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Wir kannten die Araber nur als Bettler und Landstreicher.
Jesdegerd Wadbacht
Abraham verstieß seine Sklavin Hagar und ihren Sohn Ismael aus seinem Zelt, als Isaak zur Welt kam. Beide gingen in die Wüste. Die Bibel weiß nicht, was aus ihnen wurde. Die Weisen berichten aber, daß Ismael in der Wüste die Töchter der Lilith traf. Von diesen Töchtern und dem Sohne Abrahams stammt das Volk der Araber. Dieses Volk vermehrte sich gewaltig; die Wüste aber, die es bewohnte, war unfruchtbar und öde. Sie bestimmte das Dasein des Volkes. Es wanderte von einer Oase zur andern, weidete sein Vieh, bis die kärglichen Weideplätze kahl waren, und benötigte zur Existenz einer kleinen Sippe ein Gebiet von der Größe einer mittleren europäischen Provinz. Wenn aber das Volk übermäßig anwuchs, wenn die Weidegründe nicht mehr ausreichten, um das Vieh zu ernähren, wanderte ein Teil des Volkes aus. Am Nil und am Euphrat wurden diese Auswanderer zu gefürchteten Eroberern fremder Länder oder zu Söldnern im Dienste fremder Fürsten.
Alle zwölf- bis fünfzehnhundert Jahre wiederholte sich die Auswanderung aus der übervölkerten Wüste. Seit Anbeginn der Zeiten kannten die Auswanderer nur einen Weg. Es ist der Weg nach Mesopotamien, in das fruchtbare Land Syrien und Palästina. In diesen von Wasser gesegneten Ländern wird das Wüstenvolk seßhaft. Es gründet Staaten, baut Häuser und bekämpft nunmehr seinerseits die zurückgebliebenen, wilden Brüder in Arabien. So entstanden durch die semitische Invasion aus Arabien die Weltreiche Assyrien und Babylon, die Kulturzentren der alten Welt.
Den Chaldäern, die diese Imperien gründeten, folgten aus der Tiefe Arabiens die zahlreichen Völker der Bibel. Dann kamen in den Zeiten Roms die Aramäer. Immer wieder sandte die Urheimat der Semiten ihre kriegerischen Sippen in die Welt der Städte und Ackerfelder. Den kleinen, gelegentlichen Auswanderungen, die nie aufhörten, folgten in langen Abständen große Expansionen – bis zu Beginn des sechsten Jahrhunderts am Horizont der alten Welt ein neues Wüstenvolk auftauchte: die Araber.
Das Volk der Araber zerfällt in zwei große Teile: in diejenigen, die in der Wüste leben, wie es die Wüste gebietet, und in diejenigen, die in der Wüste zu leben versuchen, wie man in Mesopotamien lebt oder in Syrien und in Ägypten, in die Nomaden und in die Seßhaften. Beide Teile hassen einander tief und unversöhnlich. Für den Beduinen ist der Seßhafte nur eine Abart des Sklaven, ein Mann, der weniger auf sein siegreiches Schwert angewiesen ist als auf den Pflug. Und der Seßhafte seinerseits haßt den Beduinen, den wilden Räuber der Wüste, mit aller Kraft des Renegaten, der noch gestern selbst ein freier Beduine war.
›Als der Allmächtige die Welt schuf‹, so erzählt der Beduine, ›nahm er den Wind und sagte: »Werde Mensch« und aus dem Wind schuf Gott den Beduinen. Dann nahm Gott einen Pfeil, und aus dem Pfeil wurde das Wüstenroß. Dann aber nahm der Allmächtige einen Haufen Schmutz, und aus dem Schmutz entstand der Esel. Und nur aus dem ersten Eseldreck schuf der Herr der Welten in seiner großen Gnade den Seßhaften, den Städter und Bauer.‹
Doch der Seßhafte bleibt die Antwort nicht schuldig. Verächtlich nennt er den Beduinen einer gewissen Wüstensitte wegen: ›Der Mann, der eine Frau von einer Jungfrau nicht unterscheiden kann‹, womit für ihn der Unterschied zwischen Stadt und Wüste zur Genüge gekennzeichnet ist.
