Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Thespesius

            Zwei Greise ruhten unter einer Pinie,
Stab neben Stab, an einer Quelle klarer Flut,
Wo wandernd sie begegnet sich von ungefähr.
Sie führten Zwiegespräch und sie behagten sich.
– »Man nennt mich Eukrates, und wer, mein Freund, bist du?«
– »Mich nannten Aridäus lange Jahre sie,
Seit langen Jahren bin ich nun Thespesius.«
»Zwei Namen trugst du?« – »Beide Namen, Eukrates.
Hör an! Ein Jüngling, peitscht ich rasend das Gespann.
Die Rosse flogen. Becher, Buhlen, Würfelspiel,
Wut, Zorn, vergossen Blut – verklagend Blut!
Dem ich entfloh, die Eumeniden hinter mir.
Sie folgten meiner raschen Füsse schnellstem Lauf,
Ich warf mich in den Fluss, sie sprangen jauchzend nach
Und hoben schwimmend ihrer Fackeln düstre Glut.
Ich klomm bergan – verirrt stürzt ich von einer Wand –
Die Sinne schwanden mir. Dann lebt ich wieder – wars
Im Traum? – und schritt auf einem weichen Wiesengrün
Wo Selge, solche schienen sie, lustwandelten
In still bewegten Scharen. Kränze trugen sie.
Den einen kannt ich wohl und ward von ihm erkannt:
Mein Blutsverwandter, welcher jüngst geschwunden war
Aus dieser Erde Staub nach einem reinen Lauf.
Der sprach mich an: ›Ich grüsse dich, Thespesius!‹
Wozu der neue Name, wundersamer Ohm?
Wie nennst du mich? Dein Aridäus bin ich ja!
Die Locken schüttelt' leis er, die ambrosischen,
Und abermals: ›Ich grüsse dich, Thespesius!‹ . . .
Jetzt wacht ich wirklich auf. Am Hange lag
Ich blutbefleckt, von giergen Raben schon umschwärmt.
Was mehr? Ich ward ein andrer. Nicht mit kleinem Kampf?
Der Kampf ist gross! Mein neuer Name stärkte mich,
Der makellose, der so rein und göttlich klang!
Hab gute Fahrt!« – »Fahr wohl auch du, Thespesius!«

 


 


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