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Die Entstehung des Staates

L'état c'est moi.

Louis XIV.

Staub- und schmutzbedeckt, in zerfetzter Kleidung, auf erschöpften Kamelen erreichten der Prophet und Abū Bakr den Berg und das Dorf Qubāʾ den Obstgarten und die Sommerfrische von Yaṯrib. Müde kniete das Kamel unter einem breiten Obstbaum nieder. Die Nachricht von der Ankunft Mohammeds verbreitete sich rasch. Alle Einwohner des Dörfchens strömten herbei, um den neu angekommenen Propheten zu begrüßen. Mohammed saß im Schatten des Obstbaumes am Rande eines Brunnens. Und um den Augenblick zu kennzeichnen, in dem der Wendepunkt seiner Laufbahn begann, nahm er einen großen, aus Mekka mitgebrachten Siegelring vom Finger und warf ihn in den Brunnen. Das Volk von Qubāʾ wußte nicht, wer von den Angekommenen der Prophet war. Manche verbeugten sich vor Abū Bakr, manche vor Mohammed. Da erhob sich Abū Bakr, stellte sich hinter den Propheten und begann mit einem Tuch wie mit einem Fächer über Mohammeds Haupt zu wehen; das war die erste königliche Ehrung des Propheten.

Vier Tage verbrachte der Gesandte Gottes im Dorfe Qubāʾ. Gläubige kamen zu ihm und brachten ihm ihre Huldigungen dar, Ungläubige lauschten seinen Worten und bekehrten sich. Der mächtige Scheich Burhān ad-Dīn ibn Hāsib fiel mit seinen siebzig Kriegern dem Propheten zu Füßen und schwor für den wahren Glauben zu sterben. Aus Medina kamen Heiden, in festlichen Gewändern, verdammten ihre Götzen und begrüßten den Propheten. Niemand in ganz Medina wußte von den bescheidenen Anfängen des Propheten, niemand konnte sagen: ich kannte ihn noch, als er bei den Hāšim die Schafe hütete.

Am zweiten Tage nach der Ankunft des Propheten kam in sein Haus der arme Sklave Salmān al-Fārisī, ein Perser von Geburt, der auf der Suche nach dem wahren Propheten die Welt jahrzehntelang durchwandert hatte und ihn jetzt in der Oase von Medina fand. Salmān war in Iṣbahān geboren, er war Feueranbeter und verließ später den Glauben und die Heimat seiner Väter. Dann wanderte er durch die alte Welt von Kloster zu Kloster, von einem Heiligen zum andern, die Weisheit aller Götter in sich einsaugend, bis ihm ein alter Mönch von dem neuen Propheten erzählte, der den Glauben Abrahams wiederherstellen wollte. Salmān kam nach Medina, erwartete den Propheten und bekehrte sich zum Islam. Und da im Islam alle Menschen gleich sind, wurde er bedeutender als viele Edlen aus dem Hause der Quraiš. Er wurde der Ratgeber des Propheten und der erste Ingenieur des Islam. »Salām, der Perser, hat die Lehre Mohammeds geschaffen«, sagten später spöttisch die Mekkaner.

Am Freitag dem sechzehnten, im Monat Rabīʿ, zog der Prophet, in festliche Gewänder gehüllt, von siebzig Reitern und allen ausgewanderten Mekkanern begleitet, feierlich in Medina ein. Vor ihm her trug der neu bekehrte Scheich die Fahne des Propheten – einen grünen, an einer Lanze befestigten Turban – durch die Straße. Vor den Häusern standen die Einwohner von Medina und wunderten sich, daß ein armer, vertriebener, friedlicher Gottsucher wie ein triumphierender Eroberer in die Stadt einzog.

Mohammed hatte in Medina Verwandte. Das erleichterte ihm die Aufgabe. Seine Großmutter stammte aus der Sippe Ḫazraǧ. So fest sind in Arabien die Fesseln der Familie, daß dieser Umstand schon genügte, um so manchen zur Annahme des neuen Glaubens zu bewegen. Abū Aiyūb, ein weitläufiger Verwandter, stellte Mohammed sein Haus zur Verfügung. Mohammed zog zu ihm, doch war seine erste Tat der Ankauf eines inmitten der Stadt gelegenen Grundstückes, das nunmehr das Zentrum des neuen Glaubens werden sollte. Hier beschloß Mohammed, das Haus Gottes zu erbauen.

