Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Der Pilger und die Sarazenin

              Jüngst am Libanon in einem Kloster,
Drin ich eine kurze Reiserast hielt,
Langsam durch die kühlen Hallen wandelnd,
Blieb ich stehn vor einem alten Bilde,
Wohlbewahrt in eigener Kapelle.
Es berührte mich mit leisem Zauber
Trotz der byzantinischen Gestalten,
Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:
Durch das Tor des Paradieses schritten
Eine Sarazenin und ein Pilger,
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch.
»Was bedeutet dieses süsse Märchen?«
Frug ich Anaklet, den Klosterbruder,
Der mich schleichend überall begleitet.
Mit gesenkten Augen gab er Antwort:
»Guter Herr, kein süsses Märchen ist es,
Sondern eine tröstliche Legende,
Auf ein altes Pergament verzeichnet
Zur Erbauung aller gläubgen Christen.
Dieser Pilger ist ein heilger Märtrer,
Eine Märtrin ist die Sarazenin,
Er verschied, gesteinigt und gepeinigt,
Sie verblich, umarmend eine Schwelle!«

Märchenlustig bin ich wie Scheherban,
Wie die plaudernde Scheherezade!
Und ich bat den Mönch: »Erzähle, Vater
Deinem Sohn die tröstliche Legende.«
Bruder Anaklet willfahrte, sprechend:

»Einst, vor ungezählten vielen Jahren
– Also stehts im Pergament verzeichnet,
Das ich gründlich lernte schon als Knabe –
Zogen Pilger nach dem Grab vorüber
Ohne Rast und ohne Trunk und Speise
Scheuen Fusses an der Stadt Damaskus,
Denn verhasst ist Christus in Damaskus!
Vor der Stadt Damaskus rauscht ein Brunnen,
Wo ein Löwenkopf aus seines Maules
Tiefherabgezognen Winkeln sprudelt
Ein begehrtes, köstlich kühles Wasser.
Dort am Brunnen stand die Sarazenin.

Schleierlos, die jungen warmen Augen
Fünfzehnjährig oder sechzehnjährig,
Stand am Brunnen eine Sarazenin,
Die den schlanken Krug gelassen füllte.
Alle Pilger zogen ihr vorüber,
Mit gesenktem Haupte niederblickend,
Denn die Moslemweiber treiben Künste.
(Aber überwunden hat sie Christus!)

Nur ein zarter Jüngling, fast ein Knabe
Noch, entwich der Pilgerreihe durstig,
Nahte sich der jungen Sarazenin
Flehend, forderte von ihr zu trinken.
Langsam senkte sie den Krug. Er schlürfte.
Langsam hob den Krug zu Haupt sie wieder,
Heimwärts wandelnd. Vor des Tores Wölbung
Wandte sie das Haupt mitsamt dem Kruge,
Schritte fühlend hinter ihren Sohlen:
›Pilger, hüte dich vor diesem Tore!
Denn es würde dir zum Tor des Todes!
Meine dunkeln Augen sind verderblich
Und verhasst ist Christus in Damaskus!‹

Und sie wandelt durch des Tores Wölbung,
Und sie wandelt durch die dunkeln Gassen,
Schritte fühlend hinter ihren Sohlen.
Ihre Türe öffnet sie und schliesst sie,
Und empor zum innern Söller steigend,
Sieht sie mit den Sinnen ihres Geistes
Einen Pilger liegen auf der Schwelle,
Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.

In der ersten Morgenhelle stand sie
Vor dem Pilger, heftig ihn zu schelten:
Pilger, hebe dich von dieser Schwelle,
Die zur Schwelle würde dir des Todes!
Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
Meine dunkeln Augen sind verderblich!
Alle schlügen heute dich mit Stäben,
Alle würfen heute dich mit Steinen,
Und du lägest tot in deinem Blute!
Denn verhasst ist Christus in Damaskus!
Weiche, Pilger! Heb dich, lästger Bettler!
Fremdling! Abergläubscher! Götzendiener!
Diesen Lippen einen Kuss! Entweiche!'
Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
Zornig wich von ihm die Sarazenin.

In der letzten Abendhelle stand sie
Vor dem Pilger, dem das Blut aus vielen
Wunden strömte, heftig ihn zu schelten:
›Weiche, Pilger! Heb dich, lästger Bettler!
Fremdling! Abergläubscher! Götzendiener!
Meine dunkeln Augen sind verderblich
Und verhasst ist Christus in Damaskus!
Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
Waschen will ich deine roten Striemen,
Küssen will ich deine blutgen Wunden,
Leugnest du den bleichen Mann am Holze!‹
Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
Weinend wich von ihm die Sarazenin,
Und empor zum innern Söller steigend,
Hört sie mit den Sinnen ihres Geistes
Leise stöhnen einen Todeswunden
Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern,
Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam.

Rings empor an eines Gipfels Abhang
Klommen unter heiligen Gesängen
Pilger auf zum Tor des Paradieses.
Einer klomm voran, ein junger Märtrer,
Den die andern grüssten ehrerbietig.
In des Tores Wölbung stand der Heiland:
›Tritt herein! Du hast für mich geblutet!‹
Doch der Pilger weigerte sich standhaft:
›Heiland, lass mich liegen auf der Schwelle,
Bis sie kommt, die stündlich ich erwarte!
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch.
Tritt sie, mir gesellt, in deine Freude,
Keine Sarazenin, eine Christin.‹

Solches träumend, stürzten ihr die Tränen
So gewaltig, dass sie drob erwachte.
Jählings springt sie auf von ihrem Lager,
Fliegt hinab des Hauses hundert Stufen:
Leer und blutbegossen lag die Schwelle
In des ungebornen Tages Frühlicht.
Auf die harte Schwelle kniet sie nieder,
Badet sie mit unerschöpften Tränen,
Drängt den warmen Busen ihr entgegen,
Presst sie fest, als klopft' ein Herz im Steine.
Keines klopft, doch ihres zum Zerspringen.

Als die Füsse derer wiederkehrten,
Die den Toten vor das Tor getragen,
Eilten sie der Schwelle scheu vorüber.
Auf der Schwelle sahn sie eine Tote,
Auf der Schwelle lag die Sarazenin.
Keine Sarazenin, eine Christin!«
Endet' Bruder Anaklet erbaulich.

 


 


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