineinschaut. Mit welchem Entzücken las ich darum Adalbert Stifters Hochwald! Nie dick und hoch genug konnte mir Robinson seinen Zufluchtsort umhegen.

Nichts begriff ich später so gut im Gewirr der Welt als die Flucht in die schweigsame Wüste, in die Waldesstille, das Leben der Einsiedler, die Suche nach einer einsamen Klause, weil es so sehr meiner Natur oder doch dem Drang meiner Schwächlichkeit und Kränklichkeit entsprach. Noch heute beglückt mich die Erinnerung an den ersten Gang in den Ranft, eine Stunde von Sachseln im Gebirge, wo tief unten im Tobel am Alpenwasser ein Waldbruder uns in sein Häuschen winkte und rasch und gut den Riegel hinter uns wieder zuschob und uns in seine kleine Bibliothek barg, wo es nichts gab als Bücher, eine Katze, einen Tisch mit der Kaffeekanne und das Widerhallen des Melchaaflusses von den Zimmerwänden. Oh, ich werde davon noch eigens erzählen. Und wie lieb wurde mir der selige Bruder Klaus schon nur um der Einsamkeit willen, in der er von 1467 bis 1487 hier unter den Tannen seine braune, durch die ganze Schweiz verehrte Kutte trug. Fast tat es mir weh, dass er die noch viel wildere und stillere Alpe Klister unter den Felsen der Forsteck verlassen hatte und sogar hier im Ranft noch so oft und schwer ins Menschengedränge, das zu seiner Zelle emporschwoll, mit beiden Händen hineingreifen musste. Der Zauber der Verborgenheit und Geborgenheit verlor sich ja dabei halb und halb.

Aber auch nichts bewunderte ich dann doch wieder im gleichen Gewirre der Welt wie das tapfere Stehenbleiben im Getümmel, das Standhalten im Sturm, das Umbrandetsein von Leid und Glorie wie eine zerfetzte Schlachtenfahne. Meine wildesten Küsse galten den Männern der Front. Gerade weil mir das Schicksal dergleichen für immer versagt und den Winkel angewiesen hatte, gerade darum staunte ich dieses brausende, purpurleuchtende Gegenteil mit durstiger Seele an. Darum wurde mir der exponierteste Geisteskämpe des vierten Jahrhunderts, der unbesiegliche Athanasius, oder an der lärmenden Wende des zwölften Jahrhunderts der grosse Innozenz III. so unendlich wichtig und lieb. Ich wäre für sie durch Feuer und Wasser gegangen. Dennoch, herzlicher und wärmer fühlte ich an der Seite des Bischofs Basilius, der heimlich immer für die Einsiedelei schwärmte, obwohl er im vordersten Glied stehen musste.

Daher kommt es wohl auch, dass ich jetzt im dahinsiechenden Alter auf meinem Lehnstuhl in der geheizten Stube nichts lieber tue als von Erstbesteigungen, Nord- und Südpolfahrten, Wüstenreisen und Entdeckungsfahrten am Amazonas und in den Anden lesen. Enger ducke ich mich dann in meiner Kleinheit zusammen, je Gewaltigeres von jenen Burschen der Kraft gelitten und geleistet wird. Beinahe lachte ich mich selber ob dieser Zweideutigkeit aus, indem ich in einem spottlustigen Augenblick folgende Reime mir ins eigene Fleisch kritzelte:

Satire:

In meinem Gärtlein mess’ ich, wie weit
Und poetisch der Wüste Unendlichkeit.
Im Ofenstuhle gilt mir dann
Der Nordpolfahrer als grösster Mann.
Und nach fettem Tisch und sattem Bauch
Rühm’ ich den blassen Klausner auch,
Der sich von Wasser und Wurzeln nährt
Und nie ein Schmäcklein von Braten begehrt.
Den Rücken an warmen Stubenwänden
Lob ich, die mitten im Plane ständen,
Die Wettergeschüttelten, Donnerumknallten,
Die noch lachen, wenn Himmel und erde sich spalten.
So sachte, von weitem, durch sieben Fenster,
Am hellichten Tag, lieb ich selbst die Gespenster.
Ich glaube sogar, dass hienieden die Welt
Mir erst von drüben so recht gefällt;
Dass ich hungre nach lippenblütigem Leben,
Erst wenn sie mir Schollen ins Narrenmaul geben. –
– Soll ich mich darob nun grämen und schämen,
Nichts mit der Genienase vorwegzunehmen?
Ist’s nicht auch Genie, wenn ich um ein Schock Jahre
Gelassen im Schweife der Dinge fahre?