Wie dem auch sei – der beste und wertvollste Teil der Araber lebt in der Wüste. Das Wüstenleben ist hart und voller Gefahren. Der Mensch der Wüste muß sich eisernen Regeln unterwerfen. Er muß Schutzmaßnahmen treffen, die in der Welt der Städte unbekannt sind. Der einzelne vermag da nicht viel. Man muß sich in Bünde zusammenschließen, in Vereine zur Bekämpfung der Naturgewalten. Die ersten und die meisten Menschen, die der Araber um sich sieht, gehören seiner Familie an. Mit ihnen schließt er ein lebenslängliches Bündnis. Dieses Bündnis ist die Sippe. Der Mensch des Westens weiß heute nicht, was Sippe bedeutet. Er kennt Familien, Verbände und den Staat. Für die Familie muß man sorgen, dem Staat muß man dienen, dem Verband muß man angehören. Doch nichts davon fordert und erfüllt den Menschen vollkommen. Dies vermag nur die Sippe. Die den Araber beherrschende Sippe ist für den freien Wüstensohn ein erbarmungsloser Zwang, dem er höriger ist als der Europäer der Familie, dem Staat und der Partei. Denn für ihn ist die Sippe Familie, Staat und Partei zugleich.
Die Sippe stellt eine erweiterte Familie dar, deren Mitglieder sich voneinander nicht trennen können. Die Sippe hat ihre Gesetze, die sklavisch befolgt werden müssen. Sie bestimmt die Rolle jedes einzelnen in der Gemeinschaft. Sie befiehlt ihren Mitgliedern, ins Feld zu ziehen oder zu hungern. Ihr gehören sämtliche Kamele, Schafe, Kinder und Frauen eines jeden Mitgliedes. Sie übt durch tausenderlei Gebote und Traditionen einen fürchterlichen Zwang aus. Sie ist alles in allem ein Urbild des primitiven, kommunistischen Staates. Dabei ist der arabische Mensch außerhalb seiner Sippe undenkbar. Nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sippe verleiht ihm persönliche Bedeutung und menschliche Würde. Tausende von Menschen gehören zu einer Sippe. Alle sind miteinander verbunden, und jeder kennt ganz genau den Grad seiner Verwandtschaft mit allen andern.
Wenn die Sippe durch die Wüste zieht, reitet der Sippenführer, der Scheich, an ihrer Spitze. Die Aufgabe des Scheiches besteht in allererster Linie in der Aufrechterhaltung der Gesetze der Sippe. Versagt er hierin, wird er abgesetzt. Verstößt jemand gegen die Gesetze der Sippe, so wird er aus dem Bunde ausgestoßen. Das aber ist das Schlimmste, was einem Menschen in Arabien zustoßen kann. Ein Ausgestoßener ist vogelfrei. Jeder darf ihn berauben und töten. Er ist ein Mensch ohne Sippe, ihm hilft niemand, ihn schützt keiner. Geschützt wird der Araber, wenn seine Kraft nicht ausreicht, nicht vom Staat, weil es den gar nicht gibt, sondern nur durch das Ansehen seiner Sippe. Wer zu einer großen Sippe gehört, kann, theoretisch gesprochen, gefahrlos durch die Wüste reisen, keiner wird ihn anrühren, denn hinter ihm steht die achtunggebietende Macht seiner Sippe. Auch Schulden darf er machen, wenn seine Sippe reich ist. Zahlt er sie nicht zurück, so haftet die Sippe dafür. Bei Heiratsabsichten eines jungen, armen Mannes sammelt die Sippe das Brautgeld. Wird jemand gefangengenommen, löst ihn die Sippe aus. Es ist sehr vorteilhaft, in Arabien einer mächtigen Sippe anzugehören. Alles, was der moderne Staat seinen Bürgern an Bequemlichkeit und Sicherheit bieten kann, und noch vieles mehr besitzt der Araber als Angehöriger einer großen Sippe. Und alles, auch den letzten Schutz, verliert er, wenn seine Sippe ihn ausstößt. Je mächtiger die Sippe, desto sicherer sind Leben und Reichtum der ihr angehörenden Araber.
