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Der Prophet regiert

Das Beste in der Welt ist der Befehl.

Burte

Das Leben in Medina nahm mit der Zeit eigenartige Formen an. Aus einer kleinen anarchischen Sippenrepublik wurde, fast über Nacht, ein despotisch regierter einheitlicher Staat. Die Niederlage bei Uḥud schadete auf die Dauer nicht allzuviel. Mohammed hielt die Zügel der Macht fest in der Hand. Immer geringer wurde die Zahl der inneren Feinde, immer höher wuchs die Macht der Frommen.

Bewaffnete Krieger erfüllten die Straßen von Medina. Sie erzählten von großen Siegen über die Nomadensippen der wilden Beduinen, berichteten von der reichen Beute, die sie aus den Feldzügen mitgebracht hatten, von dem Schrecken, den sie in der Wüste verbreiteten, und von der unendlichen Macht Allāhs, der ihnen Ruhm und Sieg spendete. Frömmigkeit und Beutegier beherrschten jetzt die Stadt des Propheten. Medina, von Palmen und weiten Feldern umgeben, gehörte ihnen, und der Reichtum des Islam wuchs täglich. Wo einst die wilden Ḫazraǧ und Aus mit nicht viel weniger wilden Judensippen ihre unzähligen Fehden austrugen, herrschten jetzt eiserne Disziplin, Ruhe und Wohlstand unter dem unbeugsamen Willen des Propheten.

Der Prophet ließ die Stadt nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Immer wieder versammelte er die Krieger, immer wieder sandte er Beutezüge in die Wüsten. Hin und wieder zog er auch selbst den Panzer an, hißte die Fahne des Propheten und ritt in die Steppen, um mit Schwert und Wort den wahren Glauben zu verbreiten und reiche Beute für sich und die Frommen zu erjagen.

Mohammeds Macht war groß. Er war der erste unter den Arabern, er hatte die große Tat vollbracht, mit der Kraft seines Wortes die Bande der Blutsverwandtschaft zu zerreißen. Einst, noch vor wenigen Jahren, hatte Mohammed sein Leben dem unerschütterlichen Familiensinn der Hāšim zu verdanken, die jedes Opfer auf sich nahmen, ehe sie einen Verwandten freiwillig preisgaben. Jetzt warf er die Fesseln der Blutsverwandtschaft ab. Wenn die Sippe mehr galt als das Wort Gottes, konnte der Islam keine Macht werden. Bei fremden, kriegerischen Sippen, in fernen Oasen überall in der großen Wüste, lebten jetzt vereinzelte Anhänger des Propheten. Manche verheimlichten ihren Glauben, auch das gestattete der Prophet. Denn wer an den Propheten zu glauben begann, der beugte sich nicht mehr vor der Macht des Scheichs, der verstand es, spöttisch zu lachen, wenn die Alten des Stammes über das Schicksal des Volkes berieten, denn er diente jetzt einer größeren Wahrheit als der alten Wahrheit der Sippen.

Mohammed verstand es, die Menschen zu packen und zu bezwingen. Wer an ihn glaubte, mußte ihm dienen, und wer ihm diente, mußte das Gesetz der Väter, das Gesetz der Sippe verwerfen. So schuf Mohammed nach und nach eine geheime Organisation, die sich über alle Wüsten Arabiens erstreckte. Das waren nur Tropfen der Macht, die er später im großen Ozean der arabischen Sippen erringen sollte. Von den in allen Sippen verstreuten Mitgliedern seines Geheimbundes erfuhr er alles, was in den Wüsten vorging, hörte von den Absichten des Feindes, von den Stimmungen der Beduinen, erfuhr, welchen Weg die Karawanen einschlagen würden und an welcher Stelle des großen Landes Gottes Segen und reiche Beute den Sieg seiner Waffen erwarteten. Dann zog er mit der Schar seiner Krieger hinaus, siegte blitzschnell und kehrte nach Medina zurück. Jeder erfolgreiche Feldzug verschaffte ihm neue Anhänger in der Wüste, und die unter seinen Kriegern verteilte Beute sicherte ihm die Treue der Anṣār und Muhāǧirūn. So herrschte er unumschränkt, weil er als erster eine stärkere Wahrheit errichtete als die Wahrheit der Sippen.

