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Iqraʾ

Steh auf, Prophet – und sieh und höre – verkünde mich von Ort zu Ort. Und wandernd über Land und Meere, die Herzen brenne mit dem Wort.

Puschkin

Was sah Mohammed in der Wüste? Die Wüste war nicht menschenleer. Mohammed war nicht der einzige, der zwischen den kahlen Felsen, in dem ewigen, grauen Lande bei Mekka, die Erlösung vom irdischen Jammer suchte. Gleich ihm durchwanderten zahlreiche Ḥanīfen die Gegend. Sie saßen, in weite Gewänder gehüllt, im Schatten der Felsen. Sie grübelten über die ewige Wahrheit, lasen alte, fremde Bücher und beteten zum unbekannten Gott. Mohammed traf sie, sprach mit ihnen, hörte ihre Zweifel und las mit ihnen die alte Schrift. Die Wahrheit aber fand er nicht, denn den Ḥanīfen selbst blieb sie gleich ihm verschlossen.

»Wüßte ich, o Herr der Welt, wie man dich anbeten soll, wahrlich mit Freude wäre ich zu jeder Anbetung bereit«, sagte Zaid ibn ʿAmr, der Verzweifeltste unter den Ḥanīfen. ʿUbaidallāh, ʿUmar, Umaiya und wie sie alle hießen, konnten Mohammed nur ihre Verzweiflung eröffnen. In Qual und Sünde lag vor ihnen die Welt – von zahlreichen Göttern beherrscht. In Elend und Schmutz, in tödlichem Krampf, ohne Glauben und ohne Wahrheit wanderten die Menschen den kurzen Pfad von der Geburt zum Tod. Wenn das Herz des Ḥanīfen verzweifelte, so suchte er Frieden in der alten Lust des Menschen, im Lied. Doch waren es irdische Alltagslieder, denn die Wahrheit kannten die Ḥanīfen nicht. ›Sie blieben an der Erde kleben‹, sagte von ihnen der Koran.

Der bedeutendste unter den Ḥanīfen war der blinde Greis Waraqa ibn Naufal, ein Vetter der Ḫadīǧa, der von seiner Jugend an Gott suchte und ihn bis zum Tode nicht finden konnte. Alle Glaubensbekenntnisse hatte Waraqa abgelegt, alle Schriften gelesen, alle Götter angebetet. Die Wahrheit aber hatte er nicht gefunden. Er war zuerst Heide, dann Jude, dann Christ; er übersetzte als erster Stücke der Heiligen Schrift in die Sprache der Araber. Das einzige, was er aber an seinem Lebensende erkannte, war die feste Zuversicht, daß einst ein Mensch bestimmt die Wahrheit ergründen würde. Wer dieser Mensch sein würde und wann er kommen würde, das freilich wußte Waraqa nicht. Durch ihn lernte aber Mohammed die Schrift der Juden und der Christen kennen, den Glauben an die Propheten und die Verzweiflung an den Rätseln der Menschheit.

Immer finsterer wurde es im Herzen Mohammeds. Grau lag vor ihm die Welt, stahlblau der Himmel. Es gab keine Wahrheit zwischen den beiden. Ruhelos irrte Mohammed durch das Land, bergauf, bergab. Seine Kleider waren zerrissen. Nichts erinnerte mehr an den eleganten Kaufmann von Mekka. Seine Haare waren ungepflegt, sein Gang stolprig, er blickte mit großen, irren Augen um sich und berührte tagelang keine Speisen. Wer ihn sah, mußte denken: es steht schlimm um den Mann der Ḫadīǧa. Niemand wußte aber, was ihn befallen hatte, auch er selbst nicht. Er war nur ein simpler, ungelehrter Kaufmann, die Kraft des Wortes war ihm nicht gegeben. Er konnte nicht sagen, welche Qual ihn aufpeitschend durch die Wüste trieb und welche Wunder sein irrender Blick suchte. Er verbarg sich Tag und Nacht in der dunklen Höhle des Berges Hirāʾ.