Wie erhält man aber seine Sippe mächtig? Dies geschieht einfach und primitiv durch das älteste und jedermann zugängliche Mittel: Man erhöht die Zahl ihrer Mitglieder, sosehr man kann. Je mehr Kinder im Zelte eines Arabers umherlaufen, desto größer ist die Gewähr, daß seine Sippe auch weiterhin geachtet und mächtig bleiben wird.
Wer viele Kinder zeugt, wird besonders hoch geachtet. Nirgends wird die männliche Kraft so hoch geschätzt und öffentlich gepriesen wie im Wüstenlager der Nomaden. ›Ich bin arm und einfach‹, sagt der Beduine zu dem verweichlichten Städter. ›Dafür habe ich aber zwanzig Kinder gezeugt und werde noch zwanzig zeugen.‹ Von weisen und geachteten Männern sagt der Beduine: ›Er kann Kinder zeugen, soviel er will. Gott ist ihm gnädig.‹ Und will jemand den Beduinen imponieren, so dient als schlagender Beweis seine männliche Zeugungskraft. Zehn bis zwanzig Kinder sind im Beduinenzelt keine Seltenheit; doch ist die Kindersterblichkeit hoch, und das einzig wirksame Mittel dagegen ist der rasche Ersatz des Ausfalls.
Natürlich kann der große Kinderreichtum, den der Beduine braucht, um seine Sippe mächtig zu erhalten, nicht von einer einzigen Frau kommen. Das Wüsten- und Sippenleben verlangt Vielweiberei. Der Beduine findet seine Frau auf unkomplizierte Weise – er raubt sie beim Nachbarstamm. Frauen aus dem eigenen Stamm nimmt er ungern; denn er fürchtet die Inzucht.
Im Frühjahr, wenn mehrere Sippen in einer Oase lagern, knüpft der Beduine seine Liebesbeziehungen an. Beim Weiden der Kamele, am Wasserbrunnen und nachts beim Lagerfeuer trifft er seine Auserwählte. Während der langen Winterwanderungen ist der Beduine liebebedürftig geworden. Da macht die Annäherung rasche Fortschritte. Wenn dann die Stämme aufbrechen, muß sich der Beduine entschließen. Entweder kauft er seine Auserwählte bei ihrem Volk, oder er raubt sie einfach. Will er beides vermeiden, so dichtet er eine Qaṣīda, ein trauriges Liebesgedicht, und zieht allein mit seinem Stamme weiter. Es kommt aber auch vor, daß ein energisches Beduinenmädchen sich selbst mit Gewalt den Geliebten holt und ihn ihrem eigenen Stamme zuführt. Das geschieht bei Stämmen, die arm an Männern sind.
Auch die Ehe der Beduinen ist zahllosen Gesetzen unterworfen. Außer der normalen Ehe kennt er noch die Ehe auf Zeit, die sogenannte Kebin-Ehe. Man heiratet für ein Jahr oder für einige Monate. Dies gilt für die Frau keineswegs als entehrend. Jeder Vater gestattet seiner Tochter gern, für einige Monate in das Zelt ihres Nachbarn zu ziehen. Ehe auf Zeit verschönt das Leben.
Die Scheidung ist bei den Beduinen durch keinerlei komplizierte Gesetze erschwert. Ist der Mann seiner Frau überdrüssig geworden, so schickt er sie einfach in allen Ehren ihrem ursprünglichen Besitzer, dem Vater, zurück. Ihre weibliche Ehre wird dadurch in keinerlei Weise verletzt. Bei Menschen, denen das Kinderzeugen als wesentlichster Inhalt des Lebens gilt, wird das Erotische nicht allzu tragisch genommen. In alten Zeiten kannten die Nomaden sogar die Vielmännerei. Zehn, zwölf heiratslustige Männer bildeten einen Bund, um gemeinsam eine landbekannte Schönheit, deren Vater ein zu hohes Kaufgeld verlangte, zu erwerben. Die Ehe kam zustande, worauf jeder der zehn Ehemänner einen Stab erhielt. Er durfte jederzeit das Zelt seiner Ein-Zehntel-Frau betreten und dort so lange verbleiben, wie es ihm beliebte. Vor dem Eingang ließ er seinen Stab liegen, damit die übrigen Ehemänner ihn nicht störten.