In ganz Medina waren die alten Gesetze der Sippen in Unordnung geraten. Verzweifelt versuchte ʿAbdallāh ibn ʾUbai die Bande der Verwandtschaft aufrechtzuerhalten. Doch der Einfluß des Propheten war stärker als alles andere. Junge Männer, die ins Feld zogen und die Beute ihres Sieges in Medina unter sich verteilten, hörten nicht mehr auf die Worte der Alten. Sie gehorchten dem Propheten. Denn dem Worte des Propheten, seiner großen, allumfassenden Wahrheit konnten ʿAbdallāh und die Munāflqūn nichts mehr entgegenstellen. Wo der Prophet herrschte, starb das alte Gesetz langsam ab. Deshalb bekämpfte auch der Prophet die Munāflqūn nicht, denn er wußte, daß in Medina die Zeit und die Siege für ihn arbeiteten.

Die Siege des Propheten, die reichen Schätze, die er aus den Feldzügen mitbrachte, das Eigentum der vertriebenen Juden, das er unter den Frommen verteilte, veränderten das Gesicht der Stadt. Die gehetzten, zerlumpten, hungrigen und heimatlosen Flüchtlinge, die von der Gnade der wenigen Reichen lebten, verschwanden jetzt vollkommen aus dem Bilde der Stadt. Beutezüge und die Schätze der vertriebenen Juden hatten die einstigen Bettler reich gemacht. Sie besaßen jetzt Dattelpalmen, Ackerfelder und Gold. Niemand konnte das Ausmaß ihres Reichtums abschätzen, denn die Macht des Propheten stieg ständig, und die Macht des Propheten war der Reichtum der Frommen. Lange Jahre hindurch hatten die Frommen Entbehrungen und Verfolgungen aller Art erlitten. Sie waren gehetzt und vertrieben worden, hatten ihren Reichtum verloren, soweit sie welchen besaßen, und waren ihres Lebens nicht sicher gewesen. Jetzt brach der Segen Gottes auf sie herein. Der Prophet führte sie zu Macht und Reichtum, und sie waren dabei, sich für einstige große Entbehrungen reichlich entschädigen zu lassen. Die fromme Stadt des Propheten begann langsam ein kleines Babylon zu werden. Die Muslims gaben sich den Freuden des Daseins hin, Wein floß durch die Straßen Medinas, aus jedem Haus ertönte Gesang, und die frommen Krieger ergötzten sich an der Schönheit der fremden Sklavinnen. Im Würfelspiel wurden Unsummen verspielt. Die siegreichen Muhāǧirūn begannen ihr Leben zu genießen.

Der Prophet gönnte den Frommen die Freude des Daseins. Er kannte die Entbehrungen, die sie für ihn ertragen hatten, er wußte, daß nicht jeder Prophet sein kann, daß nicht jeder das Gebet mehr lieben kann als alle anderen Dinge auf Erden. Der Islam war nicht das Christentum, und der Prophet predigte nicht die Askese. Doch wußte der Prophet auch, daß die Lust des Lebens die Kraft des Lebens erlahmen läßt. ›Wohlgerüche, Frauen und vor allem Gebet‹ waren die Lieblingsdinge des Propheten. Deshalb wollte er diese drei Dinge auch den Frommen gewähren. Ausschweifungen konnten aber dem Staat Gottes zum Verderben gereichen, und so beschloß Mohammed, nach und nach, Schritt für Schritt die Lebenslust seiner Getreuen zu bändigen. So entstanden langsam, immer aus dem Gebot der Stunde geboren, eine Reihe von Gesetzen, die das kleine Babylon in das Joch strenger Sitten einspannen sollten. Diese Gesetze wurden immer anläßlich eines aus dem Rahmen fallenden Ereignisses verkündet. Das sicherte Mohammed zuerst das Einverständnis der Einsichtigen.