Wochen vergingen, und allmählich begann der Prophet die Zustände in Medina zu überblicken, Feinde und Freunde zu erkennen und zu beurteilen. Noch war er Privatmann, noch besaß er keine Macht und war lediglich der Führer einer moralischen Bewegung, sein Ziel war aber eindeutig: die Ergreifung der Macht in der Stadt Medina.

Er war nicht mehr allein. Um ihn stand die stattliche Zahl der ausgewanderten Mekkaner, die hier in der Fremde mehr denn je an den Propheten gekettet waren. Diese mekkanischen Emigranten, Muhāǧirūn genannt, waren in Leid und Kampf erprobt, sie hatten in Mekka Hab und Gut verloren, waren meist von ihren Verwandten aus der Sippe verstoßen, also vogelfrei, und daher gänzlich auf sich selbst und den Propheten angewiesen.

Der arabische Mensch verträgt keine Einsamkeit, die Muhāǧirūn schlossen sich zu einem Bund, einer Art Familie zusammen. Das Oberhaupt dieser entschlossenen Schar wurde natürlich der Prophet. Die Emigranten, die völlig verarmt nach Medina gekommen waren, hatten nicht viel zu verlieren. Sie mußten, um nicht in den fremden Sippen unterzugehen, fest zueinander halten. Zuerst hieß es natürlich für das materielle Dasein der Emigranten zu sorgen. Sie waren entwurzelt, konnten von niemandem Hilfe erwarten und hatten nichts als ihr nacktes Leben in die Verbannung hinübergerettet.

Doch war dies die kleinste Sorge des Propheten. Die Mekkaner waren die Tüchtigsten unter den Arabern. Bekannt ist die Geschichte von einem frommen Muhāǧirūn, der gänzlich zerlumpt und mittellos in Medina eintraf und dort einem wohlhabenden Freund begegnete. »O du Ärmster unter den Armen«, sagte der einheimische Freund, »wie kann ich dir behilflich sein? Mein Haus und mein Geld stehen dir zur Verfügung.« – »O bester unter den Freunden«, antwortete der Flüchtling, »nenne mir nur den Weg zum hiesigen Markt, alles andere wird sich schon finden.« Und in der Tat, er lief zum Markt, begann irgendwelche Geschäfte und gelangte rasch zu neuem Reichtum. Nur ganz vereinzelte Flüchtlinge mußten sich für eine Zeitlang reichen, eingeborenen Gläubigen anschließen. Diese Auswanderer brachten aber aus ihrer Heimat kämpferische Entschlossenheit und völlige Freiheit von irgendwelchen einheimischen Familienverhältnissen und Blutfehden mit. Sie betrachteten sich, da sie die ältesten unter den Muslims waren, als die Zierde des neuen Glaubens und gehorchten statt ihrem verflossenen Familienoberhaupt einzig und allein Mohammed. Sie hatten als Emigranten keinerlei moralische Bindungen zu berücksichtigen, und der Prophet entdeckte eines Tages, daß er an der Spitze seiner durch die Not zusammengeschweißten disziplinierten Muhāǧirūn eigentlich in der medinischen Anarchie eine nicht unbedeutende Macht darstellte.