Um ihn erhob sich die unwahrscheinliche Landschaft des Ḥiǧāz. Zackige Felsen glühten in ewiger Sonne, beim Sonnenuntergang schimmerten sie in allen Farben des Regenbogens. Die trockene, klare Luft öffnete weite, unendliche Horizonte. Von den Gipfeln eines Berges sah Mohammed den großen Sand der Welt, sah die Schafhirten ihr Vieh treiben, sah, wie auf majestätischen Kamelen die Sippen in die Ferne zogen und wie in jähem Wechsel, fast ohne Zwielicht, die Nacht hereinbrach. Monatelang sprach Mohammed nicht. Kein Mensch, kein lebendes Wesen kreuzte seinen Weg. Er sah nur Steine, Felsen, Sand und die ewigen, durch die trockene Wüstenluft ganz nah gerückten Sterne.

Diese Sterne, diese Felsen, Steine und Schluchten begannen langsam zu eigenem Leben zu erwachen. In den stillen Nächten, in den endlosen glühenden Tagen gewannen die Steine eine Sprache. Mohammed floh vor ihnen; doch sie folgten ihm. Er hörte ein Heulen und Rufen, die Steine und Felsen wurden zu Stimmen, und die Stimmen bedrängten ihn. Er verhüllte sein Gesicht und warf sich zu Boden. Der Körper zuckte. Schaum trat auf die bebenden Lippen, denn er hörte Stimmen, die keine Menschenstimmen waren. Dann erwachte er. Schweiß bedeckte seine Stirn, der Körper war wie gelähmt. Er saß hockend, zusammengekauert in der Höhle. Seine Augen blickten in die Ferne und sahen weder Felsen, noch Himmel, noch Sand. Vielleicht sahen sie ferne Symbole, deren sich die Völker der Schrift bedienten, vielleicht eine Flamme, die bei den Juden alle Sinnbilder Gottes ersetzte. Alte Bilder, halb unbewußte Erinnerungen an weise Mönche, an Karawanenreisen, an Reden unzähliger Sektierer tauchten auf und verschwanden. Und wieder kam der Tag, wieder leuchteten in Sonnenglut die Steine, wieder ertönten die Stimmen und klangen wild, erschreckend und fremd ins Ohr Mohammeds. Und wieder lief er durch die Wüste, verhüllte das Gesicht, stolperte über die Steine. Immer wieder erscholl der ferne, donnernde Ruf, immer wieder tauchten im Bewußtsein halb gehört, halb gedacht, unverständliche Sätze, Stimmen und Visionen auf. Und wieder sank Mohammed erschöpft zu Boden, blickte auf die Felsen, zuckte zusammen und hörte – von der trocknen Luft getragen – dieselben Töne und Sätze: »Ich bin es, der da ist, höre mich an.«

In der heißen Wüstenluft verwirren sich Bild und Gedanken. Himmel und Erde erfüllen sich mit Visionen, und wie ein ferner Wellenschlag, wie das Sausen des Windes streichelte Mohammed die ferne Stimme: »Du bist jener Mensch, rufe den Namen des Herrn aus!« Zahlreich sind aber die Stimmen der Wüste, zahlreich sind die Augen der Wüste, die sich in den Menschen einbohren. Dämonen, Dschinnen, böse Geister verfolgen den Menschen in der Wüste, und niemand weiß, welcher Ton, welche Stimme und welches Antlitz der Böse zur Verführung aussucht. Ein einfacher Mensch war Mohammed, ein ungelehrter Kaufmann aus Mekka. Er vermochte die Stimmen nicht zu unterscheiden. Er wußte nur, daß viele Dämonen den Menschen umgeben und in ihren Bann ziehen wollen. So glaubte er ein Besessener zu sein, einer von denen, die durch Basare wandern, mit schäumendem Mund, die wirre, dämonische Wahrheiten verkünden und nicht los können von den Dingen der Erde.

Wahrsagern, Besessenen und Magiern galt aber der Haß Mohammeds. Jetzt fürchtete er selber, dem Zauber der Dämonen zu verfallen. »Mein Leben lang verachtete ich die Magier und Zauberer, jetzt fürchte ich, selber einer zu werden«, sagte er zu Ḫadīǧa. Doch wußte er nicht, welcher Dämon ihn verfolgte.

Er fürchtete sich vor der Besessenheit, fürchtete sich vor dem schrecklichen Wüstenwahn. Deshalb floh er durch die Wüste, taumelte wie ein Trunkener, blickte mit irrem, verständnislosem Blick um sich, suchte die Rettung und fand sie nicht. Er sank zu Boden, und sein schweißbedeckter Körper bebte und zitterte. So vergingen in Qual und irrem Taumel Tage, Wochen, Monate.

