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Die erste Flucht

Komme ich um, so komme ich um.

Luther

Als Beispiel des arabischen Stammespatriotismus, des Nationalbewußtseins und des Hochmutes wird folgender Ausspruch eines Arabers namens Rabīʿ aus dem Geschlecht der Ǧamiǧī erzählt: »Die besten unter den Menschen sind wir, die Araber«, sagte Rabiʿ »Die besten unter den Arabern sind die Stämme Muḍār. Die besten unter den Stämmen Muḍār sind die Stämme der Ḥais. Die beste unter den Ḥais ist die Sippe Ǧazūr. Die beste unter den Ǧazūr ist die Familie Ǧamiǧī. Ich aber bin der beste unter den Ǧamiǧī. Folglich bin ich, Rabīʿ, der beste unter den Menschen.«

Die meisten Araber dachten und denken noch heute wie der alte Rabīʿ nur daß an die Stelle der Ǧamiǧī und Muḍār ihre eigenen Sippen und Familien treten. Die Autorität einer anderen Familie anzuerkennen ist für einen Araber unmöglich. Einem Mann aus einem fremden Volke will er unter keinen Umständen gehorchen. Argwöhnt er auch nur den leisesten Versuch des Antastens seiner Freiheit, lehnt er sich automatisch dagegen auf. Auch die Mekkaner waren in dieser Hinsicht Vollblutaraber. Die Absichten Mohammeds lösten bei ihnen automatisch Widerspruch aus.

Abū al-Ḥakam ʿAmr ibn Hišām aus dem Hause Maḫzūm Muġīrī war der Konservativste unter den Mekkanern. Zusammen mit Abū Sufyan aus der Sippe Umaiya und Abū Lahab, der mit den Umaiya verschwägert war, bildete er die Front der altarabischen Gesinnung: »Wir, die Maḫzūm Muġīrī und Umaiya«, sagte er, »standen schon oft in Konkurrenz mit der Sippe Hāšim. Doch sind unsere Familien wie edle arabische Rassepferde, und wir gewannen immer das Rennen. Können wir denn zulassen, daß die Hāšim jetzt einen Propheten stellen, der mit dem Himmel in Verbindung steht?« Diese Worte fanden bei den vornehmen Familien großen Widerhall. Doch waren sie hauptsächlich für die breite Masse bestimmt. Im engen Kreise der Quraiš führte Abū al-Ḥakam ganz andere Gedanken aus.

Abū al-Ḥakam war klug, konservativ und eigensinnig. Seine Augen blickten in die Vergangenheit, und alles Neue war ihm verhaßt. Er liebte die alten Götter, nicht weil sie Götter waren, sondern weil seine Väter diese Götter angebetet hatten. Er liebte die Stadt Mekka und das edle Geschlecht der Quraiš. Er liebte die Vornehmheit um der Vornehmheit willen und haßte den Pöbel, der keine Traditionen hat. Er war der Klügste unter den Mekkanern und der erbittertste Gegner des Propheten. Mohammed nannte ihn ›Abū Ǧahl‹, ›Vater der Torheit‹, die Menge der Muslims aber, die in solchen Fällen weniger zu gewählten Ausdrücken neigte, nannte ihn aus verschiedenen Gründen: »Der Mann mit dem parfümierten Hintern.«

Abū Ǧahl war klein, rothaarig, kräftig, brutal, despotisch, raffiniert und sehr weitsichtig. Er erkannte die Bedeutung Mohammeds, noch bevor der Prophet selbst sie erkannt hatte. Wenn an Stelle der dreihundertsechzig Götter in der Kaʿba, so dachte sich Abū Ǧahl, ein einziger, allumfassender und allmächtiger Gott tritt, so ist es klar, daß der Mann, der mit diesem Gott in direkter Verbindung steht und von ihm Befehle erhält, der mächtigste Mensch auf Erden sein will und eine Macht beansprucht, die ihm kein Quraiš jemals gewähren will. Wenn außerdem alle dreihundertsechzig Götter in den Ruhestand versetzt werden, wird kein Beduine mehr nach Mekka ziehen, andere Städte dagegen werden groß und reich werden, während Mekka verfällt. Was predigt dieser Prophet außerdem? Daß alle Menschen gleich sind, daß Gott allen Gerechtigkeit erweist und daß man im Jenseits für die bösen Taten bestraft wird. Das war aber doch nichts anderes als die Feststellung, daß die Quraiš zu Unrecht über Macht, Reichtum und Menschen geboten, daß sie dem letzten Sklaven gleich waren und daß sie ihre Vormachtstellung aufgeben mußten. Kein Wunder, daß diesem Propheten, so oft er predigte, immer mehr Sklaven, Bettler und Dienende zuliefen. Die Sache Mohammeds war demnach eine Bewegung des Pöbels gegen die altansässigen Herrscher von Mekka.