Schwieriger lagen die Verhältnisse bei den Einheimischen, die zum Islam übergetreten waren. Ihnen war es noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß der Prophet auch die absolute weltliche Macht für sich beanspruchte. Sie beteten zum Gott Mohammeds, waren aber der Ansicht, daß die weltliche Macht einem der Ihrigen zukäme. Bis dahin hatte Medina kein sichtbares Stadtoberhaupt. Der Edelste unter den Ḫazraǧ, ʿAbdallāh ibn ʾUbai, war gleichfalls seit langem der Ansicht, daß ihm eigentlich die Krone der Stadt Medina gebühre. Hier mußte der Prophet als gewandter Diplomat und zielbewußter Herrscher vorgehen. Nach und nach gelang es ihm, mehrere von den Neubekehrten zu absoluter Hörigkeit zu erziehen. Diese Schar meist abenteuerlicher und junger Leute erhielt den Namen Anṣār – Helfer des Propheten. Diese Anṣār wurden eine kräftige Stütze der Politik Mohammeds. Die übrigen aber glaubten an den Islam nicht fester als an ihre alten Götter, sie nahmen ihn an, weil er einleuchtend war, und erhielten vom Gesandten Gottes den verächtlichen Namen Munāfiqūn, was Heuchler bedeutet. Ihr Führer war ʿAbdallāh, der gleichfalls äußerlich den Islam annahm, weil er dadurch Einfluß auf die Nichtstammesbrüder zu erringen hoffte. Doch war ʿAbdallāh reich und dumm. Der Prophet brauchte ihn nicht zu fürchten. Mit der Schar der Munāfiqūn bildete er eine träge Masse, die bei Erfolgen dem Propheten zujubelte und ihn bei Mißerfolgen zu verlassen bereit war.

Gestützt auf die Muhāǧirūn und die Anṣār, war der Prophet, ehe es die anderen bemerkten, eine Macht geworden, mit der sich im anarchischen Medina wohl niemand messen konnte. Die Flüchtlinge, die Helfer und die Heuchler, diese drei Gruppen, die den Propheten umgaben, stammten aus dem Volke der Heiden, aus dem Volke der Araber. Der Prophet aber war nach Medina gekommen, weil er hörte, daß dort Juden und Christen, Völker der Schrift, ansässig waren.

Die wenigen in Medina ansässigen christlichen Sektierer traten sehr bald zum Islam über. Mohammed erkannte die Heiligkeit Christi an. Das war den bescheidenen, in die arabische Wüste verschlagenen Christen genug. Anders stand es um die Juden. Sie bildeten beinah die Mehrheit der Bevölkerung Medinas und waren auf ihren von Gott empfangenen Glauben stolz. Sie wußten, daß Mohammed große Achtung vor ihren Schriften hatte, und betrachteten ihn anfänglich als halben Juden, als einen jüdischen Sektierer, denn Leute dieser Art gab es viel in den Wüsten. Keiner unter den Juden dachte jedoch daran, den Führer hergelaufener Mekkaner und einheimischer Heiden als Propheten anzuerkennen oder gar seinen Glauben anzunehmen. Sie begannen überdies die kaufmännische Konkurrenz der Mekkaner bitter am eigenen Leib zu spüren und beschlossen, sich den frommen Führer näher anzusehen.

Mohammed wollte Frieden mit den Juden. Er glaubte an die Einheit von Islam und Judentum. Schon bei seiner Ankunft in Medina hatten seine ersten Annäherungsversuche begonnen. Er trug jetzt seine Haare ungeflochten, nach jüdischer Art, und vermied alles, was den Unterschied zwischen ihm und den Juden unterstreichen konnte. Um die innere Einheit des Islam und des Judentums besonders deutlich zu dokumentieren, hatte er sogar den Gläubigen befohlen, ihr Gesicht beim Gebet gen Jerusalem – die Heilige Stadt der Völker der Schrift – zu wenden. Das war die erste Qibla, Gebetsrichtung des Islam. Sie sollte die Verwandtschaft mit den Völkern der Schrift verkünden.

Doch war all dies für die medinensischen Juden noch durchaus kein Beweis der göttlichen Sendung Mohammeds. Dieser Beweis konnte nur in gelehrten Diskussionen mit den Rabbinern erbracht werden. Die weisesten Schriftgelehrten von Medina wurden berufen, um die Heiligkeit des Propheten zu beurteilen. Die Heiligkeit war aber für die Rabbiner mit der Kenntnis der heiligen Thora identisch. Sie kamen, sprachen mit dem Propheten und stellten fest, daß sie die Thora besser kannten als er. Damit war der Fall für die Juden erledigt. Der Prophet konnte offensichtlich nur den Heiden imponieren.