Christmonat 1895.

Aber so arg war es früher doch nicht. Bei aller Schwäche und Not meines Lebens bin ich doch auf viele Berggipfel gestiegen, habe in Italien jeden hohen Turm erklettert, wanderte weite Strassen ab, trotzte manchem Gewitter und nahm manches geistige und leibliche Risiko auf mich. Ich suchte die Vogelnestruhe, aber habe mich ihr doch nie mit Haut und Haar verschrieben.

Jene Statuen nun, auf denen ich so gern horstete, wurden nie fertig. Die Blöcke, recht und schlecht wie sie dastanden, mussten weggeholt und von einer zweiten Hand fertig gehauen werden. Dann kamen sie in den Konviktsgarten von Sarnen. Sechs Jahre hindurch ging ich später als Gymnasiast täglich mit meinem Schulranzen an ihren grauen Leibern vorbei und wagte sie zuerst nicht einmal anzublicken. Ich schämte mich für meinen Vater. Denn jetzt, wo sie als etwas Endgültiges gelten wollten, sah man erst recht, was für ärmliche Gebilde es waren, ohne Geist und Regung. Trotz der glatten Feile des zweiten Künstlers schienen sie mir in jeder Hinsicht unfertig. Sie sahen nicht, sie hörten nicht, sie sprachen nicht, es ging da nichts von Herz zu Herz. Das war keine Religion und keine Scientia, sondern hilfloser Stein war alles geblieben. Ja, es dünkte mich noch vielmal toter und elender als damals, als es erst aus dem Fadenschlag guckte und noch vieles vermuten liess. Der zweite Meister hatte den dünnen Atem des ersten Meisters noch gänzlich ausgeblasen.

Ich war froh, dass meine Mitschüler nichts von der Entstehung dieser Figuren wussten und dass meine Lehrer sich taktvoll darüber ausschwiegen. Als ich einst allein bei den Statuen stand, suchte ich ängstlich nach, ob etwa meines Vaters Initialen irgendwo eingestochen wären. Wie atmete ich auf, als ich nichts fand. Ich wäre versucht gewesen, sie wie einen Familienmakel auszukratzen.

Im übrigen erinnere ich mich nur an wenige Arbeiten meines Vaters, am ehesten noch an einige Totenmasken und Gipsabgüsse. So schuf er den Kopf des Bischofs Greith von St. Gallen, in dessen Sage wir Kinder noch einzelne silberne Haare des berühmten Mannes fanden. Damals kamen auch statt der Steinmäler billigere Grabzeichen aus Eisenblech auf. Sie glichen stilisierten, dürren Stauden oder einem eisernen Kreuz mit laubigen und zackigen Umwucherungen. Sie missfielen mir schon damals. Aber interessant war es zuzusehen, wie der Vater diese unschönen Denkmäler bemalte und vergoldete und oft in ihre Herzmitte ein Medaillon mit dem Porträt des Verstorbenen setzte. Diese kleinen, farbigen Gesichter gerieten ihm stets gut. Die Hinterlassenen lobten die treue Ähnlichkeit. Aber die ganze übrige Machenschaft ekelte den Künstler entsetzlich an.

Für uns war das Köstlichste jene kleinen rötlichen Hefte aus Seidenpapier, in denen die Goldblättchen gebettet lagen. Oft überliess uns der Vater eins, in dem noch einige glühende Fetzen dieses Metalls steckten. Wie unnennbar schön das funkelte, gelber als Sonne und Mond! Sicher, es war nur zum Anschauen geschaffen, zur seligen Augenweide, wie der Himmel und seine Sterne, nicht zum Krämern und Geizen! Es war etwas Himmlisches, vielleicht gar ein kleines Lächeln Gottes, und darum so zart, dass man es nicht mit dem Finger berühren, ja, nicht einmal mit dem Atem treffen durfte, sonst verflüchtigte es sich und war verloren.

