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Die Hiǧra

Märtyrer ist derjenige, der sein Leben für andere Dinge hingibt als für irdische Güter.

Mohammed

Wieder verließ Mohammed die Stadt, wieder irrte er in der Wüste umher. An den grauen Felsen um Mekka tauchte seine breitschultrige Gestalt auf. An ihm vorbei zogen die Beduinen, wanderten majestätisch die Kamele. Der Prophet grüßte sie, und das einfache Wüstenvolk erwiderte seinen Gruß. Bei den Nomadensippen, bei den wilden Wüstenvölkern war der Name des Propheten nicht mehr unbekannt. »Das ist Mohammed«, sagten sie mit gewisser Ehrfurcht, »er behauptet, daß Gott durch seinen Mund spricht.« Das Wüstenvolk liebt und verehrt alles Heilige, einen Teil dieser Verehrung konnte auch Mohammed genießen.

Wenn ein Mensch vornehmer Abstammung und mit Reichtum gesegnet durch die Wüste zieht, über göttliche Dinge spricht und aus der Königin der Städte, aus Mekka stammt, so muß an diesem Menschen etwas sein. Das dachten die Beduinen und hörten halb ehrfürchtig, halb interessiert den Worten Mohammeds zu.

Jeder Wüstenstamm Arabiens hegt den Wunsch, einen eigenen Heiligen zu besitzen, das hebt sein Ansehen, bringt manche Vorteile und kann in verschiedenen Fällen sehr nützlich sein. Der Stammesheilige wird gut behandelt, vor Feinden geschützt und in wichtigen Fällen um Rat gefragt. Ist der Heilige klug, so kann er unter Umständen eine Art Regent des Stammes werden. Um das Recht zu erlangen, einen richtigen Heiligen zu besitzen, werden manchmal regelrechte Wettkämpfe ausgetragen, Heilige werden entführt und gefangen. Man hält sie fest wie einen Schatz. Das höchste Zeichen des Wohlwollens ist aber, wenn der Heilige einem Stamme verspricht, auf seinem Gebiete zu sterben. Das ist für den Stamm ein ganz großes Glück. Über dem Grab des Heiligen kann dann ein kleines Mausoleum errichtet werden, und neben dem Mausoleum kann man einen großen Jahrmarkt aufschlagen, der, falls der Heilige Anklang findet, von großem Nutzen sein wird. Auch Mohammed war für die Sippe der Wüste ein Heiliger, der sich mit seinem Stamm verzankt hatte und nun irgendwo Zuflucht suchte. Nicht alle Beduinen waren in Mekka gewesen, nicht alle wußten, was man in der Stadt gegen Mohammed sagte. Alle aber, die Mohammed sahen, sagten sich, daß solch ein Heiliger seinen Stamm ganz sicher dem Glück entgegenführen könnte.

In der Wüste wurde sich der Prophet seiner Bedeutung bewußt. Er war ein Mekkaner, ein Quraiš aus dem edelsten Stamme Arabiens. Er war weise und hatte einflußreiche Anhänger. Jeder Beduinenstamm mußte sich also glücklich schätzen, seine Freundschaft zu erwerben. Nach und nach kamen auch verschiedene Stämme, verbeugten sich vor dem Propheten, küßten den Saum seines Gewandes und boten sich ihm als Beschützer an. Es waren die Stämme der Danq, der Hamdān und andere. Doch lehnte der Prophet ihre Bitten ab. Er wußte, daß die Zeit des Friedens vorbei war. Jetzt mußte die Zeit der Kämpfe beginnen. Denn stolz und drohend lag vor dem Propheten die Stadt Mekka. Er besaß kein Mittel, sie in Frieden zu bezwingen. Deshalb suchte der Gesandte Gottes mächtige Kämpfer, kriegerische Sippen und mutige Glaubensbrüder, die ihm den Weg zur Wahrheit ebnen konnten.