Als Abū Ǧahl das erkannt hatte, beschloß er, den Propheten bis aufs Blut, bis zur Ausrottung des letzten Restes seiner Irrlehre zu bekämpfen. Diesem Kampf, den er für das alte Arabien, für das edle Geschlecht der Quraiš, für die dreihundertsechzig Götter und für die glänzende Stadt Mekka führte, beschloß er, sein Leben zu widmen.

Einflußreich, mächtig und groß war die Partei Abū Ǧahls. Die Edelsten der Quraiš gehörten ihr an. Der Kampf zwischen dem revolutionären Propheten und den reichen Kaufherren nahm bald konkrete Formen an. Man beschloß, da der Prophet selbst unter dem Schutze der Hāšims stand, seine Anhänger zu verfolgen. Das fiel nicht schwer, waren doch die meisten der Anhänger des Propheten arme Sklaven, Bettler und Fremde, die bei der neuen Religion, bei dem reichen und vornehmen Propheten Schutz und Zuflucht suchten. Eigene Sklaven, Mitglieder eigener Familien durfte man in Mekka straflos verfolgen. Von diesem Recht machte man ausgiebigst Gebrauch. Die Keller der Quraiš-Burgen füllten sich bald mit Sträflingen, die dem Propheten treu blieben. Für die Trotzköpfe aber, bei denen häusliche Strafen wirkungslos blieben, waren regelrechte Foltern vorgesehen.

Ein glühender Anhänger des Propheten war zum Beispiel der Neger Bilāl, der erste Gebetsausrufer des Islam. Sein Besitzer, ein Umaiya, brachte ihn gefesselt und nackt in die Wüste, warf ihn auf den Sand mit dem Gesicht der glühenden Sonne zugekehrt und sagte: »Du wirst hier liegen, bis du stirbst oder den Propheten verläßt.« Der Neger blieb seinem Meister treu. Nach einigen Tagen entsetzlicher Qual wurde er halb tot von seinem Besitzer an den frommen Abū Bakr verkauft. Die Schutzlosen waren in diesen Jahren den Quraiš bedingungslos ausgeliefert. Mohammed opferte den größten Teil seines Vermögens als Lösegeld für seine Anhänger, die sich in der Gewalt der Quraiš befanden. Die Verfolgungen nahmen immerfort zu. Die Hāšims schützten nur den Propheten. Das Schicksal der übrigen Gläubigen war ihnen gleichgültig. Kein Wunder, daß in diesen schweren Jahren des Kampfes mancher Gläubige den Propheten verließ. Zu schwer war der Leidensweg des Islam. Erstaunlich ist vielmehr, daß gerade in diesen Jahren der Prophet neben zahlreichen Enttäuschungen, die er erlebte, auch seine glühendsten Anhänger fand und daß in der materialistischen Stadt Mekka gerade diese Verfolgung eine Reaktion hervorrief, die dem Propheten manchen Gläubigen zuführte. Der Prophet war schwach, und einem Heerlager glichen die Häuser seiner Feinde. Blut bespritzte die engen Gassen Mekkas, und Trauer beschlich das Herz des Propheten. Oft saß er stundenlang auf dem flachen Dach seines Hauses, blickte traurig in die Wüste, auf die glänzende Stadt Mekka und zu dem ewig blauen Himmel, der keine Hilfe sandte. Der Gott des Islam ist der Gott der Völker der Schrift, dachte Mohammed, und die Völker der Schrift müssen dem Gesandten ihres Gottes Hilfe leisten. Und da Mohammed schwach war und seine Anhänger nicht schützen konnte, beschloß er, daß die Verfolgten, die nicht wußten, wie sie sich verteidigen konnten, auswandern sollten zum Hofe des christlichen Herrschers, des weisen Negus Negesti, des Kaisers von Abessinien. Dieser sollte ihnen den Schutz und Frieden gewähren, der ihnen in der Heimat versagt war.

Große, kluge Elefanten durchwandern das Land des Negus, weise Schlangen liegen dort zwischen den Steinen und blicken mit grünen Augen auf die sündige Menschheit. Schwarze Priester beten dort den christlichen Gott von Byzanz an. Giraffen, Zwerge und Geister bewohnen das Land, und über dies alles, über die Priester, Schlangen, Sümpfe, Zwerge und Elefanten herrscht der König der Könige, Negus Negesti, der vom weisen Salomo und der schönen Bilqīs-Mākedā, der Königin von Saba, abstammt.

Der Negus war klug, gerecht und mächtig. Er fürchtete sich nicht vor dem Volke der Quraiš. Als die Flüchtlinge aus Mekka in seine Königsstadt Axum kamen, empfing er sie freundlich und versprach ihnen Schutz. Denn der Negus liebte die Sippen der Quraiš nicht, sie waren reich und stolz, auch heidnisch waren sie. Er wußte, wie seinerzeit vor vielen Jahren Abraha, der Abessinier, mit Schande aus Mekka vertrieben worden war. Sein Herz dürstete danach, den Gott der Christen nach Mekka zu tragen und dafür die Reichtümer der Wüstenstadt an sich zu reißen. Deshalb empfing er die Flüchtlinge aus Mekka freundlich.