Der höchst reale Sinn des Beduinen hat es ergründet: lieber mit einem Zehntel in einem guten Geschäft als mit zehn Zehnteln in einem schlechten. – Um die Vaterschaftsfragen in dieser Art von Ehen zu klären, wurden Fachleute hinzugezogen. Denn die Feststellung der Vaterschaft ist in der Wüste, wo jeder gern Vater sein möchte, eine hochentwickelte Wissenschaft. So sehr der Araber zu romantischer Liebe neigt, der Sinn und Zweck seiner Ehe bleibt ausschließlich die Kinderzeugung.
Im Hinblick hierauf hat sich unter anderem folgender Brauch herausgebildet, der gleichfalls als völlig anständig galt: Ist einem Beduinen der Segen des Kinderreichtums nicht beschert, so sieht er sich in seinem Stamme um und sucht einen offensichtlich kräftigen Mann, von dem man einen gesunden Nachwuchs erwarten kann. Mit diesem schließt er einen Vertrag ab. Der Auserwählte erhält beispielsweise zwei Kamele und fünf Schafe, dafür verpflichtet er sich, der Frau des Unfruchtbaren zu einem Kinde zu verhelfen. Gleichzeitig wird vereinbart, daß der gemietete Erzeuger keinerlei Vaterschaftsrechte an dem Kind besitzt. Das Kind gehört dem Ehemann.
Kinder bedeuten Reichtum und Macht des Stammes, doch müssen diese Kinder Knaben sein. Knaben sind künftige Kämpfer und Weise, Mädchen braucht der Stamm nicht, sie sind eine Last. Sie können keine Kriege führen, nicht die Schafe des Volkes verteidigen und neue Weideplätze erobern. Wenn im Zelte des Nomaden ein Mädchen geboren wird, betrachtet man es als Strafe Gottes. Wenn zuviel Mädchen geboren werden, schafft der Beduine dagegen ebenso einfach wie brutal Abhilfe. Es besteht eine grausame Wüstensitte, die es erlaubt, überflüssige Mädchen lebendig zu begraben, damit sie dem Stamme nicht zur Last fallen und nicht die Muttermilch wegtrinken, die für die Knaben bestimmt ist. Das ist die naive Eugenik der Wüste.
Knaben und Männer sind der Reichtum der Wüste. Stirbt ein Mann, so wird die Sippe ärmer. Wird ein Mann getötet, so muß der Mörder, wenn er einer anderen Sippe angehört, ebenfalls sterben, damit das natürliche Gleichgewicht zwischen den Sippen gewahrt bleibt. Daraus ergibt sich das komplizierte Gesetz der arabischen Blutrache, das oberste Gesetz der Wüste.
Jeder Nichtorientale hält die Blutrache für ein tierisches Gesetz brutaler Rachsucht, für einen primitiven Trieb des Wilden. Der Nichtorientale irrt. Das Gesetz der Blutrache ist komplizierter und vielseitiger als die meisten Gesetze Europas. Nicht in plötzlicher Erregung wird Blutrache verübt, sie ist zahlreichen Regeln und Bedingungen unterworfen, die jeder Nomade von klein auf in seinem simplen Gehirn konservieren muß. Die berüchtigte Blutrache der Araber ist, bei Licht besehen, eigentlich der einzige Schutzwall gegen die Anarchie, den Krieg aller gegen alle. Nur weil die Blutrache drohend über den Sippen schwebt, gibt es zuweilen Frieden in der Wüste. Es ist lediglich die Furcht vor der Rache, die den Frieden gedeihen läßt. Der Verlust eines Familienmitgliedes, eines Kämpfers, schwächt die Sippen, hinterläßt eine Lücke und stärkt die Sippe des Gegners. Ob der Mörder tatsächlich einen Mord begehen wollte oder ob der Mord zufällig verübt wurde, ist gleichgültig.