Da geschah es eines Tages, daß der Prophet Gottes durch die Schlucht der ʿAqaba wanderte. Es war gegen Ende des Fastenmonats im Jahre 620. Plötzlich entdeckte Mohammed sechs oder acht buntbekleidete Beduinen, die am Feuer hockten. Der Prophet näherte sich den Leuten und fragte, aus welchem Stamme sie seien. »Wir sind Ḫazraǧ und kommen aus der Stadt Yaṯrib«, war die Antwort. Die Stadt Yaṯrib war dem Propheten bekannt. Er hatte dort Blutsverwandte. Er wußte auch, daß viele Einwohner von Yaṯrib Juden waren, die Schrift kannten und nur an einen Gott glaubten. »Lebt ihr zusammen mit den Juden?« fragte der Prophet. Und die Leute aus Yaṯrib bejahten die Frage. »Dann wisset, daß der Gott der Juden auch mein Gott ist. Ich aber bin sein Gesandter auf Erden.« Diese Worte beeindruckten die Fremden stark. Sie selbst waren Heiden, wenn sie sich aber mit den mächtigen Judenstämmen stritten, was oft genug vorkam, so sagten die Juden: »Nehmt euch in acht, ihr Heiden, wenn der Gesandte unseres Gottes kommt, so wird er euch alle zu Staub zermalmen.« Doch wußten auch die Klügsten unter den Juden nicht, wann der Messias kommen würde, so daß die Heiden vorläufig in Frieden leben konnten. Nun stand plötzlich der langverheißene Messias vor ihnen und fragte sie nach den Juden. Er schien gar nicht zornig zu sein.

Die Ḫazraǧ waren ein einfaches, wildes Volk. Der Messias war gekommen, die Juden in Yaṯrib wußten aber noch nichts davon. Es war also gut, schon jetzt die Freundschaft des neuen Propheten zu erwerben. Deshalb boten sie Mohammed Schutz und Hilfe an. Doch war Mohammed vorsichtig. Die Zeit des Kampfes war gekommen, und der Prophet mußte Staatsmann werden. Deshalb versprach er ihnen nichts und tat, als ob er ihre Hilfe gar nicht benötigte. Er erklärte ihnen den Islam und befahl, sie möchten im nächsten Jahr mit den Besten ihres Volkes wiederkommen. Die wilden Ḫazraǧ versprachen, dem Islam treu zu sein, und zogen von dannen.

Ein Jahr verging, und immer drückender wurde das Los des Propheten. Wenn Mohammed, nach Mekka zurückgekehrt, scheu durch die Straßen schlich, liefen die Straßenjungen von Mekka hinter ihm her, bewarfen ihn mit Steinen oder streuten Sand auf sein Haupt. Niemand von den Quraiš schloß mit den Gläubigen Geschäfte ab, man verweigerte ihnen auch den Zutritt zur Kaʿba. Seine Anhänger verarmten und gingen zugrunde. Manchmal fürchtete sogar Mohammed, daß nicht der Ruhm des Erlösers, sondern die Dornenkrone des Märtyrers seiner harre.

Als aber das Jahr um war und die Beduinen von neuem nach Mekka strömten, kamen zwölf Leute aus Yaṯrib und sagten, sie seien die Vertreter der Ḫazraǧ. Und sie trafen sich mit dem Propheten und boten ihm ihren Schutz an. Noch immer zögerte der Prophet. Lange lehrte er sie den Islam, bekehrte sie zum wahren Glauben und nahm ihnen den Schwur ab, keine Nebengötter zu verehren, nicht zu stehlen, keine Unzucht zu treiben, keine Kinder zu töten, nichts Falsches zu erdichten und dem Propheten in allen guten Dingen gehorsam zu sein (vgl. 60,12). Den wichtigsten Schwur aber, der sie verpflichtete, für den wahren Glauben zu kämpfen, ihr Blut und Gut zu opfern, nahm der Prophet ihnen nicht ab. Deshalb nennt man diesen Schwur den Schwur der Frauen; wenn eine Frau zum Islam übertritt, genügt dieser kleine Schwur.

Wiederum weigerte sich der Prophet, sich unter den Schutz der Leute von Yaṯrib zu stellen, zu unsicher war ihm die Stadt, zu wild und raublustig das Volk. Doch schickte er zu den Gläubigen von Yaṯrib, damit sie seiner Gnade sicher seien, zur Belehrung, zum Koranlesen und um Verhandlungen zu führen, seinen gläubigen Freund Muṣʿab ibn ʿUmair. – Den Leuten von Yaṯrib sagte er aber: »Kommet in einem Jahr.«