Es blieb aber noch die politische Bedeutung des Propheten, und diese hatten die Juden richtig erkannt. Sie hofften, daß sein Einfluß bei den Heiden Ruhe und Ordnung herstellen werde, so daß der Handel dadurch automatisch zur Blüte gelangen würde. Aus diesem Grunde tolerierten sie den Propheten und sahen gleichmütig zu, wie die bewaffneten Abteilungen der Anṣār und Muhāǧirūn immer größeren Einfluß gewannen, wie die politische Bedeutung des Propheten von Tag zu Tag stieg. Sie hatten sich, wie die Zukunft zeigte, stark verrechnet.

Umringt von kampfbereiten Gläubigen, fühlte sich der Prophet in Medina von Anfang an als Träger einer Macht, und diese Macht wollte er organisieren. Dazu bedurfte es der Einigkeit seiner Gläubigen. Diese herzustellen war vielleicht die schwierigste Aufgabe des Propheten. Die Auswanderer und die Helfer Mohammeds gehörten zu verschiedenen Sippen, ja sogar zu den beiden feindlichen Kategorien des arabischen Volkes, zu Nomaden und Seßhaften. Seit Urbeginn war zwischen diesen beiden nur Haß, konnte nur Haß sein. Auch die Ankunft des Propheten änderte nicht viel an diesem Zustand. Beide Parteien rivalisierten miteinander, die Auszeichnung eines Anṣār durch den Propheten verletzte alle Muhāǧirūn und umgekehrt. Unter der äußeren Einigkeit des gemeinsamen Glaubens verbarg sich zudem der vererbte Haß der Stämme.

Diese Feindseligkeiten mußte Mohammed bändigen. Der Haß war das Erbgut der Familien, deshalb mußte die Macht der Familien erschüttert werden. Zuerst versuchte der Prophet die einheimischen Glaubensbrüder zu veranlassen, die Auswanderer in ihre Familien aufzunehmen. Als der Versuch mißlang, begann er durch vorsichtiges Laborieren, durch ausgeklügelte Diplomatie den Streit und die Zänkereien zu schlichten. Aber auch das versprach für die Dauer keine Sicherheit. Endlich entsann sich Mohammed, daß er in religiösen Dingen eine gesetzausübende Macht besaß. Die Zusammengehörigkeit seiner beiden Anhängergruppen wurde daher zum religiösen Dogma erhoben. Im achten Kapitel des Korans verkündet Gott durch den Mund Mohammeds: ›Diejenigen, welche geglaubt haben und aus dem Vaterland geflohen sind, die ihren Leib zum Kampf für den Glauben verwendet haben, und diejenigen, welche dem Propheten eine Freistätte bei sich gewährt haben und ihm Beistand leisten, sollen miteinander als am nächsten verwandt gelten‹ (8,73).

Es muß ein wunderbarer Einfluß von Mohammed und dem Koran ausgegangen sein. Der Vers der 8. Sure vernichtete zwar nicht den Haß zwischen den Kasten. Doch verschwand der Haß von der Oberfläche des Lebens, wurde unsichtbar und unmerklich. Die Sippen folgten, soweit sie konnten, dem Gesetz. Es wurde somit eine äußere Einigung der Muslims erzielt, und das mußte vorläufig genügen. So entstand, durch einen Vers im Koran veranlaßt, die einheitliche Gemeinde, Ǧamāʿa al-Islām, der Kern eines Staates, der weithin sichtbare Ausdruck der Macht des Propheten.

Diese Gemeinde, diese bewaffnete Macht, brauchte einen Mittelpunkt, und die erste sichtbare Tat des Propheten war der Bau eines Gebets- und Versammlungshauses, war der Bau der ersten Moschee des Islam. Auf dem großen Platz, in der Mitte der Stadt, auf dem sein Kamel beim Einzug in die Stadt niedergekniet war, begann der Prophet den Bau des Gotteshauses. Täglich erschien der Prophet, von rüstiger Gefolgschaft umgeben, auf dem Platz. Mit der Kraft seiner Hände half er beim Bau, trocknete in der Sonne die Ziegelsteine, schleppte Lehm herbei und errichtete die Mauern. So entstand das Gebetshaus des Propheten, die Maṣǧid an-Nabī, die erste Moschee. Mohammeds Hände halfen beim Bau. Da der Prophet nur ein Mensch war und die Gabe der Voraussicht nicht besaß, wußte er nicht, daß er hier mit eigenen Händen sein dereinstiges Grabmal errichtete. In der Mesdschid en Nebi sind die irdischen Reste des Propheten beigesetzt worden.

