Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was können wir denn unser Eigen nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen.
Goethe
Mohammed wollte nicht so über Arabien regieren wie unzählige Häuptlinge vor ihm. Beute war nicht sein Ziel, sondern nur ein Weg. Jetzt stand er am Ende dieses Weges. Ein Staat erwartete seine Befehle, die große Welt außerhalb Arabiens harrte ihres neuen Herrn. Diese Herrschaft mußte organisiert werden. Da entsann sich Mohammed wieder der Völker der Schrift, die in sein Reich eingehen sollten. Bisher war Mohammed nur mit den Juden von Medina zusammengetroffen. Die Lösung, die er damals gefunden hatte, war brutal gewesen. Sie wurde von den Erfordernissen der Stunde diktiert, es war keine endgültige Lösung gewesen. Deshalb beschloß Mohammed Normen zu schaffen, die das Leben der Juden und Christen in seinem Reiche regeln sollten.
Die Christen Arabiens waren nicht zahlreich. Immerhin erhob sich am Berge Sinai ein stattliches Kloster der heiligen Katharina. Auch wanderten durch die Steppen christliche Beduinen, die dem Propheten bald freundschaftlich, bald feindlich gesinnt waren. Für diese christlichen Nomaden und Mönche erließ der Prophet sein Gesetz, das von nun ab ihre Beziehungen zu den Muslims regeln sollte. Die Grundideen dieses Gesetzes waren die folgenden: Kein Christ durfte in der Ausübung seiner Religion gestört werden. Die Kirchen und Klöster der Christen sollten den Mohammedanern heilig sein. Die Eheschließung einer Christin mit einem Muslim verbietet der Frau nicht die Beibehaltung ihres Glaubens. Bei Kriegen zwischen Muslims und feindlichen Christen liegt kein Grund vor, die besiegten Christen zu mißhandeln. Im Gegenteil: wer einen Christen seines Glaubens wegen mißhandelt, ist ein Rebell gegen das Wort des Propheten. Dieser Befehl ist wohl der erste Fall in der Weltgeschichte, in dem eine egozentrische, fanatische Religion die Rechte eines feindlichen Glaubens anerkennt und respektiert.
Gleichzeitig vollbrachte aber Mohammed etwas noch viel Bedeutenderes. Dieser einfache Araber, der ohne Zögern Hunderte von Feinden in den Tod geschickt, der Kriege der Beute wegen geführt hatte, schuf jetzt als erster in der Weltgeschichte Gesetze humaner Kriegsführung. Was waren bis dahin die Kriege des Altertums? Wie wurden die Kriege der Araber geführt? Man überfiel den Feind, erschlug alle Männer seines Volkes, plünderte sein Eigentum, vergewaltigte die Frauen und schickte die Kinder in die Sklaverei. Andere Kriegsformen kannte das Altertum nicht. Auch die Bibel kennt den Krieg nur als die endgültige Ausrottung des Feindes. Samuel der Prophet verkündet dem Volke der Juden: ›Erschlaget die Amalekiter, vernichtet alles, was sie haben, schont sie nicht, tötet ihre Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge. Vernichtet ihre Herden von Ochsen, Schafen, Kamelen und Eseln.‹ (1 Sam 15,3.) Auch Ezechiel sagt: ›Tötet alle: Alte und Junge, Mädchen, Kinder und Frauen.‹ (Ez 9,6.) Diese Kampfart entsprach der Moral des Altertums, man ging schonungslos vor und kannte keine Gnade.
Auch die Kriege der Perser und Byzantiner, die sich zu Mohammeds Zeiten abspielten, hatten den gleichen Charakter. Wo das feindliche Heer marschierte, blieb eine Wüste zurück. Auch Mohammed wußte, was Vernichtungskriege sind, auch er verstand es, alle Männer eines Stammes zu töten und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Um so erstaunlicher ist sein plötzlicher Umschwung, und zwar in einem Augenblick, in dem er große Feldzüge und Eroberungen plante. Er stürzte alle Moralbegriffe des Altertums und verkündete den neuen humanen Krieg. Das Ziel Mohammeds war nicht die Eroberung, sondern die Organisierung der Welt.
Zum erstenmal in der blutigen Geschichte der orientalischen Kriege entstand ein Herrscher, der den absoluten Wert des menschlichen Lebens anerkannte und öffentlich proklamierte: »Übe keine List und keinen Betrug im Feld. Töte keine Kinder«, verkündete der Prophet. Mohammed befahl seinen Generälen: »Wenn ihr das feindliche Heer bekriegt, so unterdrücket nicht die friedlichen Einwohner des feindlichen Landes. Schonet die Schwäche des weiblichen Geschlechts und seid barmherzig zu den Säuglingen und Kranken. Zerstöret nicht die Häuser der Bevölkerung, vernichtet nicht ihre Felder, Gärten und Palmen.« Wichtiger als der Erlaß dieser Befehle ist aber die Tatsache, daß Mohammed seiner Umgebung die Einhaltung dieser Gebote tatsächlich aufgezwungen hat. Der humane Krieg wurde ein Bestandteil des muslimischen Denkens.