Über Sümpfe, Wüsten und Meere verbreitete sich die Kunde vom Empfang beim Negus. Bald erreichte sie Mekka, und die Mienen der Quraiš verfinsterten sich. Mohammed war eine Gefahr, eine viel größere Gefahr aber war der Negus. Wenn sich der Feind im Haus mit dem Feinde draußen verband, war es aus mit dem Glück der Stadt Mekka. Da rüsteten die Quraiš eine große Karawane mit Gold, Silber und kostbaren Stoffen. Als Führer entsandten sie den listigen Dichter ʿAmr, der den Propheten verspotten und mit Geschenk, List und Lüge den Negus überreden sollte, die Geflohenen auszuliefern.

Im großen Thronsaal zu Axum stapelten sich alsbald vor den Augen des Negus die herrlichsten und kostbarsten Gaben auf. ʿAmr trat hervor und sagte: »Herrscher, du beherbergst in deinen Mauern Leute, die deinen und unsern Glauben verspotten. Liefere sie unserer Gerechtigkeit aus.« Der Negus aber dachte an seinen Ahnherrn Salomo, an dessen Weisheit und Gerechtigkeit, und sprach: »Nicht eher werde ich die Fremden ausliefern, als bis ich mich selbst von ihrem Unglauben überzeugt habe.« Er rief den Vertreter der Gläubigen, den ʿUṭmān ibn ʿAffān, und befahl ihm, über seinen Glauben zu sprechen. »Wir waren unwissend«, begann ʿUṭmān seine Rede, »wir wußten nichts von Gott und begingen Schandtaten. Der Starke fraß bei uns den Schwachen, bis Gott uns einen Propheten sandte, der uns aufforderte, Gott allein anzubeten und das Böse zu verabscheuen. Er hielt uns an zum Gebet, zum Fasten, zum Almosen und zu frommen Taten, und er befreite uns von Lüge und Unzucht.« – »Was denkt ihr aber«, fragte der Negus, »über ʿĪsā (Jesus) und die Jungfrau Miryam?« – »ʿĪsā ist im Geiste und in Wahrheit der Gesandte Gottes, von der Jungfrau Miryam geboren.«

siehe Bildunterschrift

4. Karte des Tales Minā (auch Munā), 1814.
Quelle: en.wikipedia.org

Da erhob sich der Negus, nahm vom Boden ein kleines Stück Holz, blickte mit weisen Augen auf die Gesandten der Quraiš und sprach: »Nicht um dieses Stückchen Holz unterscheidet sich der Glaube dieser Leute vom Glauben unserer Leute, und nicht um einen Berg von Gold werde ich die Gläubigen ausliefern.« Und ʿAmr ibn al-ʿĀṣ, der künftige Eroberer Ägyptens, mußte mit großer Schande das Land verlassen, denn es ist eine Schande für einen Gesandten, wenn man nicht einmal seine Geschenke entgegennehmen will.

Ganz finster wurden die Gesichter der Quraiš, als sie von der Antwort des Negus erfuhren. Bis jetzt hatten sie nur geglaubt, daß Mohammed für sie einmal eine Gefahr werden könnte. Jetzt wußten sie aber: Mohammed war bereits eine Gefahr geworden, hinter der eine noch größere, der Negus, stand. Der Negus war mächtig. Er konnte das Land überfallen, um den Propheten zu schützen, er konnte Mekkas Reichtümer an sich reißen, und das alles wegen des Wahnsinns, den Mohammed predigte. Die edelsten Familien der Stadt schlössen sich jetzt zusammen, um die Kaʿba zu verteidigen. An ihre Spitze trat der Edelste unter den Mekkanern, Abū Sufyān, der Führer des Hauses Umaiya. Niemand ahnte damals, daß gerade die Umaiyas den größten Nutzen aus der Tat Mohammeds ziehen, daß sie die erste Dynastie der Kalifen des Islam stellen sollten.

Jetzt, nach der Antwort des Negus, war Mohammed ein gefährlicher, sozialer Reformator, ja ein Revolutionär, der unter Umständen mit Hilfe einer auswärtigen, bewaffneten Macht die bestehende soziale und politische Ordnung stürzen und die Sklaven mit den Herren gleichstellen konnte. Kein Wunder, daß seine Ideen bei den Quraiš jetzt doppelte Angst und Schrecken hervorriefen.

Aus einer abstrakten Idee war so eine sehr konkrete Gefahr entstanden. Aus dem Nichts zeichneten sich die verschwommenen Konturen einer neuen Welt.

Der Prophet der neuen Welt zog aber nicht in das Land des Negus. Er blieb auf seinem Posten in der Stadt der Sendung.

Dies geschah im fünften Jahre der Sendung, und die arabischen Chronisten nennen diese Zeit die erste Hiǧra, die erste Flucht der Gläubigen aus Mekka.


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