Muṣʿab ibn ʿUmair war klug. In seiner Jugend war er ein sehr beliebter Mann. Er verstand sich elegant zu kleiden, beherrschte vollendet die hohe Kunst des Müßigganges und wußte Geld auszugeben wie kein zweiter. Diese Betätigung machte ihn erfahren in vielen Dingen des Lebens. Sein Herz war aber leer geblieben, er sehnte sich nach großen Erlebnissen und war des faden, modischen Auftretens müde geworden. So bekannte er sich zum Islam und widmete sich ihm mit seiner ganzen Kraft. Er gehörte zu den nach Abessinien ausgewanderten Gläubigen und war als Bettler, in Lumpen gehüllt, zurückgekehrt. Er war nicht nur klug, sondern auch listig. Er glaubte an den Propheten und eignete sich gut für diplomatische Dienste. Da Mohammed jetzt die Zeit des offenen Kampfes nahen fühlte, wählte er zu seinem Vertreter in Yaṯrib keinen Prediger, sondern einen Diplomaten. Der wieder elegant gewordene Muṣʿab ibn ʿUmair erwies sich des Vertrauens würdig. Ein Jahr lang verbrachte er in Yaṯrib und rezitierte mit wohlklingender Stimme den Koran. Dazu erzählte er Wunderdinge von der Weisheit des Propheten. In einem Jahr erreichte er, daß alle Stämme von Yaṯrib auf den Propheten schworen. Die Juden, weil sie annahmen, Mohammed sei ein Jude gleich ihnen, die Heiden, weil sie hofften, Mohammed werde sie vor den Juden schützen.

Wieder war ein Jahr vergangen. Im Frühling 622, in der Zeit des Festes, kehrte Muṣʿab nach Mekka zurück, und mit ihm kam eine stattliche Delegation von siebzig Männern aus Yaṯrib. In der Nähe von Mekka schlugen sie ihre Zelte auf. Sie besuchten die Kaʿba, vollzogen, um nicht aufzufallen, alle magischen Zeremonien und schienen sich um den irren Hāšim gar nicht zu kümmern. Als aber die Nacht einbrach, schlichen sich dunkle, verhüllte Gestalten in das Lager der Yaṯribenser. Das war der Prophet und sein Onkel al-ʿAbbās, der an den Propheten nicht glaubte, ihm aber als vornehmer Hāšim seinen Schutz gewährte.

Die Yaṯribenser, von Muṣʿab geschickt vorbereitet, empfingen den Propheten mit aller Ehrfurcht, der diese einfachen Wüstenkinder fähig waren. Bevor man aber die Verhandlungen führen konnte, mußte noch eine merkwürdige Zeremonie vollzogen werden. Mohammed mußte offiziell aus der Gemeinschaft der Hāšim ausgeschlossen werden. Dies vermochte nur sein Beschützer bei den Hāšim, Onkel al-ʿAbbās, der innerlich wahrscheinlich jauchzte, den unruhigen Neffen endlich los zu werden. Doch war al-ʿAbbās klug, liebte es, sich gegen alle Seiten zu decken, und verstand den Schein zu wahren. Er hielt eine lange Rede, erklärte, wie er seinen Neffen liebe und wie ruhig und gesichert Mohammed, dessen Ansichten er übrigens gar nicht teile, unter seinem Schutz lebe. Da sich aber sein heißgeliebter Neffe aus unbegreiflichen Gründen der Gemeinschaft der Yaṯribenser anschließen wolle, könne er seinem Glück nicht im Wege stehen und gebe schweren Herzens seinem Verlangen nach. Allerdings nur dann, wenn die Leute aus Yaṯrib bei allem, was ihnen heilig sei, schwören würden, den Neffen mit aller Ehrfurcht zu behandeln. Die Yaṯribenser kamen seinem Wunsch nach, und al-ʿAbbās verließ befriedigt das Zelt. Er hatte an diesem Abend eine große Schlacht gewonnen, vielleicht eine größere, als er selbst wußte, denn seine Familie war es, die später die glänzendsten Kalifen des Islam stellte.

Nunmehr begannen die eigentlichen Verhandlungen. Die Leute von Yaṯrib erklärten sich bereit, Mohammed mit seinen Anhängern aufzunehmen und dem Propheten in allen guten Dingen zu gehorchen. Gleichzeitig fragten sie aber bescheiden an, was diese guten Dinge seien. Diesmal ging der Prophet einen Schritt weiter: »Ihr müßt«, sagte er, »mir unbedingt gehorchen und mich vor dem bewahren, wovor ihr eure Frauen und Kinder bewahrt. Ihr müßt wissen, daß mein Herz allen Völkern offensteht und nicht nur euch. Ihr müßt euer Blut und euer Gut für den wahren Glauben opfern, wenn ich es euch befehle« (61,11).