Als Abū Bakr das Heer der Frommen gegen Byzanz sandte, sagte er dem Befehlshaber Yazīd, dem Sohne Abū Sufyāns, dem künftigen Kalifen: »Unterdrücke das Volk nicht und errege es nicht unnötig. Tue nur das, was gut und gerecht ist, dann wird der Erfolg dich belohnen. Wenn du einem Feind begegnest, so bekämpfe ihn mutig, wenn du aber die Schlacht gewinnst, so töte keine Frauen und Kinder, so schone die Felder und Bauten, denn Menschen haben sie errichtet. Wenn du einen Vertrag schließest, so erfülle ihn. Im Lande der Christen wirst du auf deinem Wege frommen Leuten begegnen, die in den Kirchen und Klöstern Gott dienen. Behellige sie nicht und zerstöre nicht ihre Kirchen und Klöster.«
Es gibt in der Weltgeschichte vor und nach Mohammed nur wenige Generäle, die von ihren Herrschern ähnliche Befehle erhalten haben. Allerdings waren die großen Feldzüge gegen fremde Länder zunächst einmal vage Pläne.
Die Christen in Arabien waren nicht zahlreich. Dagegen lebten unzählige Juden in den arabischen Oasen. Diesen Juden, die wenig Grund hatten, Mohammed wohlgesinnt zu sein, beschloß der Prophet eine Probe seiner Regierungskunst zu zeigen. Nördlich von Medina, in einer dattelreichen Gegend, liegt die Siedlung Ḫaibar. Mit Ḫaibar hatte Mohammed eine alte Rechnung zu begleichen. In Ḫaibar hatte man die große Koalition gegen ihn organisiert. Nach Ḫaibar strömten alle Juden und Araber, die sich vor den Verfolgungen des Propheten sichern wollten. Denn Ḫaibar war eine mächtige Siedlung, deren Bevölkerung reich und stolz war. Auch besaß die Stadt einen guten Schutz in den sie umgebenden Bergen.
Dieses Ḫaibar beschloß Mohammed zu bezwingen. Sofort nach dem Friedensschluß von Ḥudaibiya rüstete Mohammed zum Feldzug. Er war mittlerweile ein erfahrener Krieger geworden und beherrschte die Kriegskünste. Bevor er den Feldzug antrat, erließ er einen merkwürdigen Befehl: An der großen Beute, die in diesem Feldzug zu erwarten war, sollten nur diejenigen Krieger beteiligt sein, die Mohammed während des Pilgerzuges nach Ḥudaibiya Gefolgschaft geleistet hatten. Die übrigen sollten sich mit dem begnügen, was sie unmittelbar nach der Schlacht erbeuten würden. Das widersprach der üblichen Art. Doch war Mohammed jetzt mächtig genug, um selbst den wildesten Beduinen seine Befehle aufzuzwingen.
Der Feldzug war schwer. Die Juden – des Schicksals ihrer medinensischen Stammesbrüder eingedenk – verteidigten sich heldenhaft. Ihre einstigen Verbündeten, die wilden Wüstenstämme, verließen sie aber jetzt und schlugen sich auf die Seite des Propheten, der nun wieder einer der ihrigen war. Nach harter Belagerung fiel Ḫaibar. Wieder konnte Mohammed sein Urteil diktieren. Dieses Urteil stand den vorigen an Härte nicht nach. Die Juden waren zwar keine Verräter wie damals die Banū Quraiẓa, deshalb schonte der Prophet ihr Leben. Ihr Eigentum aber und ihre Felder verfielen der Armee. Mohammed verteilte die Beute unter die Pilger von Ḥudaibiya. Bis dahin war an dem ganzen Vorfall nichts Außergewöhnliches. Es war eben ein Feldzug wie viele andere. Mit der Beute wurden diesmal nur die allerfrömmsten Anhänger belohnt.
Man erzählt aber, daß nach der Verteilung der Felder, Palmen und Haine Mohammed die neuen, frommen Eigentümer berief und ein langes, weises Gespräch mit ihnen führte. Die Folgen dieses Gespräches waren epochemachend. Die Juden, die bereits im Begriff waren, sich eine neue Heimat zu suchen, wurden von den neuen Eigentümern zurückgeholt. Man gab ihnen das Land, auf dem sie geboren waren, zurück und verpflichtete sie, den neuen Besitzern die Hälfte ihres gesamten Einkommens abzugeben. Der Prophet bestätigte die Abmachung und ernannte einen weisen Mann namens Ibn Ranāḥ zum Taxator der Ernte und zum Aufseher über die Juden. So hatten die wieder eingesetzten Eigentümer also eine Art Gouverneur und Richter in ihrer Provinz.
