Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Was sagen die Berge?

Lange Zeit sagten sie mir nichts. Ich war ein so blöder Knabe.

Mein Vater, dieser Zigeuner in Kunst und Leben, der über endlose Strassen seiner Unruhe nachlief und von dem wir nicht wussten, ob und unter welchem Stern er lebe, mein armer lieber Vater hatte, als er noch mit uns hauste, nie viel Wesens von den Bergen gemacht, sondern die grenzenlosen Ebenen und das Meer gepriesen, und dort mochte wohl auch seine leichte Schwalbenseele herumschweifen. Meine Mutter aber, ein Kind der hellen Hügel, bekam es mit dem Leben so schwer zu tun, dass sie den Kolossen, die uns so viel blauen Himmel fressen, kein fröhliches Auge schenken mochte. Doch auch von den andern Menschen redete niemand von den Bergen zu mir.

Sie standen eben da rings um den See und im Rücken des Dorfes, schweigsam, notwendig, und wir Kinder machten uns darüber so wenig Gedanken wie über das tägliche Brot.

Im Frühsommer zog mit wirrem Geschell das meiste Vieh ins Gebirge hinauf, und ein gut Teil Hirten verschwanden mit ihm für Monate aus den Dörfern. Unter dem gleichen aufregenden Klingklang stieg man im Herbst wieder zu Tal, die Buben zweimal dicker und brauner, die Sennen voll Käse und Butter, die Treiber voll Jodel und schauriger Alpensagen.

Aber den Bergen merkte man nichts an. Ihr Gesicht blieb ruhig. Das kam und ging seit Jahrhunderten so.

Nur im Spätwinter sahen wir breite, schmutzige Furchen durch die obern Schneehänge hinuntergerissen wie mit einem ungeheuren Schabmesser. Da waren Lawinen niedergegangen. Aber selten hörte man nachts bei lauem Föhn ihr schreckhaftes Getöse und drehte sich unbesorgt, aber mit einem wohligen Schauder gegen die Wand und schlief wieder ein. Denn überall schirmte uns der Bannwald.

Doch die Gewitterbäche im Sommer, das war eine gefährlichere Musik. Schwarz und dick hockte die Wolke wie ein Untier auf den Gräten des Sachslerberges, und es züngelte gelb und rot und blau aus ihr heraus. Und plötzlich zerbarst sie zu einer See. Wir sahen es kommen in braunen und grauen Fluten durch die obersten Weiden, in die Schluchten rumpeln und von da ins tiefere Gelände hinausstürzen, die Bachbrücken wie mit einem Hauch wegblasend, das Bett überfüllend, in unser Dorf, in die Gärten und Felder hineinschwemmend, eine mit Felsblöcken und Stämmen dickgebrockte Riesenbrühe, und alles wüstenhaft versaarend.

Da redeten die Berge endlich.

Sie hatten mit Himmelsgeduld in unsern Klatsch und Dorfneid, in die alltäglichen Menschenbosheiten von Geiz, Lästerung, Gewalt und Genuss geschaut und gehofft und gewartet, es bessere einmal. Jetzt war es genug. Jetzt sollten wir sie hören.

Das polterte wie der Jüngste Tag durchs Dorf. Der Kirchturm schlug schreiend seine sechs Glocken zusammen, man weckte mit Böllerschüssen die ganze Talschaft. Mann, Weib und Bub rannte mit Haken, Schaufeln, Stangen an den randvollen Bach, suchte das Schuttgeschiebe in Fluss zu bringen, die Stauungen zu brechen und auf jede Art das Überlaufen des mörderischen Wildwassers zu hindern. Kein Mensch verstand den andern vor diesem Sündflutgebrause. Schon stand man bis ans Knie im Uferwasser. Überall wurden die Kellerfenster und Haustüren verrammelt. Man stritt sich, ob nicht im Unterlauf eine Bresche geöffnet und so das Oberdorf entlastet werden sollte. Aber die dortigen Flurbesitzer weigerten sich. Das Opfer war zu gross, das Entgelt zu kleinlich.