Das war nicht gerade wenig, und die Yaṯribenser erkundigten sich bescheiden, welchen Lohn sie im Falle des Opfers von Gut und Blut zu gewärtigen hätten. »Das Paradies«, antwortete der Prophet. Was das Paradies war, wußten die Leute aus den Erzählungen Muṣʿabs. Es war natürlich nicht schlecht, ins Paradies zu kommen, doch durfte man dabei auch die rein irdischen Fragen nicht vergessen. »Wenn wir aber siegen und für dich Ruhm und Reichtum erwerben, wirst du uns dann auch nicht verlassen und in deine Heimat zurückkehren?« fragte ein weiser Mann aus Yaṯrib, der wußte, wie wichtig es für eine Stadt ist, das Grabmal eines Heiligen zu beherbergen. Darauf schwor Mohammed, seine neue Heimat nicht zu verlassen, für ihr Wohl zu sorgen, sie zu lieben und das Blut Yaṯribs als sein Blut anzusehen. Damit waren die Verhandlungen beendet. Aus einem höchst fragwürdigen Propheten wurde ein sehr realer Staatsmann und Politiker.

Sofort wurden von Mohammed seine Stellvertreter für Medina ernannt. Dann reichte er jedem der Siebzig die Hand und verließ das Lager. Es wurde beschlossen, daß alle Gläubigen nacheinander Mekka verlassen sollten, um nach Yaṯrib auszuwandern. Der Prophet selbst wollte als Letzter die Stadt verlassen, damit keiner der Gläubigen mehr für ihn leiden müßte. Die Auswanderung sollte unbemerkt vor sich gehen. Niemand durfte erfahren, daß der Prophet in der Stadt Yaṯrib gar bald zu großen Taten berufen sein würde.

Wenn aber nächtliche Verhandlungen geführt wurden, wenn eine große Gruppe auswandern wollte, wenn der Keim eines neuen Staatswesens gelegt werden sollte, so kann das alles nicht gänzlich unbemerkt vor sich gehen. Eines Tages erfuhren die Quraiš, was der gefährliche Irre beabsichtigte, und die Empörung unter den Bankiers von Mekka war groß. Nicht nur, daß der Hāšim die ganze Stadt in Unordnung brachte, nicht genug, daß er den Handel vernichten und die Götter vertreiben wollte, jetzt beabsichtigte er noch mit all seiner Anhängerschaft in eine fremde Stadt auszuwandern, um dort, von der Aufsicht vernünftiger Leute befreit, sein wahres Wesen zu zeigen und zuletzt gegen seine eigene Heimat in den Kampf zu ziehen. Das grenzte bereits an übelsten Verrat.

Die reichen ›mekkanischen Geldbäuche‹ schlugen sofort vor, nunmehr die ernstesten Maßnahmen gegen die Auswanderer zu ergreifen. Die Mehrzahl der Quraiš« wollte aber davon nichts wissen. Im Gegenteil, die Auswanderung schien ihnen sehr recht zu sein. Denn die Auswanderer verließen Mekka heimlich. Ihr Hab und Gut blieb also in der Stadt. Man konnte diesen nun herrenlos gewordenen Besitz für wenig Geld käuflich erwerben oder auch ganz einfach an sich nehmen. Sofortige Maßnahmen gegen den Propheten hätten die weiteren Auswanderungen gehemmt und damit auch die Verdienste der Quraiš« geschmälert. Da man wußte, daß Mohammed gelobt hatte, Mekka nicht eher zu verlassen, als bis der letzte Gläubige in Sicherheit war, entschloß man sich zu warten und den Verräter im Auge zu behalten. Es muß in Mekka eine merkwürdige Stimmung geherrscht haben. Täglich verschwand irgendeiner der Gläubigen, täglich wurde irgendein Haus von Quraiš« besetzt, täglich gingen vor dem Hause des Verräters junge Mekkaner auf und ab, sangen Schmählieder und versprachen mit Mohammed abzurechnen, wenn der letzte Muslim die Stadt und seinen Besitz verlassen hätte.

Endlich war die Zeit gekommen. Nur Mohammed, Abū Bakr und ʿAlī weilten noch in der Stadt. Im großen Rathaus bei der Kaʿba versammelten sich die Edelsten unter den Quraiš, um wichtige Entschlüsse zu fassen. Alle wußten, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen war, um mit dem Unruhestifter abzurechnen. Keiner traute sich aber das Allheilmittel vorzuschlagen, das die Bewegung für immer ersticken mußte.