Die Folgen dieser Tat waren ungeheuer. Bei Ḫaibar setzte Mohammed den großen Raubzügen ein Ende und zimmerte das Fundament neuer sozialer Beziehungen. Mit dieser Tat trennte er die Menschheit in zwei große Teile: in die muslimische Herrscherschicht, die Kriege führen und den Glauben verbreiten durfte, und in die seßhaften Ungläubigen, die nicht ins Feld zu ziehen brauchten, die in Frieden auf ihren Feldern belassen wurden, den Schutz der Muslims genossen und dafür den neuen Herrschern Pacht und Steuern zu entrichten hatten. Die Annahme, daß hiermit eine neue Adelsschicht und Knechtesschicht entstanden sei, trifft nicht zu. Die Ungläubigen durften sich jederzeit der neuen herrschenden Klasse durch den Übertritt zum Islam anschließen. Es handelte sich hier um ein Gesetz, das die Besiegten vor Tod, Untergang und Plünderung errettete. Dies Gesetz blieb bis zum heutigen Tag der Grundstein aller Gesetze, denen die Ungläubigen unterworfen wurden.
Wie bei den meisten Eroberungen, so mangelte es auch nach dem Siege bei Ḫaibar nicht an Versuchen der Unterworfenen, den neuen Herrscher zu beseitigen. Eine Jüdin namens Zainab erschien kurz nach dem Siege im Lager des Propheten und wurde als Köchin angestellt. Zainab röstete ein Lamm und vergiftete es. Dann setzte sie dem Propheten und seinen Freunden die Speise vor. Langsam kostete Mohammed einen Bissen und spie ihn sofort aus, denn er spürte das Gift sogleich. Sein Freund Būšīr ibn Barāʾ der äußerst hungrig war, hatte aber schon vorher gegessen und starb eines qualvollen Todes. Die Jüdin wurde daraufhin gefesselt und dem Propheten vorgeführt. »O Gesandter Gottes«, sagte sie, »ich wollte mich nur davon überzeugen, ob du wirklich ein Prophet bist. Wärest du kein Prophet, so hättest du von dem giftigen Fleisch gegessen und wärest jetzt tot. Jetzt weiß ich aber, daß du der Prophet Gottes bist, und glaube an dich.« Obwohl diese allzu durchsichtige Verteidigung nur lächerlich war, obwohl der Prophet in früheren Zeiten viel geringere Vergehen rücksichtslos bestraft hatte, begnadigte er die Jüdin Zainab. Denn die Zeit der Kriege und des Blutvergießens war für ihn vorbei. Friede sollte in Arabien herrschen, und mit Milde wollte der Prophet sein Land regieren.
Zur gleichen Zeit verstand es der Prophet, eine noch größere Sünde zu vergeben. Kurz nach dem Frieden von Ḥudaibiya zog die Tochter des Propheten auf dem Weg von Mekka nach Medina durch die Wüste. Der Quraiš Ḥabbār, ein Heide, überfiel sie in sinnloser Wut und tötete sie mit seiner Lanze. Das Blut des Propheten verströmte im Sande der Wüste. Dieses Blut schrie nach Rache. Alle Wüstengesetze erlaubten dem Propheten, die Tat Ḥabbārs schonungslos zu rächen. Einige Zeit später fiel der Mörder in Mohammeds Hände. Ḥabbār stürzte sich zu Mohammeds Füßen, erklärte seine Bereitwilligkeit, den Islam anzunehmen, und bat um sein Leben. Sehr lange schwieg der Prophet und starrte unbeweglich auf den Mörder seiner Tochter, dann sagte er: »Ich verzeihe dir. Erhebe dich und erscheine nie wieder vor meinen Augen.« Später fragte Abū Bakr seinen Freund: »Warum schwiegest du so lange, o Prophet, als der Verbrecher zu deinen Füßen lag?« Da erhob der Prophet die Augen, blickte vorwurfsvoll auf Abū Bakr und auf alle, die um ihn standen, und sagte: »Ich erwartete, daß einer von euch sich auf ihn stürzen würde, um ihn zu erschlagen.« – »Warum hast du uns denn keinen Wink gegeben?« fragten die Frommen. »Ein Prophet richtet nicht durch einen Wink«, antwortete Mohammed.
Das Blut des Arabers hatte in ihm gesprochen und Rache gefordert. Als aber niemand aus seiner Umgebung das Schwert zückte, vergab der Staatsmann Mohammed ein Verbrechen, das sich nicht gegen den Staat gerichtet hatte. Der Mensch Mohammed hatte gelernt, seine Gefühle zu bändigen. Milde und nicht Blut sollte die Welt des Islam beherrschen.