Als zum Beispiel irgendein frommer Mann in plötzlich erwachter Spielwut sein ganzes Vermögen, das er in schweren Wüstenfeldzügen erworben hatte, an einen Ungläubigen verlor, versammelte Mohammed seine Getreuen, teilte ihnen das traurige Ereignis mit und verbot dann für ewige Zeiten das Würfelspiel. – Als ein anderes Mal ein Gläubiger völlig betrunken beim Gebet erschien und zum Unwillen aller Anwesenden die Predigt des Propheten störte, verbot Mohammed für immer den Alkoholgenuß (5,92). So regelte der Prophet das Leben seiner Stadt. Die Gesetze, die diese Regelung sichern sollten, blieben aber für immer bestehen und beherrschten das Leben der Muslims. Sie formten späterhin das ganze geistige Bild des Islam.

So entstanden die Verbote des Alkohols, des Spielens, des Tanzens, des zu lauten Singens und viele andere Verordnungen. Doch bemühte sich der Prophet stets, die Frommen zu schonen. Er wollte nicht, daß seine Stadt einem Kloster gleichen sollte. Es stand jedem frei, dem Beispiel Mohammeds zu folgen und asketisch zu leben, um in die Pforten des Paradieses einzuziehen. Das war aber keine absolute Forderung des Propheten. Denn eins wußte und wiederholte der Prophet: »Schwach ist die Natur des Menschen, und es kommt eine Zeit, wo die Erfüllung eines Zehntels des Gebotenen genügen wird, um durch die Pforten des Paradieses einzuziehen.«

Den Propheten selbst änderten Macht und Reichtum nicht. Er erhielt zwar von jedem Feldzug, von jeder Kriegstat ein Fünftel der Beute, denn seine Gebete und nicht der Mut der Krieger waren es, die den Sieg errangen, doch verteilte er auch dieses Fünftel unter die Armen oder belohnte besonders Fromme und Mutige.

Seine eigene Lebensweise änderte er nicht. Wie früher in den Zeiten der Armut, der Entbehrungen und Verfolgungen stand der Prophet schon beim Morgengrauen auf, fegte selbst den Hof, flickte seine Kleider und verrichtete das Morgengebet. Dann kamen fromme Schüler, er sprach mit ihnen über den Glauben, Almosen wurden verteilt, künftige Feldzüge besprochen. Täglich hielt der Prophet im Hofe der Moschee in seinen abgetragenen Kleidern Gericht ab und fällte Urteile als höchste Instanz in allen weltlichen und geistlichen Dingen.

Fromme Mitkämpfer sammelten seine Urteile und Sprüche. Sie wurden später zum Fundament des islamischen Rechtes. Auch die Verse des Korans wurden eifrig notiert. Zuerst, den Umständen gemäß, wurde der Koran in der primitiven Art der Wüste fixiert, er wurde auf Schulterblätter von toten Tieren geschrieben, später auf grobem, rohem Leder, zuletzt auf Pergament. Die einzelnen Verse wurden in Kassetten gelegt und in den Hütten bei den Frauen des Propheten aufbewahrt. Doch wußten die meisten Anṣār und Muhāǧirūn die Verse des Korans auswendig, und wer sie nicht behielt, dem mangelte es nicht an Besuchen ärmerer Muslims, die ihm für geringen Lohn unaufhörlich die Verse des Korans rezitierten. Mit Gerichtsurteilen, Feldzugsplänen, mit frommen Gebeten, Predigten und Verkündigungen verging der Tag des Propheten. Aber auch die einfache Handarbeit war ihm genehm. Er erschien bei öffentlichen Arbeiten und griff selbst, trotz seines vorgeschrittenen Alters, zum Spaten, sang fromme Verse und ermunterte die Faulen. Das Puritanische seines Wesens, die nüchterne, fantasielose Frömmigkeit fiel seinen Anhängern nicht auf. Zu dynamisch war das Leben des Propheten, zu ereignisvoll seine Laufbahn in Medina. Die nüchternen, rasch aufeinanderfolgenden Phasen seiner Entwicklung machten seiner Umgebung die Beurteilung von Mensch und Werk nahezu unmöglich.

