Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die Jungfrau

          Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,
Die drohnden Augen lieblich wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarottis grossem Bild:

Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges
Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,
Im Schosse seines Mantelbuges
Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:

Voran ein Wesen, nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keusch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer schlanken Traumgestalt.

Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet
Mit Augen schaut sie, tief erschreckt,
Wie Adam Er den Funken spendet
Und seine Rechte mahnend reckt.

Sie sieht den Schlummrer sich erheben,
Der das bewusste Sein empfängt,
Auch sie sehnt dunkel sich, zu leben,
An Gottes Schulter still gedrängt –

So harrst du vor des Lebens Schranke
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke
Und öffnest staunend deinen Blick.

 


 


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