Die Moschee war einfach und prunklos, sie entsprach auch äußerlich dem nüchternen Glauben, der in ihr gepredigt wurde. Ein Stück Land von hundert Quadratellen wurde mit Mauern aus getrockneten Ziegelsteinen umgeben. Innerhalb des Quadrates pflanzte man Palmenbäume und bedeckte ein Drittel des Gebäudes mit Palmenblättern. In die Mauer schlug man drei Türen, eine in der Richtung des Gebets, eine im Namen Gabriels und eine im Namen der Barmherzigkeit. Die Pforte der Barmherzigkeit führte zum Hause des Propheten. Der Hof diente für Gebete, für Versammlungen und als Nachtlager für die Obdachlosen. Das war die erste Moschee, die Mutter der schönsten Gebäude des Orients, der steingewordenen Gedichte der arabischen Menschen.

Neben der Moschee errichtete der Prophet einige Hütten für sich und seine Angehörigen, und die Armut der Hütten zeugt von der stets gleichbleibenden Anspruchslosigkeit des Propheten. Niedrige Lehmwände, lederne, auf dem Boden liegende Matratzen, zwei grob zusammengehauene Hocker, eine Wasserflasche und Mehlgefäße bildeten die kärgliche Einrichtung. Kostbare Möbel lehnte Mohammed ab. Sein Leben war wie sein Glaube gesteigerte Einfachheit. Der Prophet flickte selbst seine Kleider, fegte mit dem Besen den Hof, molk Ziegen und arbeitete am Herd. Dieses Leben änderte er auch nicht, als er auf dem Gipfel der Macht autokratisch über ganz Arabien herrschte. Seine Einkünfte, den Tribut der Besiegten, die Beute aus späteren Kriegszügen verteilte er stets unter die Armen, denn Almosen spenden war für ihn die beste Tat in den Augen Gottes. Deshalb war auch der Hof vor den Hütten, zum Entsetzen der Gläubigen, ständig von speichelleckenden Schmarotzern und Bettlern aller Art überfüllt. Wenn man ihm aber riet, daß er als Prophet die Gemeinschaft mit dem einfachen Volk doch lieber meiden sollte, erzählte er folgende Fabel:

»Als Gott, der Allmächtige, die Erde schuf, zitterte und bebte sie in ihrer ungebändigten Freiheit. Kein Mensch konnte fest auf dieser Erde stehen. Um nun die Erde zu beruhigen, nahm Allāh hohe Berge, setzte sie auf die Erde und befestigte sie. Seitdem wurde die Erde ruhig. Als aber die Engel im Paradies davon erfuhren, staunten sie über die Macht der Berge und glaubten, es gäbe keine größere Schöpfung des Herrn. ›O Allāh‹, sagten sie, ›gibt es in deiner Schöpfung etwas Stärkeres als Berge?‹ Und Allāh antwortete: ›Eisen ist stärker, denn Eisen bricht die Berge.‹ – ›Ist also Eisen die stärkste Schöpfung?‹ – ›Nein, Feuer ist stärker als Eisen, Feuer kann Eisen zerschmelzen.‹ – ›Und was ist mächtiger als das Feuer?‹ – ›Das Wasser, denn es löscht das Feuer.‹ – ›Und gibt es etwas in dieser Schöpfung, das mächtiger wäre als Wasser?‹ – Ja, der Wind, denn er überwältigt das Wasser.‹ – ›O du gerechter Gott‹, riefen dann die Engel, ›was ist das Stärkste auf Erden?‹ Da antwortete Allāh: ›Das Beste und Schönste unter meinen Schöpfungen ist der mitleidige Mensch, der Almosen gibt. Wenn er mit der rechten Hand gibt und es vor der linken verbirgt, so überwältigt er alle Dinge.‹«