Die Macht, den Reichtum, die plötzliche Wandlung seines Schicksals nahm der Prophet als etwas absolut Selbstverständliches hin. Gott hatte ihm Macht über die Wüste versprochen, Gott sandte ihn als letzten Propheten in die Welt, folglich brauchte er sich nicht über die Entwicklung der Dinge zu wundern, brauchte sich nicht dem Jubel hinzugeben, nur weil das Wort Gottes in Erfüllung gegangen war. Das wäre ja nur ein Zeichen von Glaubensmangel gewesen. Nur wenn das Heer und der Staat Gottes in Gefahr waren, wie bei Uḥud, wenn das ganze Gebäude des Islam zusammenzufallen drohte, hob der Prophet die Hände zum Himmel und erinnerte Allāh an sein Versprechen. »O Allmächtiger«, sagte er, »hilf uns, denn sonst wird es niemanden geben, der dich anbeten wird.« Wie in Mekka, so stand auch in Medina das Haus des Propheten für jeden offen. Heiden, Muslims, Christen und Juden konnten jederzeit sein Haus betreten, Fragen an ihn stellen und gelehrte Diskussionen mit ihm führen. Der Prophet umgab sich mit keinem Nimbus, weder als Gesandter Gottes noch als Beherrscher eines Staates. Er mischte sich unter das Volk, und das Volk durfte ihn über alles befragen. Der Islam war eine theokratische Demokratie. Nur mit Mühe und durch Erlaß besonderer Gesetze konnten die allzu Gläubigen davon zurückgehalten werden, des Nachts vor dem Hause des Propheten zu erscheinen, um zu erfahren, bei welcher seiner Frauen der Prophet weilte und was sich dort ereignete. Denn der Prophet, der Gesandte Gottes, blieb für die Mehrzahl der Gläubigen ein Mensch, der sich nur dadurch von den übrigen unterschied, daß er von Zeit zu Zeit die Worte Gottes vernehmen durfte.

Das Wort Gottes hatte sich aber verändert. In Mekka hatte das Wort den Glauben an Gott verkündet. In Medina baute das Wort Gottes am Staate Gottes. Der Stil des Korans hatte sich ebenfalls gewandelt. Er enthielt jetzt keine flammenden Mahnungen und Bekenntnisse mehr, jetzt verkündete er nur noch das Gesetz. Das Wort des Gesetzes aber war klar und sachlich. Unverändert blieb nur die Kraft des Ausdrucks, die Wucht der ehernen Sätze, unverändert blieben die Besuche des Erzengels, der das Wort Gottes in knappen Versen zu Mohammed brachte. Und mit der Zeit wurde der Erzengel für den Propheten eine alltägliche Erscheinung. Er erschien, nur dem Propheten sichtbar, in Versammlungen, im Hause, auf einem Wüstenritt. Manchmal nahm er die Gestalt eines Menschen an, die eines Freundes des Propheten, des frommen Dāḫi al-Kalbi. Der Prophet erkannte den Erzengel in jeder Verkleidung, er sprach mit ihm, empfing seine Befehle und verkündete der frommen Menschheit die unerbittlichen Gesetze in glühenden Versen.

So lebte in der Stadt Medina, umringt von Frommen, Mohammed, der Gesandte Gottes, der Herrscher des neuen Staates. Nur selten hatte der Prophet Zeit, sich frommen Betrachtungen hinzugeben. Der Staat Gottes war in Gefahr. Siegreich und drohend lag hinter der Wüste die glänzende Stadt Mekka. Täglich, beim Gebet, wandte der Prophet sein Gesicht dieser Stadt zu, dieser Stadt, die unbezwingbar blieb und voller Gefahren.

Bei Uḥud hatte Abū Sufyān gerufen: »In einem Jahr komme ich wieder und vernichte den falschen Propheten.« Das Jahr des bedingten Friedens war bald verstrichen. Voll Sorge blickte der Prophet auf die kahlen Sandhügel, hinter denen das Heer der Quraiš bald auftauchen sollte. Wieder mußte er gegen die Stadt seiner Väter kämpfen, und von dem Ausgang dieses Kampfes hing jetzt mehr denn je das Schicksal der Republik Gottes, das Schicksal des Islam ab.


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