Dann kam die Nacht Qadr – plötzlich, unerwartet, sinnverwirrend.

Was ist die Nacht Qadr?

Wenn der Orientale von frommen Wundern spricht, von besonderer Gnade des Allmächtigen, von dem Begnadeten, der durch die Finger Gottes in die Welt blicken darf, so sagt er: solches ist nur in der Nacht Qadr möglich, in der großen Nacht der Wunder. – Die Nacht Qadr fällt in den Monat Ramadan, in den Monat des Fastens und der Buße. Dreißig Nächte hat der Monat Ramadan, doch keiner weiß, welche die Nacht Qadr ist. In der Nacht Qadr schläft die Natur ein. Die Flüsse hören auf zu fließen, der Wind bleibt still, die bösen Geister vergessen die Wunder der Welt zu bewachen. In der Nacht Qadr kann man Gras wachsen und Bäume sprechen hören. Nymphen erheben sich aus den schlafenden Flüssen, in tiefem Schlummer liegt der Sand der Wüste. Die Menschen, die die Nacht Qadr erleben, werden zu Weisen oder Heiligen, denn in dieser Nacht blickt der Mensch durch die Finger Gottes.

In der Nacht Qadr, im Monat Ramadan kam über Mohammed das Wort Gottes.

Von unsichtbaren Stimmen, von dämonischem Spuk, von Kampf, Qual und Verzweiflung erschöpft, lag Mohammed in dieser Nacht am Eingang zu der großen, vom Satansschwert geschlagenen Höhle im Berge Hirāʾ Er schlief oder war nur in Gedanken versunken. Plötzlich sah er eine Gestalt auf sich zukommen. Die Formen der Gestalt waren verschwommen. Ein Mensch? Ein Dämon? Ein Wesen. Es schien ihm, daß zwei Augen von der Größe des Himmels sich in ihn hineinbohrten, und plötzlich hörte er eine Stimme, so deutlich und klar wie noch nie: »Iqraʾ«, sagte die Stimme, »verkünde.« Und da es eine klare Stimme war, die man verstehen konnte, die keinen Schrecken in sich barg, antwortete Mohammed wahrheitsgemäß: »Ich kann nicht verkünden.« Da faßten ihn unsichtbare Hände, drückten ihn zu Boden, würgten ihn, daß er glaubte, ersticken zu müssen, und wieder befahl die Stimme: »Verkünde.« In Todesangst antwortete nun Mohammed: »Was soll ich verkünden?« Da breitete die Gestalt vor den Augen des Propheten ein großes seidenes Tuch aus, und Mohammed las in der feurigen Schrift die ersten Sätze des Korans: »Verkünde im Namen deines Herrn, der den Menschen aus einem Blutklumpen erschuf. Verkünde, der Herr ist der Allergnädigste, er hat mit der Feder den Menschen gelehrt, was der Mensch nicht wußte.« – Plötzlich verschwand die Gestalt, es wurde still um Mohammed, Nacht lag über ihm, und die Wüste schlief, wie die Welt in der Nacht Qadr.

Mohammed erhob sich, trat aus der Höhle und bestieg den Gipfel des Berges. Er sah die Sterne Arabiens, die phantastischen Zacken der Felsen und die Stadt Mekka mit dem Gotteshaus, der Kaʿba. Und wieder kam, gleich dem leisesten Hauch des Wüstenwindes, eine Stimme an sein Ohr und sprach: »Du bist der Gesandte Gottes, o Mohammed, und ich bin Gabriel, sein Erzengel.« Dann erlosch die Stimme. Zwei große Augen blickten Mohammed an. Er sah nach rechts und nach links, nach oben und nach unten, überall um ihn war der strenge Blick des Erzengels. Taumelnd lief Mohammed den Berg hinab, scharfe Felsen zerkratzten ihm die Beine, trockene Wüstenstoppeln zerstachen ihm die Füße. Er merkte es nicht. Er lief durch das steinige Tal wie ein Wahnsinniger, wie ein Gehetzter. Bis zum Mittag des nächsten Tages irrte er durch das Tal, und die Augen Gabriels verfolgten ihn.