Machmal nahm der Vater mich nach Sarnen in die Zeichnungsschule der Studenten oder der Klosterfrauen mit. Bei den Gymnasiasten vermochte er die Ordnung nie aufrechtzuerhalten. Alles ging drunter und drüber, indessen er sich mit einem talentvollen Burschen abgab, und mir wurde dann oft himmelangst so allein unter den grossen Kerlen mit den ungeheuren Bässen und Spässen. Sie streckten mir die Zunge, ein Italiener grinste mich mit grossen weissen Zähnen und dampfenden Lippen an und kauderwelschte grimmiges fremdes Zeug, dass mir heiss wurde. Sie kloben mich und gaben mir Schokolade und ritten mich auf den Knien und ich dachte unwillkürlich, wo denn ihre beiden Mütter seien, die ernste Religion und die kluge Wissenschaft.

Paul half einige Male beim Fastnachttheater dieser Jünglinge mit, schuf Kulissen, besorgte Kostüme, pinselte den Milchgesichtern Runzeln auf und klebte ihnen Bärte ans Kinn. Das war ein Gejohle in der Garderobe. Aber wie vergass ich alles, da der Vorhang aufging und gespielt wurde. Unvergesslich ist mir die Aufführung des hl. Alexius, der im Hause seines vornehmen Vaters als unbekannter, übel geduldeter Bettler lebte und starb. Ich fürchtete die Mohren mit den schwarzen Gesichtern, der wulstigen Lippe und dem Weiss ihrer rollenden Augen. Obwohl ich zugesehen hatte, wie man sie übermalte und verkleidete, glaubte ich doch, sobald sie als fertige Neger spielten, an ihre grausame, mörderische Echtheit. Die kleine Bühne kam mir wie die greifbarste Wirklichkeit vor. Das an die Leinwand gemalte Rom mit »dem Schlangenhals des Tiber« meinte ich mit einem Steinwurf erreichen zu können. Ich zitterte vor dem Giftbecher der Sklaven, litt mit dem blaffen Alexius unter der Stiege und frohlockte, als alle Glocken Roms seinen heiligen Tod feierten. Immer wieder mussten mich die Zuschauer der hintern Bank auf meinen Sitz niederreissen. Immer wieder sagten die Nachbarn rechts und links: Zapple doch nicht so! Hast du Fieber? Das ist doch nur Theater, nur Theater! Nie habe ich diesen Spruch verstanden. Ich glaubte an die Bretter so stark wie an unsere solide Erdrinde. Viele Wochen schwebte mir bei Tag und Nacht jener heroische Bettler mit dem Schneegesicht der Entsagung vor Augen, und etwas zu tun, das ihm gliche, brannte mir auf der Seele und schien mir allein noch lebenswert.

Eine ganz andere Luft wehte im Frauenkloster St. Andreas. Da war alles leise, ruhig, ergeben. Man sprach langsam, sang andächtig und mit hohen Stimmen und neigte demütig die verschleierten Häupter. Ich sah, wie ein junges goldhaariges Geschöpf in den Orden eintrat. Als dieses zarte Jüngferchen niederkniete und die grosse hässliche Schere in sein sonniges Gelock schnitt, während eine alte Nonne schon Haube und Schleier bereit hielt, da schüttelte ich schwitzend und pustend das grosse drückende Stillschweigen ringsum wie einen Berg von mir. Ich sprang auf wie toll, warf die Arme von mir und schluchzte: nicht, nicht! lasset sie hinaus! o nicht so! – Ich heulte und tobte vor Weh und musste zum Saale hinausgeführt werden. Manche Klosterfrau hinter den Gittern hat damals aus ihrer heiligen Geborgenheit heraus über meine Weltwildheit lächeln müssen. Es war ja nur Theater der Zöglinge.

Sonst war ich selten mit dem Vater. Er wollte lieber ohne uns Kinder sein. Abends war er fast nie daheim. Ach, wie oft sollte ich ihn nach dem Zunachten aus dem Wirtshaus holen und wagte mich nicht in die Pinte hinein und doch auch nicht ohne Vater nach Hause. Da stand ich dann in der Kälte und Dunkelheit und klopfte zuletzt und sprang wieder von der Türe weg, bis die Kellnerin mich erwischte und berichtete: Paul komme jetzt bald, sehr bald. – Aber ich sah ihn durch die Türspalte rauchen, trinken, seltsam agieren und dachte: Ach, wie kann er Religion und Wissenschaft schnitzeln! Er soll’s gar nicht mehr versuchen! – Blieb er dann einmal zu Hause, weil er sich unwohl fühlte, etwa Herzklopfen spürte, so nahm er wohl Jeremias Gotthelf vom Kasten herunter und las uns aus Ueli der Knecht vor. Kraftvoll las er mit seinem dunkeln, weichen Bass. Diese Bäuerinnen aus dem Emmental rauschten in ihren weiten Staatskleidern daher und man hörte es förmlich, wie eine die andere überbot. Auch für Schiller schwärmte mein Vater und eine ganz besondere Liebhaberei trieb er mit Justin Kerner, dem romantischen Schwaben und Geisterseher.