Die Quraiš« waren mutige Leute. Sie waren aber Kaufleute, und Blut war ihnen verhaßt. Blut erzeugt Blut, und wo Blut fließt, endet der friedliche Handel, stocken die Geschäfte und verringert sich der Reichtum. Das wußten die Quraiš aus vielen Beispielen. Keine der Familien wollte den Fluch der Blutfehde auf sich nehmen. Denn jetzt stand Mohammed unter dem Schutze der wilden Ḫazraǧ, die gewiß nicht mit sich spaßen ließen. Eins war allen klar: Mohammed durfte die Stadt Mekka nicht verlassen. »Wir wollen ihn in den Kerker werfen und in Ketten legen«, sprachen die Quraiš und verstummten sofort, denn offensichtlich war es, daß man den Propheten trotz aller Bewachung befreien würde.

Da erhob sich der Vater der Hölle, Abū Ǧahl, der Klügste unter den Quraiš. »Mohammed muß sterben«, sagte Abū Ǧahl, »um keine Blutfehde zu entfachen, soll jede Familie einen Vertreter schicken, der sich am Morde beteiligt. Dann trifft die Schuld uns alle gemeinsam, und gegen alle Sippen der Quraiš wird sich in Arabien keine Hand erheben.« Abū Ǧahl war ein weiser Mann. Er wußte, was er sprach. Gegen alle Familien der Quraiš waren die Yaṯribenser machtlos.

siehe Bildunterschrift

5. Mekka-Pilger: bettelnde Pilger aus dem Jemen (links oben), Pilger aus Marokko (rechts oben), indischer Pilger (links unten), Derwische aus Buchara (rechts unten). Historisches Foto von C. Snouck-Hurgronje, 1889.

Jede Familie stellte nun einen Jüngling, um die Stadt der Quraiš für immer von dem Propheten zu befreien. Wenn aber die ganze Stadt eine Maßnahme beschließt, so kann sie vor dem einzelnen nicht verheimlicht werden. Bald erfuhr der Prophet, was gegen ihn geplant wurde und wann er den Dolchen der Quraiš zum Opfer fallen sollte. Er beschloß zu fliehen.

Nicht nur Prophet, sondern auch ein Mensch war Mohammed und hatte Geschäfte in der Stadt wie alle andern. Er hatte auch Schulden und wollte nicht fliehen, bevor alles bezahlt war, damit niemand sagen konnte, der Prophet sei mit fremdem Geld geflohen.

Zwei Gläubige weilten mit dem Propheten in Mekka: Abū Bakr und ʿAlī. ʿAlī war der Jüngere, und ihn beschloß der Prophet zurückzulassen. In der Nacht, als die Jünglinge der Quraiš das Haus umstellen sollten, floh Mohammed über die Mauer und rettete sich in das Haus Abū Bakrs. Auf der Terrasse des Hauses des Propheten blieb ʿAlī, in den Mantel des Propheten gehüllt, mit dem grünen Turban auf dem Kopf. Die Quraiš kamen, umzingelten das Haus, sahen den grünen Turban und sagten sich: »Jetzt kann uns der Prophet nicht mehr entrinnen.« Bis zum Morgengrauen warteten sie auf der Straße, drangen dann in das Haus ein, erblickten den friedlich schlafenden ʿAlī, weckten ihn und fragten: »Wo ist Mohammed?« – »Ja, wenn ich das wüßte«, antwortete verschlafen ʿAlī.

Sofort begann eine wilde Jagd nach dem Propheten. Mohammed mußte eingeholt werden. Die Quraiš nahmen ihre besten Pferde und ritten mit gezücktem Säbel und scharfen Lanzen in die Wüste, um den Gesandten Gottes zu töten.

Der Gesandte Gottes durchritt währenddessen die endlose, gelbe Wüste. Nur sein Freund Abū Bakr begleitete ihn. »Die Quraiš werden uns verfolgen«, sagte Abū Bakr, »sie werden uns mit scharfen Säbeln erschlagen, sie werden unsere Körper zerstückeln. Wilde Tiere werden über unserm Grabe heulen. Mächtig und zornig ist dieses Volk.«

Mohammed schwieg. Er blickte in die Unendlichkeit, in die große Welt, die vor ihm lag, und dachte an die ferne Stadt Mekka und das Schwert, das er von nun ab den Völkern bringen würde.

