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Vierter Teil.
Die Welt nach dem Propheten

Das Imperium Mohammeds hatte zum Fundament den Geist, deshalb überlebte es seinen Gründer.

Die Kalifen setzten den Weg des Propheten fort. Wohin führte dieser Weg? Wie endete er?


Ein tragischer Ausgang

Gesinnungen leben nicht, wenn sie keine Gelegenheit haben, zu kämpfen.

Thomas Mann

Man schrieb das Jahr 1924. Über der großen Stadt am Bosporus lag tiefe, undurchdringliche Nacht. Von breiten Marmormauern umgeben, ruhte inmitten des Gartens der kaiserliche Palast. Einst, vor vielen Jahrhunderten, ritt in die glänzende Stadt am Bosporus ein neuer Herrscher ein. Er tötete Romanus Palaiologus, den letzten Kaiser von Byzanz, den Beherrscher des oströmischen Reiches. Über einen Berg von Leichen ritt der neue Herrscher in die Kirche der heiligen Sophie, tauchte seine Hand in das Blut der Feinde und preßte die blutbedeckte Handfläche an die Kirchenwand. Das Abbild dieser schweren Barbarenhand wurde zum Symbol des neuen Reiches.

Jetzt schmückten die mit Gold verzierten Linien dieser Hand die Marmorpforte des alten Palastes. Totenstille herrschte im Monat März des Jahres 1924 in dem Palast. Lautlos wandern die wenigen Wärter durch die prunkvollen Säle. Irgendwo in einem fernen Gemach ruht ein älterer Herr mit grauen Haaren. Diesem Herrn gehören der Palast, das goldene Siegel an der Pforte und die Erinnerung an den großen Ahnen mit der schweren, blutigen Barbarenhand. Der Name des älteren Herrn ist ʿAbd al-Maǧid ibn ʿAbd al-Aziz Ḫān. Sein Titel lautet: Beherrscher der Gläubigen, Schatten Gottes auf Erden, Statthalter des Gesandten Gottes.

Im abseitigen Gemach, im Schatten der großen Stille, entsann sich ʿAbd al-Maǧid der Schar seiner kraftvollen Ahnen, die einst den gleichen Titel trugen wie er, die ihn gewaltsam eroberten und ihn Jahrhunderte hindurch in Glanz und Ehren führten.

Aus den Tiefen der mittelasiatisch-mongolischen Steppen herausgeschleudert, erschienen eines Tages am Rande des islamischen Reiches junge, starke und wilde türkische Nomaden. Sie wurden zum Schwerte des Kalifats, eroberten Kleinasien und brachten das byzantinische Reich zu Fall. Mit Leichtigkeit rissen sie dem müden, kraftlosen, arabischen Kalifen die Macht aus den Händen.

Die Herrschaft über den Staat Gottes, den Schutz des Islam und der heiligen Städte, die Stellvertretung des Gesandten Gottes auf Erden übernahm das Āl-i ʿUṭmān, das glänzende Haus ʿUṭmān.

Wieder vergingen Jahrhunderte. Das Reich dehnte sich aus und mit ihm die Macht, der Glanz und der Ruhm der stolzen Kalifen am Bosporus, der Herrscher von Stambul.

Jetzt lag im fernen Gemach des großen Palastes der letzte aus der langen Reihe der Herrscher: ʿAbd al-Maǧid ibn ʿAbd al-Aziz Ḫān. Sein Reich war immer noch groß. Ihm gehörten die frommen Seelen der dreihundert Millionen, sein Name wurde jeden Freitag in den Moscheen gepriesen. Er hatte die Stellvertretung des Propheten inne. Doch waren seine Macht und Kraft gelähmt. Er herrschte eigentlich nur noch über den Palast, über die grünen Gärten am Bosporus und über die Insignien des Kalifats. Über die Städte und das Land, das einst seine Väter regiert hatten, herrschte jetzt ein blonder, strenger General, dessen Pläne niemand durchschaute. Der Name dieses Generals war Mustafa Kemal Pascha.

Der Kalif lag in Gedanken versunken. Und während die Reihe seiner Ahnen an ihm vorüberzog, klopfte es plötzlich an der Tür. Ein Offizier, ein Vertreter des Paschas, trat ein. Er wollte den Kalifen sprechen. Durch die Dunkelheit des Palastes tönten energische Schritte. Im Nachtgewand, dürftig bekleidet, führte man den Schatten Gottes auf Erden, den Statthalter des Gesandten Gottes, durch den Palast. In dem großen, leeren Thronsaal, wo einst der islamische Papst die Huldigungen der Welt empfangen hatte, blieb der Offizier stehen. Der zitternde Greis mußte den Thron besteigen. Mit bebender Stimme verlas er in der Dunkelheit der Nacht ein Schreiben, das ihm der Offizier vorgelegt hatte. Der Inhalt dieses Schreibens lautete wie folgt: ›Ich, ʿAbd al-Maǧid, verzichte für mich und für das gesamte Haus ʿUṭmān auf alle Rechte des Kalifats und Sultanats, auf die geistliche und weltliche Macht des Islam.‹ Nur wenige alte, gebrechliche Diener lauschten seinen Worten. Der Palast war leer. Müde klang durch die drohende Leere des Prunksaals die Stimme des Schattens Gottes auf Erden.

Am nächsten Tag verließ der Kalif und nach ihm das ganze Haus ʿUṭmān das Gebiet der türkischen Republik. Die Welt des Islam, die dreihundert Millionen Mohammedaner in Indien, der Türkei, Rußland und Ägypten erfuhren, daß es keinen Kalifen, keinen Stellvertreter Mohammeds auf Erden mehr gab.

Dies geschah im Palast zu Stambul am 3. März des Jahres 1924.

Niemand wurde in jener Nacht im Palast getötet. Am 3. März des Jahres 1924 starb aber zu Stambul die Idee, die einst in traumhaften Visionen einem Kaufmann aus Mekka erschien. Der Staat Gottes, die Idee von der Einheit der Menschen im Islam war tot. Niemand auf Erden vertrat das Wort Mohammeds.

Dreizehnhundert Jahre regierten die Kalifen, die geistigen Erben des Propheten, die Welt des Islam. Sie bauten am Staate Gottes und vermochten den Bau nicht zu vollenden. Ein ehrgeiziger General und ein draufgängerischer Offizier genügten scheinbar, um einen jahrtausendealten Bau zu vernichten, um das Werk jenes legendenumsponnenen Kaufmanns aus Mekka zu zerstören.

Haben sie seine Lehre wirklich vernichtet? Ist seine Idee wirklich tot? Hatte der Prophet zu Mekka umsonst gepredigt? Hatten ein Jahrtausend lang die Menschen ihr Gesicht umsonst gen Mekka gewandt und gerufen: »Es gibt keinen Gott außer Allāh, und Mohammed ist sein Prophet?« Was blieb von der Idee erhalten? Wer verkörpert sie heute in der Welt des Orients?

Der Werdegang des Islam soll darauf Antwort geben.


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