Im Hofe der Moschee, an einen Palmenstamm gelehnt, predigte der Prophet das Leben, das er selbst in seiner Hütte führte. Muslims, Juden, Christen und Heiden umgaben ihn. Mit Absicht hatte er den Freitag als den Tag der großen Predigt, der großen Gebete gewählt. Denn am Freitag waren Juden und Christen von ihren eigenen Gebeten frei und konnten seine Predigten hören. Eine der ersten Reden des Propheten galt nicht dem Krieg, den er brachte, nicht der Macht, die er beanspruchte, sondern der Nächstenliebe. »Wenn der Mensch stirbt«, so sagte er, »dann fragen die Erben: Welches Vermögen hat er hinterlassen? – Die Engel aber fragen: Welche guten Taten hast du begangen? – Was ist eine gute Tat? Alles, was ein Lächeln im Gesicht des andern Menschen erzeugt, ist gute Tat, ist Nächstenliebe.«

In Medina vor einer großen, freien Hörerschaft liebte der Prophet die Grundzüge seines Glaubens in solchen kurzen, klaren Sätzen zu definieren. Diese Sprüche ergeben ein getreues Bild des Islam, der auch als Staatsbildung auf moralischem Fundament basierte. »Nenne mir die Hauptregeln des frommen Lebens«, bat ein Neubekehrter den Propheten. Und der Prophet antwortete: »Sprich von niemandem Böses.« – »Wie kann ich das Andenken meiner toten Mutter ehren?« fragte ein anderer. »Durch Wasser«, antwortete der Prophet. »Grabe für sie einen Brunnen und gib den Durstenden das Wasser.«

Alle Fragen des Daseins wurden mit den Schülern im Halbdunkel des Hofes der Moschee besprochen und beantwortet. Der Islam, der jetzt das praktische Leben regeln sollte, war klar und allumfassend. So mißbilligte zum Beispiel der Prophet das übermäßige Essen und Trinken, ebenso auch das Singen und verbot kategorisch Tanzen, Musizieren, Malen und Bildhauen. »Warum, o Prophet«, soll man ihn gefragt haben, »bist du gegen die Künste?« Und Mohammed antwortete: »Aus Mitleid mit den Künstlern, die Figuren und Gestalten darstellen. Denn am Tage des Gerichtes wird Allāh den Künstlern befehlen, allen Figuren, die sie darstellten, Leben zu geben. Und das wird die Künstler sehr verwirren.«

Doch waren all diese frommen Gespräche, Gebote und Verordnungen jetzt für den Propheten von sekundärer Bedeutung. Wichtig war für ihn vor allem, durch Gespräche, durch Frage und Antwort zu erfahren, wie weit er sich im Notfall auf die Hilfe der Gläubigen verlassen konnte. Bald erkannte der Prophet: Die Muslims würden alles durchführen, was er befahl. Den zersplitterten, einander bekämpfenden Familien von Medina konnte er eine geeinte, disziplinierte und zu allem entschlossene Armee der Muhāǧirūn und Anṣār entgegenstellen. Dieses Bewußtsein machte ihn zum Herrscher, zum Machthaber, und er begann seine Macht auszubauen, begann das Gebäude der Gläubigen, den Staat Gottes zu bauen.

siehe Bildunterschrift

6. Pilger in Mekka: ʿUṯmān Pascha, der Generalgouverneur des Ḥigāz, mit dem ägyptischen Maḫmal (dem heiligen Teppich) in Mekka, seiner Residenz. Lithographie, 1889.

Eines Tages versammelte der Prophet die Vertreter aller Familien von Medina und die besten unter den Gläubigen um sich. »Wir, das Volk von Medina, leben in Fehde und Blutfeindschaft. Ich betrat diese Stadt, um hier Frieden zu stiften. Diesen Frieden verkünde ich jetzt.« Und er verlas die von ihm vorbereitete Verfassung, das Gesetz, das von nun ab das Leben in Medina bestimmen sollte.