Jetzt ging ein Schrei durchs Volk: ein Rind trieb herunter, bald mit den Hörnern, bald mit allen Vieren gen Himmel gedreht. Blitzschnell schoss es vorbei, niemand hätte es packen können. Nun folgten Bretter, ein Tisch, ein Sägebock, ein Hühnerstadel, und jetzt, o Gott, ein Bäumchen mit allen Wurzeln und mit einem Vogelschlag im Geäst. Aber was ist das? Etwas Graues kauert darauf, tief ins Holz verkrallt, bald von den Wellen überströmt, bald den Katzenkopf in der Luft und, ist’s möglich, eine Amsel in der Schnauze. Vorbei! Lebte sie noch? ’s ist eine Katze, die sind nicht unterzukriegen, töten noch im Tod.

»Aufgepasst, Mann Gottes!« schreit es. »Zurück!« Ein Schritt zu weit und man ist verloren.

Und wahrhaft, ich hab’ es selbst gesehen, wie der Hock-Alois mit einer Axt herzutrampelt. Es ist fünf Uhr, aber dämmerig wie um halb neun. Der ewige Säufer kommt aus dem Hirschen und schwankt daher wie im Schwindel, die Axt erhoben, als wolle er ganz allein mit einem einzigen Schlag dem Unheil ein Ende bereiten.

So stapft er schon den unterschwemmten Bachranft hinauf, totbesoffen, die Augen voll Irrlicht, und ehe man es merkt und ihn zurückstösst, tritt er mit dem rechten Fuss ins Grundlose und verschwindet blitzschnell im Gestrudel. Ein Schreckensruf an beiden Ufern! Aber zehn Meter bachab steht ein kühler, gewandter Mensch mit einem Pickel am Bord. Ich glaub’, es war einer von der besonnenen Schälisippe. ’s ist nur ein Gartenpickel für kleines Unkraut, was er da hält. Aber diesmal fasst er ein grosses. Das Glück will es, dass er mit den zwei Zinken just zwischen Hemd und Gurt hineintrifft, festbeisst, im Schwung der Bachwoge den Verlorenen hereinreisst und mit einem flotten Schuhtritt über den Ranft hinunterkollern lässt. Einen Moment liegt der Hock-Alois wie ein Holzscheit da. Dann öffnet er die Augen, springt auf, entschüttelt das Wasser wie ein Pudel und ist so nüchtern wie noch nie. Aus der Tragödie wird eine Komödie. Alles lacht. Noch nie sah man einen solchen Kanonenrausch so augenblicklich verflogen. Und der Alois greift nach einem andern Werkzeug und wehrt und flöchnet nun allen voran und wacht die ganze Nacht beim Wasser.

Als ihn der Gemeindepräsident Hermann später wieder einmal in seinem Rausche durch unser Dorf schwanken sah, rief er in seiner herrisch krähenden Stimme: »Aloisi, jetzt rechnet auf kein Wunder mehr!« – Das Wort muss gewirkt haben wie nicht einmal jenes Sturzbad. Der Mann stutzte und erwiderte dann merkwürdig langsam: »Doch, doch, Herr Landammann, es gibt noch eines!« Und so geschah es. Denn dies war sein letzter Rausch.

Am nächsten Morgen glänzte die Sonne wie die bare Unschuld vom Himmel. Die Berge dampften vor Frische und schienen jung geworden. Sie lachten über die zerrissenen Bäume und verheerten Felder und die weiten, faulenden Schmutztümpel. Habt ihr uns nun verstanden? fragten sie. Aber der Mensch, der unverbesserliche Mensch, hatte keine Zeit zum Nachsinnen und begann den Schutt wegzuräumen ...

Doch der Berg ergab sich nicht. Dann und wann, wenn man im Frühsommer beim Zudunkeln die einsame Landstrasse gegen Giswil spazierte, begann der Berg wieder zu reden. Plötzlich aus irgendeiner unsichtbaren Voralpenhöhe scholl eine Mannesstimme feierlich der Nacht entgegen. Das ist der Betruf der Älpler, womit sie Mensch und Vieh, Leib und Seel’, Sorg’ und Ehr’ und Heil dem lieben Gott, dem Welthirten, und der Fürsprache seiner Heiligen, besonders Sankt Wendelins anbefehlen. Uralt tönt Wort und Klang, aus dem Mittelalter, was sag’ ich, aus der Urzeit der erde. Sooft ich’s hörte, erschauerte ich, so ein Gefühl von menschlicher Verlassenheit, von irdischer Ungenüge, von Suchen und immer Suchen nach Ruhe lag in der Melodie.