Erschöpft kam er schließlich heim, rief Ḫadīǧa und erzählte ihr das Vorgefallene. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ist es ein guter Geist oder ein Dämon, der mich verfolgt.« Ḫadīǧa war eine kluge Frau. Sie wollte ihrem Manne helfen und wußte, was sie tun sollte. »Setze dich auf mein linkes Knie«, sagte sie, »siehst du dann noch den Geist?« – »Ja«, antwortete Mohammed. »Setze dich auf mein rechtes Knie«, befahl sie. »Ich sehe ihn immer noch«, sprach Mohammed. Da seufzte Ḫadīǧa tief auf, entblößte ihren Körper und legte sich liebend zu Mohammed. »Siehst du ihn noch?« fragte sie dann. »Ich sehe ihn nicht«, antwortete Mohammed. »Dann, o Mohammed, ist es wahrlich ein guter Geist, denn ein böser Geist würde sich der Schande freuen, ein guter aber verzieht sich voll Scham.«

Und da Mohammed ein Mann war, beruhigten ihn die Worte der Ḫadīǧa, und er schlief ein. Ḫadīǧa aber war eine Frau. Sie fand keine Ruhe und wollte wissen, was ihren Mann befallen habe.

Viele kluge Männer gab es in Mekka, sie wußten Bescheid über alle Formen des Handels, über Preise und Ware. Von den Dingen des Himmels, von guten und bösen Geistern wußten aber nur wenige. Leise erhob sich Ḫadīǧa vom Lager, schlich aus dem Hause und ging zum weisen Vetter, zu dem blinden Ḥanīfen Waraqa ihn Naufal, der alle Götter kannte, alle Bekenntnisse ablegte und trotzdem die Wahrheit nicht erforschen konnte. Diesem weisen Vetter erzählte Ḫadīǧa von den Gespenstern, die ihren Mann umgaben. Als Waraqa alles gehört hatte, hob er die Hände zum Himmel empor und rief voll innerer Erregung: »Bei dem, in dessen Gewalt meine Seele ist, wenn es sich so zugetragen hat, wie du mir berichtest, so war es der große Erzengel, der Mohammed erschien, wie er einstmals Moses erschien und allen Propheten dieses Volkes. Sage deinem Mann, er soll standhaft sein.«

Beruhigt kehrte Ḫadīǧa in ihr Haus zurück. Waraqa war ein weiser Mann, er konnte nicht irren. Tags darauf ging Mohammed immer noch zweifelnd und ungläubig in die Kaʿba. Nach altem Brauch umkreiste er siebenmal das heilige Haus, und beim siebentenmal stieß er auf den blinden Waraqa. »Erzähle mir, was du gesehen und gehört hast«, bat Waraqa, und als ihm Mohammed dasselbe berichtete, was er schon von Ḫadīǧa gehört hatte, sagte er mit bebender Stimme: »Wahrlich, du bist der Prophet dieses Volkes, der größte aller Erzengel ist zu dir gekommen. Die Menschen werden dir keinen Glauben schenken wollen. Sie werden dich einen Lügner nennen, dich mißhandeln, verdammen und bekämpfen. Bleibe aber standhaft, denn du bist zum Propheten des Volkes berufen.« Und der Greis beugte sich zu Mohammed und küßte und segnete ihn.

»Ich bin der Gesandte Gottes«, sagte Mohammed.

Er stand jetzt allein im Hofe der Kaʿba. Unzählige Idole blickten ihn an, stumme Götzen, mit Schmuck behangen, standen um ihn. Priester, Kaufleute, Kameltreiber, die ganze Stadt Mekka, das ganze, große, nüchterne, ungläubige Land stand gegen ihn. Er war allein, er war der Gesandte des unbekannten Gottes, den er verkünden mußte. Seine Waffe gegen die dreihundertsechzig Götzen, gegen die Macht und Stärke des Gegners, gegen Spott und Schande, die über ihn hereinbrechen mußten, war nur eine Vision, die Erinnerung an strenge, unauslöschbare Augen und einen kurzen, unvergeßlichen Vers, der die Welt erschüttern sollte:

Sprich, Gott ist einer, ein ewig reiner,
Hat nicht gezeugt, und ihn gezeugt hat keiner.


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