Der Begriff der Sünde, des Verbrechens, war den alten Beduinen unbekannt. Man kannte nur den Schaden, der wiedergutgemacht werden mußte; Blutrache ist eigentlich nichts weiter als Schadenersatz auf orientalisch. Deshalb ist es zum Beispiel streng logisch, daß sich die Blutrache nur auf die Angehörigen fremder Sippen erstreckt. Strafbar ist nicht der Mord selbst, sondern der angerichtete Schaden. Deshalb ist auch bei einem Mord innerhalb einer Sippe der Mörder selbst mitgeschädigt; denn er ist ja um einen Blutsverwandten ärmer geworden. Falls man nun den Mörder auch noch bestrafen wollte, so würde man damit die Kraft der Sippe durch den Verlust eines weiteren Mitgliedes schwächen. Blutrache innerhalb einer Sippe ist also ein Widerspruch in sich selbst.
Der Anlaß zur Blutrache braucht nicht immer Mord zu sein. Es genügt ein Diebstahl, ja sogar eine Beleidigung, das heißt jeder materielle oder moralische Schaden, um die Blutrache herbeizuführen. Sie vollzieht sich nach alten Bräuchen und besteht hauptsächlich in Feldzügen, gegenseitigen Plünderungen und Metzeleien der Sippen. Diese Kämpfe dauern offiziell bis zur Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts, das heißt bis in die Unendlichkeit. Die Gründe aber, die zu einer Blutfehde führen können, sind im Vergleich zu ihren Folgen erschreckend nichtig.
Folgende Ursache entflammte zum Beispiel einen jahrzehntelangen Krieg zwischen zwei mächtigen Sippen. Ein würdiger Scheich namens Kulaib erging sich eines Tages auf der Weide, auf der sein Stamm lagerte. Plötzlich sah er eine Lerche, die eben Eier gelegt hatte und diese ängstlich hütete. Kulaib hatte ein mildes Herz und sagte: »Sei ruhig, o Lerche, ich, der Scheich Kulaib, verspreche, daß dir nichts geschieht.« Sprach's und ging weiter.
Eine Stunde später ritt an derselben Stelle Ǧaisās, der ebenso würdige Scheich eines Nachbarstammes, vorbei. Er bemerkte die Lerche nicht, und die Füße seines Kamels zertraten die Eier. Tags darauf ging Kulaib durch die Wiese und sah plötzlich die zerstörten Eier vor sich. Voll Wut lief er nun durch die Lagerstätten und stellte zu seiner Empörung fest, daß die Füße des Kamels von Ǧaisās mit Eigelb befleckt waren. Jetzt wußte er, wer der Übeltäter war. Er suchte Ǧaisās auf, und es traf sich, daß dieser Kulaib gerade den Rücken kehrte. Kulaib war zu vornehm, um vor Ǧaisās Augen zu treten, Ǧaisās war zu vornehm, um sich nach jemandem umzuwenden. »Kehre dich um, oder ich töte dich«, rief Kulaib. »Tritt her!« schrie Ǧaisās. Die Folge der beiderseitigen Vornehmheit war die Ermordung beider Scheichs, worauf, wie gesagt, eine jahrzehntelange Fehde begann.
Fast jeder arabische Stamm hat Blutfeinde, die er bekämpfen muß. Fast jeder Araber ist ständig auf der Suche nach einem Blutfeind. Das Leben des Beduinen müßte demnach ein dauernder Kampf sein, nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen die Menschen. Doch hat die Wüste auch ihre eigenen Gesetze des Friedens. Jeder muß sie bedingungslos erfüllen. Uralt sind diese Gesetze, niemand kennt ihren Ursprung, aber jeder befolgt sie als Gebote Gottes. Denn ein Verstoß gegen diese für die Allgemeinheit geschaffenen, also übersippischen Gesetze führt zu den schrecklichsten Folgen – zum Wüstenbann. Mit Schaudern und Ekel erzählt der Beduine von einem solchen Verstoß. Niemand will mit dem Verbrecher oder auch nur mit seiner Sippe zu tun haben, man meidet ihren Umgang und weicht ihnen aus, wo man kann.