Die Berge bildeten nur noch ungeheure schwarze Massen, der See eine ungestillte, rätselhafte, schwermütige Finsternis, die kleinen Menschen versteckten sich in ihre Schneckenhäuser, durch die Luft wehte es von den hintern, unsichtbaren Eisgebirgen des Oberlands her totenkühl. Die Alpenwasser tönten so hohl aus den Schluchten, es gespensterte so seltsam im Gras, die Bäume bekamen eine so drohende Gestalt, die ganze Erde schien in eine Feindin umgewandelt, in eine fremde Dämonie, und der Abendstern lachte wohl, aber so weit, ach, zum Trösten viel zu weit weg. Und auch jener Hirte verstummte jetzt. Oh, dann lief es mir kalt übers Herz, ein Gruseln der Seele durchfröstelte mich. »Ich bin allein auf der Welt«, schrie ich und horchte auf eine Antwort. »Ganz allein! Oder wer ist noch da? wer da?«

»Ich!«

Wer hatte gerufen: Ich? Hatte überhaupt jemand gerufen? Nur der Herrgott konnte ein solches Ich sagen.

Nein, es war eine Fledermaus, die schief über mir hin und her schwaderte. Und jetzt summte mir eine Mücke am Ohr. Auf einmal verlor ich die Angst. Da lebten ja noch kleinere Ich als das meinige und sie kamen gerade, als ich um Hilfe rief, Knechtlein alle des grossen Ich, Boten Gottes, ganz gewiss. Und wieder blickte ich zum Abendstern und jetzt schien er mir viel näher und wie ein geöffnetes Fenster, aus dem Musik bis zu mir herunterwehte, das Orchester der Ewigkeit. Und nun dünkte mich die Ruhe der Alpen ringsum und des Sees auf einmal nicht mehr unheimlich, sondern diese Schweiger verharrten so mäuschenstill, damit ihnen keine Note vom hohen Konzert entgehe. Und sie duckten sich so tief in den Schatten, damit man ihre Rührung nicht bemerke. Denn auch der Berg aus Stein und der kalte See, auch sie sind Seelen voll Heimweh nach dem Ewigen.

Wie oft erlebte ich solches draussen vor dem Dorf in dem mir so lieben Stündlein von der Dämmerung in die volle Nacht. Aber die Dämmerung, merket wohl, ist in den Alpen doppelt so grau und die Nacht doppelt so schwarz als anderswo.

Doch nicht immer bekam ich Antwort auf mein: »Wer da?« Oft blieb der Stern unsagbar fern, und der Wind trug keine Musik her. Dann sagte ich mir voll kindhaftem Erbeben: Wenn nun doch kein Gott hauste in den goldenen Stuben da oben! Wenn kein Daheim wäre hinter jenen blitzenden Fenstern! Wenn nur die Grausamkeit der Elemente regierte, diese ungeheuren wüsten Wasser und diese barbarischen Gebirge aus Fels und Eis und die Menschen, die einander noch am meisten plagen! Wer könnte da noch, wer möchte noch leben? Wie bald erlöschten die Lampen dort oben, ginge das Wasser über alle Borde, erfröre der letzte Mensch zu Stein und Bein und fiele der Himmel über ihm zusammen. Und frierend und unendlich bange, ob das am Ende doch möglich sei, floh ich ins Dorf, ins Haus zurück, kroch ins Bett und betete: »Lieber Gott, nicht wahr, du bist? Und du bleibst! So lass mich jetzt hurtig einschlafen. Und steht morgen deine Sonne noch am Himmel, so lache ich und sage: Vater unser, der du bist im Himmel und bei mir und überall, weil sonst alles zu nichts zerfiele!«

Ich dachte und sagte dies alles nicht so, wie ich es hier schreibe, o nein, ich sagte es schöner, weil viel, viel einfacher. So einfach kann ich leider nicht mehr denken und noch weniger reden. Das Genie des Kindes verkrüppelt zum Talent des Erwachsenen.


 << zurück weiter >>