Wundervoll waren diese wenigen Abende. Meine Mutter lachte wieder einmal zur Arbeit, der Vater sprühte vor Laune, wir Kinder durften länger aufbleiben und es gab noch etwas Leckeres auf den Tisch. Eine rosige Seifenblase lang dachten wir alle: Und es kommt noch alles gut! Und ich fügte leise bei: Er wird doch noch einmal die Religion und Wissenschaft zuwegbringen. –

Dennoch zerfiel nach und nach auch in Sachseln alle Arbeit des Vaters. Der Schnitzlerverband löste sich auf, er hätte eines feurigern Apostels bedurft. Die Zeichnungsschulen suchten solidere Lehrer, die Bestellungen für Bilder und Plastik versiegten, da niemand wusste, ob man etwas Fertiges kriege. Aber das Trinken und Schuldenmachen wuchs, und plötzlich verschwand Paul wieder auf Jahre und kein Lüftchen wehte her und berichtete uns einen Gruss von ihm.

Obwohl unsere Mutter von Paul nachgerade Unerträgliches erduldet hatte und mit seinem Weggang eine gewisse Erleichterung, Ruhe und Achtung wieder in unsere Familie einkehrte, so konnte Verena diese Trennung zuerst doch nur schwer verwinden. Sie liebte noch immer. In der Tiefe ihres Herzens loderte noch ein Rest von Leidenschaftlichkeit für ihn, obwohl sie es mit keinem noch so kleinen Funken nach aussen verriet. Es gab Stunden, wo sie ihm alles verzieh. Dann und wann, wenn sie ihre rauhen braunen Hände anschaute und den ärmlichen Tisch und das schmale Durchschlüpfen zwischen Hungern und Genughaben und links und rechts Vereinsamung, kam ihr wohl jene leichte sonnige Frauenzeit der ersten Ehe in den Sinn mit sorglosen Tagen, schönen Kleidern, viel Freunden und Vergnügen, mit Reisen im Zweispänner, Geachtetsein nach allen Seiten und mit einem stillen, zufriedenen, guten Gemahl, der ihr die Wünsche vom Munde las. Aber diese bittersüsse Erinnerung war schnell überstanden und rascher zappelten ihre Stricknadeln.

Jeden Abend mussten wir, und oft, wenn es der Mutter gar heiss ins Herz fuhr, auf den Knien mit ihr für den armen Vater beten, dass Gott ihn erweiche und erleuchte und arbeitslustig zu uns heimführe. Fast wund arbeitete sie sich, um unsern Unterhalt zu beschaffen, die Miete und die dringendsten Schulden zu zahlen. Paul hatte hinterrücks auch noch das Geld abgehoben, das als ihr Witwenteil von der ersten Ehe auf der Bank lag. Nichts blieb Verena übrig als die Arbeit und ein Kasten voll schöner Kleider aus ihren jungen Honigjahren. Aber je trostloser es um sie herum wurde, um so tapferer reckte sie ihre kleine Figur in die Höhe und zog uns mit an ihrer Unerschrockenheit empor. Sie lehrte uns, mit einem Zweibätzler im Hosensack noch lachen und Muttergotteslieder singen. Eine Art Vogelleichtsinn pfiff bei allem ernsten Werktagsgang zu unsern Türen aus und ein. Aber auch ins immerwährende Wunder einer höhern Vorsehung und Liebe zog uns die herrliche Frau immer wissender hinein. Erst merkten wir es nicht recht, dann ward es uns nach und nach fröhlich bewusst und zuletzt sagte unsere Seele leise, aber sehr stolz: die Mutter könne viel mehr als der Vater, sie könne die Religion und die Wissenschaft nicht in den Stein, aber ins Fleisch und Blut bildhauern. Und da gab es nichts Unfertiges, sondern alles ward recht und rund und ganz. Und sie selbst war das beste und das schönste Ganze, das ich je erlebt habe.


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