Was sind das für Gesetze? Sie sind wie die Reste einer uralten, vergessenen, allgemeinen Verfassung der Wüste. Sie verkünden nicht viel, aber das, was sie gebieten, ist für das Dasein in der Wüste unumgänglich. Im heißesten Gefecht, im Krieg, im Rausch der Blutrache sogar ist es zum Beispiel verboten, die Palmen des Gegners zu zerstören oder seine Wasserquellen zu vernichten. Palmen und Wasserquellen sind sozusagen Heiligtümer. Sie dienen der Allgemeinheit, heute dem einen Stamm, morgen dem andern. Verflucht ist derjenige, der sie beschädigt. Wer diese Tat begeht, hört auf ein Mensch zu sein. Er wird zur wilden Bestie, die man töten soll, wo man sie trifft.
Auch die Gastfreundschaft gehört zu diesen Gesetzen. Tötet etwa ein Blutfeind den Erstgeborenen eines Nomaden und erscheint mit dessen abgeschnittenem Kopf im Zelte des Vaters, so muß der Vater auch dann dem Gast Schafsfett und -milch anbieten, ihn demütig bedienen und inbrünstig für die Ehre seines Besuches danken. So lautet das Gesetz der Wüste.
Diese Gesetze allein würden jedoch nicht genügen, um das Leben der Beduinen erträglich zu machen. Raub und Viehzucht stillen nicht alle Bedürfnisse des Nomaden. Er muß hin und wieder auch weite Reisen zu den Jahrmärkten antreten, wo sich alle Stämme versammeln, um bei den Händlern Leder, Kamele und Schafe in Waffen, Tücher und sonstige Bedarfsartikel einzutauschen. Wie können aber viele Stämme in einem Ort zusammentreffen, wenn sie alle in Blutfehden verstrickt sind? Hier hilft ein Wüstengesetz. Vier Monate des Jahres haben die Araber für heilig erklärt. In diesen vier Monaten dürfen keine Kriege geführt werden, und auch die Blutfeinde dürfen einander nicht überfallen. Friede herrscht dann in den Wüsten. Das Volk zieht furchtlos zum Jahrmarkt. Alles singt und tanzt, Blutfeinde sitzen nebeneinander und loben die Götter, die ein Drittel des Jahres in Frieden vergehen lassen.
Doch werden die Götter nicht allzu inbrünstig gepriesen. Es gibt wenig Dinge, die dem Beduinen so gleichgültig sind wie die Fragen des Glaubens. Der Gang seines Kamels zum Beispiel ist viel wichtiger als alle Probleme der Religion. Der Araber, der Beduine des sechsten Jahrhunderts, glaubt eigentlich an alles, was ihm als Glaube vorgesetzt wird. Ernstlich glaubt er aber an nichts. Er sieht die Sterne und hält sie für Götter. Er sieht das unendliche, flache Wüstenland vor sich und verbeugt sich ehrfurchtsvoll, denn die Wüste ist mächtig. Er sieht das Feuer und betet es gleichfalls an, denn das tun auch die Perser, und diese sind ein großes Volk.
Eine Religion im Sinne Europas kannte der Araber des sechsten Jahrhunderts nicht.
Die großartige Vision der Wüste vermittelte ihm zwar eine leise Ahnung von einer mächtigen Gottheit, die über allem herrscht. Aber auch der Glaube der Nachbarn, der Christen und Juden, lehrt dasselbe. Manche Stämme traten sogar zum Juden- oder Christentum über. Nur selten gedachte der Beduine der großen Gottheit. Viel näher war ihm das Stück Stein oder auch die grobbehauene Statue, die sein Stamm mit sich führte. Dieser Stein ist die Gottheit für den Hausgebrauch, ohne große Ansprüche und ohne Gebote. Jeder Stamm hat seinen Stammesgott, seinen Stammesstein. Der Stein begleitet die Sippe und reicht für die primitiven, religiösen Bedürfnisse der Wüste aus. Wenn er versagt, müssen die Wahrsager, Heiligen und Magier helfen. Dann wird die ganze dämonische Unterwelt der Wüste herangezogen. Der einfache Sohn der Wüste ist mit seiner Religion äußerst zufrieden, sie hilft, ohne große Gegenleistungen zu verlangen.