Es war im Jahre 622, als Herakleios den Khosrau II. schlug, als im Osten und Westen die Völker unter dem Bann des Christentums standen, als das Kreuz über die Welt siegte und niemand ahnte, daß in diesem Jahr auf der einsamen Wüstenstrecke zwischen Mekka und Yaṯrib zwei ängstliche, arabische Reiter das Schicksal der Welt mit sich führten. Mit jenem Wüstenritt, mit der Hiǧra, beginnt die Zeitrechnung des Islam, beginnt die staatliche Macht des neuen Glaubens. Im Jahre 622 wurde der Prophet zum Staatsmann, und dieser Staatsmann führte das Schwert.

Durch die Wüste ritt Mohammed. Hinter ihm lag die Stadt Mekka, in der der Glaube entstanden war. In der Wüste aber ritten mit gezückten Säbeln die Quraiš, und da ihre Pferde schnell waren, erblickten sie bald in der Ferne die Flüchtlinge. Auch die Flüchtigen sahen ihre Verfolger, und Abū Bakr sprach: »O Mohammed, die Wüste ist flach, wir sind nur zwei, und hinter uns reiten die Quraiš.«

Da erwiderte Mohammed: »Du irrst, Abū Bakr, wir sind nicht zwei, sondern drei, du, ich und Gott.« Und immer näher kamen die Quraiš, immer ängstlicher wurde Abū Bakr. Da entdeckten die Flüchtlinge eine kleine Höhle, eilten zu ihr und verbargen sich in ihrer Tiefe. Und da geschah ein Wunder: Eine große Spinne kroch zum Eingang der Höhle und flocht rasch vor dem Eingang ein Netz. Bald kamen die Verfolger. »Die Wüste ist flach«, sagten sie, »die beiden können nicht verschwunden sein. Sie sind in der Höhle.« Der Klügste unter den Quraiš betrachtete aber den Eingang und sagte stolz: »Sie können nicht in der Höhle sein, seht ihr denn nicht, daß vor dem Eingang ein altes Spinnennetz hängt. Das Netz wäre zerrissen, wenn die beiden in der Höhle wären.« Da staunten die Quraiš über die Weisheit ihres Führers und ritten weiter.

Still wurde es um die Höhle. Die beiden Flüchtlinge knieten nieder zum Dankgebet. Bevor sie jedoch das Gebet beenden konnten, hörten sie Schritte, die vor der Höhle verstummten. Drei Quraiš waren hinter den andern zurückgeblieben und hielten nun vor der Höhle. Sie sahen das Netz wohl, doch durchbrachen sie es und traten ein. Das Entsetzen verschlug Abū Bakr den Atem. Und wieder geschah ein Wunder, die drei Männer durchsuchten die Höhle nicht. Sie verrichteten nur ihre Notdurft und zogen von dannen. So schützte Gott seinen Gesandten Mohammed.

Tage und Nächte verbrachte der Prophet in der Wüstenhöhle, und mit ihm war Abū Bakr. Als aber die Zeit gekommen war, verließen sie die Höhle und setzten die Flucht fort. Und wieder ritten sie durch die Wüste. Unbarmherzig brannte die Sonne, heiß war der Sand, und der Durst quälte den Propheten. Da trafen sie auf den Juden Nairuz, der seinen Kindern Wasser bringen wollte. Er sah den Propheten und erkannte, daß ihn der Durst peinigte. »Ich bin der Jude Nairuz«, sprach er, »meine Kinder dürsten, doch nimm das Wasser hier, denn wir glauben beide an einen Gott.« So stillte der Jude Nairuz den Durst des Propheten. Zur Erinnerung an dieses Ereignis hieß das Fest der Errettung des Propheten Nairuz Bairam.

Der Gesandte Gottes setzte seinen Ritt durch die Wüste fort, bis sich in der Ferne das Dorf Qubāʾ zeigte, die Vorstadt Yaṯribs. Hier war die Flucht beendet.

Der Islam als Glaube lag fest und sollte jetzt den Staat bilden. Der Geist ward zur Macht, das Wort zur Tat. Der Glaube sollte die Welt errichten, denn das Nichts, aus dem der Geist stammte, war überwunden.

Nach Yaṯrib, von nun ab Madina an-Nabī, die Stadt des Propheten, genannt, ritt der Prophet mit dem Schwert in der Hand. Das Schwert und der Koran sollten von nun an in der Welt herrschen.


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