Durch diese erste Gesetzgebung des Islam offenbarte sich Mohammed plötzlich von einer gänzlich überraschenden Seite. Nämlich als Staatsmann mit festem Blick und klarem Willen, als Politiker mit kühnem Gedankenflug, ganz anders als ihn Arabien bisher gekannt hatte. Der Staatsmann, der bis dahin unsichtbar in ihm gelebt hatte, kam plötzlich zum Vorschein.

Die Gesetzgebung hatte folgenden Inhalt: Alle Gläubigen bilden einen Staat, der die öffentlichen Rechte der Familie, wie Blutrache, Kriegführung usw., übernimmt. Der Führer dieses Staates ist Mohammed. Juden, die in Medina ansässig sind, werden dem Staate angegliedert und von den Gläubigen geschützt und verteidigt. Über Krieg und Frieden entscheidet der Prophet. Alle Einwohner von Medina müssen im Falle der Not Steuern zahlen. Ein Verbrecher gegen das Gebot des Propheten und gegen die Religion darf auch von seinen eigenen Verwandten nicht geschützt werden. Nur die privaten Vergehen unterstehen auch weiterhin der Gerichtsbarkeit der Familien. Blutfeindschaft unter den Muslims darf sich nie mehr auf ganze Familien erstrecken. Blutrache wegen eines Mordes an Ungläubigen gibt es für Muslims nicht. Alle Gläubigen sind zur Rache verpflichtet, wenn einer von ihnen des Glaubens wegen geschädigt wird. Ein Aufwiegler gegen den Propheten darf von niemandem, auch nicht von Familienmitgliedern, geschützt werden. Die Muslims bilden anderen Völkern gegenüber eine Gemeinde, in der alle einander gleich sind; Juden und Christen aber, die den Schutz der Gläubigen genießen, unterstehen in allen öffentlichen Fragen den Gesetzen des Propheten. Doch ist der Krieg für sie nur dann Pflicht, wenn er zum Schutze der Heimat geführt wird. In allen übrigen Fragen sind sie den Muslims gleichgestellt. Die Muslims müssen einander unterstützen, ihre Gefangenen loskaufen und dafür sorgen, daß es unter ihnen keine Mittellosen gibt. Weder Jude noch Christ kann gezwungen werden, den Islam anzunehmen. Die Einwohner Medinas müssen sich, unter Strafandrohung bei Nichtgehorsam, loyal gegen den Islam und dessen Gesetze verhalten. Alle Streitigkeiten in der Stadt sollen künftighin einzig und allein Gott und seinem Propheten Mohammed unterstellt sein. –

Dies Gesetz war ein Staatsstreich, wie ihn Arabien noch nie erlebt hatte. Er zerriß, wenn auch zuerst nur in beschränkter Weise, die Bande der Blutsverwandtschaft und schuf dafür neue, nie dagewesene rechtliche Kategorien, unterwarf das Recht der Sippe dem Willen des einzelnen. Ratlos und unentschlossen blickten die Vertreter der Familien einander nach dieser Kundgebung an. Doch sahen sie ringsherum auf dem ganzen Platz, auf dem Hofe der Moschee, entschlossene Gesichter der Muslims, deren Gewerbe die Religion und deren Führer der Prophet war. Die Muslims hatten starke Muskeln, blickten bedrohlich drein und klirrten mit ihren Waffen. Offensichtlich gab es für viele von ihnen überhaupt keine Sippenbindung mehr. Sie waren Prätorianer des neuen Propheten, Sturmabteilungen des Islam. Medina konnte ihnen nichts entgegenstellen.

Die Vertreter der Familien, die Juden, die Muhāfiqūn, die Heuchler und Zweifler, unterwarfen sich dem neuen, unter dem Druck der Waffen proklamierten Willen. Sie nahmen das Gesetz an.

So begann der Privatmann Mohammed Gesetze zu diktieren.

So entstand aus dem Nichts ein Staat.

So begann die Theokratie, so entstand das Muster aller islamischen Staaten, dessen Wirkung bis in die Gegenwart reicht.


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