Die Araber zerfallen in Stämme. Diese Stämme betrachten sich als Völker, als Staaten, die jedem andern Stamm, Volk oder Staat von Beginn an feindlich gesinnt sind. Jeder Stamm hat seinen Gott, seine Vergangenheit, seine Sitten. Einigkeit ist den Sippen Arabiens völlig unbekannt, für sie gibt es einfach kein Volk der Araber.
Und doch war es nicht immer so. Vielleicht, man weiß es nicht genau, waren die Sitten, das Leben und die Gesetze der Araber des sechsten Jahrhunderts nur armselige Reste einer vormals blühenden Kultur. Vielleicht waren die Araber einst reich und mächtig, hatten eigene Staaten, glänzende Städte, geschriebene Gesetze und feststehende Religionen. Vielleicht war das alles nur verfallen, von der Wüste verweht, und lebte jetzt als überkommene Sitte und unverständlicher Brauch im Bewußtsein des Volkes weiter. Vielleicht, genau weiß man es nicht.
Man weiß aber, daß dieses Volk einst große Taten vollbracht hat. Als die großen Handelswege des Ostens noch über Arabien führten, als König Hiram und König Salomo noch ihre Karawanen in das Märchenland Ophir schickten, war das Volk der Araber reich und mächtig. Im Süden herrschte damals die Königin von Saba, die berühmte Bilqīs-Mākedā, die dem Herrscher der Juden hundertfünfzig Zentner Gold zum Geschenk brachte. Im Norden blühte das Reich der Nabatäer. Auch das Goldland Midian ist bekannt. Doch ist nicht viel von all diesen Ländern überliefert. Sie waren da, blühten und verschwanden, verschüttet vom Sand der Wüste. Noch in den Zeiten Roms war Arabien einer gemeinsamen großen Erhebung fähig. Das Reich von Palmyra vereinte fast ganz Arabien zum Kampf gegen Rom. Die Heere Arabiens führte damals eine Frau – die Wunderkönigin Zenobia, die später den Einzug des Triumphators in Ketten zierte.
Das alles ist aber Vergangenheit.
Jetzt, im sechsten Jahrhundert, liegt das Vergangene tief unter dem Wüstensand begraben. Es gibt keine Einheit mehr unter den Völkern Arabiens, auch selbständige Staaten findet man nirgends, weder im Süden, im einst ›glücklichen Arabien‹, noch an der Goldküste des Nordens, in Midian. Nur hoch im Norden, wo die großen Wüsten an Byzanz und Persien grenzen, errichteten die Großmächte der damaligen Welt, gleich ihren Vorgängern, Pufferstaaten. Die einzigen Staatsgebilde der Araber waren nun das Land der Ghassaniden in Transjordanien, ein Tributland von Byzanz, und das Land der Lachmeniden im Irak, ein Tributland Persiens.
In den Wüsten aber, in der Wildnis und Barbarei, lebte das freie Volk der Araber. Sippen überfielen einander, Blutfehden erschütterten das Land. Eine Sippe haßte die andere, bekriegte sie, schonte jedoch ihre Palmen und Brunnen und pries das freie Leben des Beduinen, des Wüstenmenschen, der keinen Zwang kennt, keinen Staat braucht, nur seiner Sippe angehört, für die er in den Kampf zieht, Kinder zeugt und ein steinernes Idol anbetet.
So lebten die jüngsten unter den Semiten, die Araber. Moses und Christus wurden den Semiten geboren. Jetzt sollte, in der großen Wüste zwischen Irak und Ägypten, dem jüngsten Volk der Semiten, den Arabern, ein Prophet geboren werden – Mohammed, der Gesandte Gottes.